E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Matthies Gott kann auch anders
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-03848-536-0
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Und was ich sonst noch erfahren habe
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-03848-536-0
Verlag: Fontis
Format: EPUB
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Helmut Matthies ist Journalist, Publizist und Theologe. Er war bis 2017 Chefredakteur der evangelischen Nachrichtenagentur 'idea'.
Autoren/Hrsg.
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1
Familie:
Auch Eltern können Christen werden
BEI GOTT IST NICHTS UNMÖGLICH. Viele Christen leiden darunter, dass ihre Eltern oder Kinder nicht auch Anhänger Jesu sind. Wird bei Seminaren das Thema angeboten: «Was tun, wenn Eltern oder Kinder keine Christen sind?», dann sind sie meistens bestens besucht. Als ich einen bekannten, erfahrenen Seelsorger fragte, ob meine alten Eltern sich vielleicht doch noch für ein Leben als Christen entscheiden könnten, winkte er resigniert ab: «Alte Leute ändern sich nicht!» Doch Gott kann – anders, als wir es erwarten.
Auf der geistlichen Landkarte Deutschlands kann man sich kaum einen größeren Unterschied vorstellen als den zwischen Nord und Süd. Fast alles, was besonders in Württemberg, im Erzgebirge und in gewissen Teilen Bayerns an manchen Orten noch selbstverständlich ist, gilt nördlich des Mains, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als völlig ungewöhnlich: reger Kirchenbesuch und eine selbstbewusste Kirchlichkeit. Man ist Christ, und man weiß, was das bedeutet. Das ist selbst in den traditionellen Erweckungsgebieten des Westens und Nordens, im Siegerland, in Minden-Ravensberg und in Hermannsburg in der Lüneburger Heide längst nicht mehr so wie noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Weithin herrscht Unchristlichkeit, wenn nicht blankes Heidentum. Die meisten sind zwar nicht direkt gegen Kirche (nach dem Motto: «Ein Pastor ersetzt fünf Polizisten»), aber auch nicht dafür. Ihre Kirchenmitgliedschaft erschöpft sich im Zahlen der Kirchensteuer sowie der Inanspruchnahme von Taufe, Konfirmation, Trauung und auf jeden Fall der kirchlichen Bestattung.
Was ist denn passiert?
Trotzdem wirkt Gott auf vielfältige Weise auch im Norden. Ich bin in einem Dorf zwischen Hannover und Braunschweig mit etwa 2.000 Bewohnern aufgewachsen, von denen in meiner Kindheit 1.800 evangelisch waren. Kamen an einem normalen Sonntag mehr als 30 in den Gottesdienst, fragte der Küster den Pastor schon aufgeregt: «Was ist denn passiert?» Eine Landeskirchliche Gemeinschaft gab es in der nächsten Stadt, aber sie war völlig überaltert. Wer in den Fünfzigerjahren auf dem Dorf zur Schule kam, ging häufig wie selbstverständlich auch in den Kindergottesdienst. (Es lebe die Tradition!) Wir hatten einen hochintelligenten und – wie man unter Pietisten sagt – «gläubigen» Pastor, der sich in seiner Gemeinde schwertat, das Evangelium unter die Bauern und Arbeiter zu bringen. Da er bei den Erwachsenen kaum «Erfolg» verzeichnete, konzentrierte er sich zusammen mit seiner Ehefrau mit großer Liebe und Hingabe auf die Kinder.
Bekehrung durch Schokoladenpudding
Das habe ich selbst erlebt. In meinem Elternhaus hörte ich nie etwas von Gott. Eines Morgens ging ich durch unser Dorf und muss wohl hungrig ausgesehen haben. Jedenfalls sprach mich eine mir unbekannte Frau an und fragte, ob ich Hunger hätte. Als ich es bejahte, fragte sie gleich, was ich denn gern mal essen würde. Meine Antwort bestand aus einem Wort: «Schokoladenpudding.»
Sie lud mich ein, am nächsten Sonntag um 12 Uhr in ein Haus am Ende der Straße zu kommen. Ich erfuhr erst von meinen Eltern, dass es das Pfarrhaus war. Ich bekam wunderbaren Pudding mit Vanillesoße – jeden Sonntag.
Nach einem Vierteljahr fragte mich die Frau unseres Pfarrers, ob ich schon ein Buch besäße. Ich hatte als Achtjähriger tatsächlich nur die von der Schule gestellten Bücher. Sie schenkte mir die Kinderbibel von Anne de Vries. Da der Pudding gut war, ist für mich die Frau gut gewesen. Jetzt musste es auch das Buch sein. Ich habe selten einen Wälzer so häufig gelesen. Es hat mich geradezu fasziniert, was ich über Gott las, und nun wollte auch ich Christ sein. Bald lud sie mich in den Kindergottesdienst ein. Ich saß in der ersten Reihe und sang die Choräle mit so großer Begeisterung, dass mich unser Pastor ermahnte, die anderen Kinder nicht zu übertönen.
Im Konfirmandenunterricht, der zwei Jahre lang zweimal in der Woche stattfand, mussten wir den gesamten Kleinen Katechismus von Martin Luther, zahlreiche Psalmen und viele Choräle auswendig lernen. Damals stöhnte ich oft. Heute bin ich «meinem» Pastor sehr, sehr dankbar, dass er uns viel Stoff pauken ließ, denn ich habe dadurch viele geistliche Schätze verinnerlichen können.
Ich machte erst mal alles falsch
Als ich nach der Konfirmation als Letzter meines Jahrgangs noch regelmäßig den Gottesdienst besuchte, gingen Leute aus dem Dorf zu meinen Eltern – sie betrieben eine Waldgaststätte – in der Sorge darüber, ob ich seelische Probleme hätte. Mit mir könne etwas nicht stimmen. Im Übrigen sei man doch nicht katholisch, brauche also nicht immer «in die Kirche rennen».
Meine Eltern, denen ich trotz großer Armut eine glückliche Kindheit verdanke, ließen mich in großer Toleranz gewähren. Besonders mein Vater hörte geduldig zu. Aufgrund einer ärztlichen Fehldiagnose im Ersten Weltkrieg war er ein Krüppel (siehe hier). Trotzdem war er immer dankbar. Meine Eltern meinten, die «Kirchenrennerei» gebe sich schon wieder.
Für mich war es der größte Wunsch, dass meine Eltern und meine beiden Geschwister auch entschiedene Christen würden. In unserer ganzen Sippe gab es niemanden, mit dem ich über meinen christlichen Glauben reden konnte. In meinem Übermut machte ich zunächst einmal alles falsch: Ich betete demonstrativ bei Tisch und bedrängte meine Eltern und Geschwister, doch den Gottesdienst zu besuchen. Mit dem ersten Ergebnis, dass mein Bruder zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus der Kirche austrat.
Nachdem ich mit 16 zur Ausbildung das Elternhaus verlassen hatte, redeten wir kaum noch über den Glauben. Jeder wusste, was der andere dachte.
Eine Beerdigung vom Oberförster
Ich hatte den Mut verloren, meine Hoffnung jedoch nie aufgegeben. Aber offen über meinen Glauben zu reden – das traute ich mich nicht mehr.
Es blieb die Angst, dass meine Eltern unbekehrt sterben könnten. Anfang 1988 erfuhr mein ohnehin schwerbehinderter Vater im Alter von 72 Jahren sein Todesurteil: Er hatte Krebs im letzten Stadium.
Als ich ihn einen Tag, nachdem er die Diagnose gehört hatte, im Krankenhaus besuchte, wagte ich zum ersten Mal seit langem, in seinem Beisein zu beten. Am Krankenbett bat ich hörbar Gott, meinem Vater nahe zu sein.
Mein Vater antwortete mit «Amen». Er hatte nie an den Gott der Bibel geglaubt. Sein Gott war die Natur. Wenn andere zum Gottesdienst gingen, wanderte er im Wald. Als er einmal mit unserer Dorfpfarrerin (die wir inzwischen hatten) darüber sprach, meinte sie keck: «Wenn Sie glauben, Gott in der Natur finden zu können, dann lassen Sie sich doch auch vom Oberförster beerdigen.»
Ein Dreijähriger als Missionar
Schon nach fünf Tagen konnte mein Vater das Krankenhaus verlassen. Es war ja nichts mehr zu machen. Mein Vater lebte nun ganz bewusst auf seinen Tod hin. Er regelte alles, was zu regeln war, sprach ganz offen über seine Beerdigung und wie es dann mit uns weitergehe.
Von jetzt an beteten viele Freunde für meinen Vater. Meine Frau und ich taten es natürlich auch. Wir versuchten darüber hinaus, einfach für ihn da zu sein, besuchten ihn trotz großer Entfernung mindestens jedes Wochenende. Dabei hatten wir es uns zur Regel gemacht, kurz vor unserer Abreise immer mit ihm zu beten. Er ertrug es – so war unser Eindruck. Mehr nicht. Sein Herz schien unberührt.
Eines Tages wurde unser dreijähriger Sohn – sein einziger Enkel – unbewusst zum Missionar. Am Geburtstag meines Vaters sang er ihm unaufgefordert am Telefon ein schlichtes Kinderlied vor: «Eins, zwei, der Herr ist treu. Drei, vier, er ist bei mir. Fünf, sechs, sieben, ich will ihn lieben. Acht, neun, zehn, und immer mit ihm geh’n.»
Mein Vater weinte.
Später hat er sich das Lied immer wieder von seinem Enkel gewünscht. Trotzdem konnten wir keinerlei geistliche Fortschritte erkennen. Wir fragten Seelsorger um Rat. Kaum einer machte uns Hoffnung. «Ich habe nie erlebt, dass sich auf dem Sterbebett noch jemand bekehrt hat. Alte Menschen sind hier stur oder feige – sie schämen sich vor einer Lebenswende», meinte ein erfahrener schwäbischer Pfarrer zu mir.
Wenn ein Gastwirt Christ wird
Inzwischen hatte sich der Zustand meines Vaters dramatisch verschlechtert. Er konnte kaum noch Nahrung zu sich nehmen und hatte starke Schmerzen. Zwei Wochen vor seinem Tod, als er wieder entsetzlich litt, wagte ich, ihm zu sagen: «Vater, jetzt kannst du nur noch auf Jesus vertrauen.»
Seine Antwort überraschte mich tief:
«Junge, das tue ich doch!»
Offensichtlich hatte Gott bereits seit längerem in ihm gewirkt.
Danach fragte ihn meine Frau: «Vater, du hast immer für alles vorgesorgt, weißt du denn jetzt auch, ob du in den Himmel kommst?»
«Nein, das kann man doch nicht wissen.»
Dann erklärte sie ihm anhand der Worte im Johannesevangelium (3,16), was Jesus für ihn bedeutet. Diesen Vers – «Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahingab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben» – kannte er noch aus dem Konfirmandenunterricht.
Beim nächsten Besuch wiederholten wir diesen Vers. Wir sagten noch, es sei gar nicht so schwer zu glauben, man müsse nur innerlich Ja dazu sagen. Vater antwortete:
«Ja, es ist eine innere Umstellung.»
Am Vorabend seines Todes haben wir ihn in seiner großen Not mit dem Hinweis zu trösten versucht, dass ihn die Engel in die Ewigkeit geleiten werden. Spontan antwortete er mit den Worten:
«Ja, das glaube ich.»
Ein paar Stunden später fiel...




