E-Book, Deutsch, 154 Seiten
Mauthner Aus dem Märchenbuch der Wahrheit
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-1834-6
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 154 Seiten
ISBN: 978-3-8496-1834-6
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kurzgeschichten über Allerlei und Besonderes von einem großen Sprachphilosophen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der Bauer lag im Sterben. Seit drei Tagen wußte es die Bäuerin, seit einer Stunde wußte er es selber. Der Bader war dagewesen und hatte die schiefen Achseln gezuckt und der Schäfer hatte gar versichert: der Bauer überlebt die Nacht nicht.
Der Bauer und die Bäuerin haben siebenundzwanzig Jahre miteinander gehaust, und brav gehaust. Gute Christen und gute Eheleute, gut gegen ihre Kinder und gut gegeneinander. Gezankt, ja oft, aber nicht mehr als schicklich und recht.
Jetzt sitzt die Bäuerin nicht lange am Sterbelager des Mannes. Sie schüttet das kleine Blechmaß voll Kaffeebohnen in die Mühle und mahlt gemächlich; dann kocht sie den Kaffee auf und gießt ihn in zwei Töpfe; auch Milch dazu.
Der Bauer verschlingt ihre Bewegungen mit den Augen. Er fühlt, wie ihm die Kälte in den Beinen schon bis über die Knie zieht. Aber er hat einen brennenden Wunsch. Seit siebenundzwanzig Jahren tut die Frau die Haut von der Milch in ihren Kaffeetopf. Heute möchte er die Haut haben! Heute nur!
Vielleicht tut sie's heute; und wenn er dann morgen nicht stirbt, wenn er wieder gesund wird, so ist sie die Gefoppte. Aber er ist ein stolzer Bauer und sagt nichts. Er schaut sie nur bittend an. Sie versteht seinen Blick. Aber sie tut die Haut in ihren Topf. Der Bauer stöhnt leise auf.
Die Bäuerin holt aus der Schublade zwei Stücke Zucker. Auch sie denkt nach. Wenn der Bauer jetzt gleich stirbt, anstatt bis morgen zu warten, dann kann sie ein Stück Zucker ersparen oder in ihren Kaffee eins mehr hineinwerfen. Ihm muß es doch einerlei sein, ob er heute stirbt oder morgen. Und ruhig läßt sie beide Stücke Zucker in ihren Topf gleiten; den Kaffee ohne Zucker hält sie dem Sterbenden an den Mund.
»Du, der ist aber bitter.«
»Ach was, dir schmeckt nichts mehr! Da könnt' man sich die Beine ausreißen, wär' auch umsonst!«
»Könntest nicht noch ein Stückerl Zucker 'rein tun?«
»Trink ihn nur so. Hast halt schon den Totengeschmack auf der Zunge. Da hilft aller Zucker der Welt nicht.«
Und der Bauer trank mit nassen Augen den letzten Kaffee.
Die Eisenbahn
Der alte Zauberer hatte den Menschen eine schöne Eisenbahn geschenkt. Sie führte hundert Jahre lang mitten durch die Welt, an Sternen und Meeren vorbei über Berg und Tal, durch Gärten und Wüsten. Wie die Welt nun schon ist. Am Ende der Fahrt fuhr der Zug freilich mit Mann und Maus aus der Welt hinaus in einen schwarzen Abgrund hinein. Am Boden des Abgrundes zerschlug sich der Zug zu Brei. Aus dem Brei machte der alte Zauberer neue Wagen und neue Maschinen, neue Kohlen und Wasser und neue Menschen. Und auf der anderen Seite kam die Eisenbahn wieder frisch in die Welt hinein und fuhr durch die Welt wieder dem schwarzen Abgrund zu.
Die Menschen waren wie versessen auf die schöne Eisenbahn. Es gab da auch Schlafwagen, Speisewagen, Lesewagen und Kirchenwagen, alles erster bis vierter Klasse. In solcher Weise fuhren die Menschen über Berg und Tal, durch Gärten und Wüsten. Sie wußten, daß die Fahrt in den schwarzen Abgrund führte, aber sie dachten nicht daran, wenn sie nicht gerade aus dem Fenster schauten und die Weichensteller erblickten, grinsende Gerippe mit schwarzen Fähnlein.
Der alte Zauberer hatte die Maschine genau auf eine Fahrt von hundert Jahren eingerichtet. Die Menschen aber arbeiteten sich während der Fahrt zuschanden, nur um die Maschine überhitzen zu können. So haben sie es allmählich dahin gebracht, schon in fünfzig bis vierzig Jahren durch die ganze Welt zu fliegen, und am Ende in den schwarzen Abgrund hineinzustürzen.
Sie heizen die Maschine zum Spaß. Wenn es aber zum Kippen kommt, so schreien sie furchtbar auf und fluchen dem alten Zauberer.
Der Sammler und die Sammlerin
Es war einmal ein Kenner und Sammler. Als Knabe hatte er Schmetterlinge gesammelt und war hinausgezogen mit Netz und Nadeln und hatte die Sommervögel gejagt und sie des Nachts mit Laternenlicht gelockt und sie am Ende immer aufgespießt mit spitzen Nadeln und festgesteckt auf kleine Korkstückchen.
Als er aber groß geworden war, sammelte er die untersten Nackenlöckchen schöner Weiber. Er zog aus mit allen Waffen der Frauenpirsch und jagte des Tags mit goldenen Netzen und lockte des Nachts mit Ampellicht.
Eines Abends traf er auf die schöne Bus. Er jagte sie und lockte sie einhundertunddreiunddreißig Tage und Nächte lang. Er sang um sie und lief um sie, er sprang um sie und ermattete um sie. Was er aber sang, das tönte von Liebe und Liebesleid.
Endlich einmal zu später Stunde ließ sie sich locken vom Lichte der Ampel. Sie lag in seinen Armen einhundertunddreiunddreißig Stunden lang. Die schöne Bus hatte ihren linken Arm um seinen Hals geschlungen, und ihr Mund sog an seinen Lippen. Der Sammler aber liebkoste sie im Nacken und schnitt ihr mit seinem Scherchen das unterste Löckchen ab.
Als er das mit einem roten Seidenband umwunden hatte, streckte er sich und sang nicht mehr und sagte:
»Jetzt will ich dir die Wahrheit sagen, liebe kleine Bus. Ich bin nämlich kein armer Amateur, sondern ein reicher Kenner und Sammler. Hier das Löckchen kommt in meinen Kasten. Es hat doch nicht weh getan?«
Da preßte die schöne Bus lächelnd noch einmal ihre Lippen auf die seinen und lernte seinen Kuß auswendig. Dann sagte sie:
»Du hast mich wohl für eine arme Liebhaberin gehalten, mein Schatz? Da muß ich doch bitten! Ich bin auch Sammlerin. Ich hoffe, es hat nicht weh getan.«
Und beide, der Sammler und die Sammlerin, lachten noch lange über das lustige Zusammentreffen.
Als aber jedes wieder allein war, machte jedes ein verzweifeltes Gesicht. Denn beide waren eigentlich keine Sammler. Er suchte nur das Nackenlöckchen von blauem Golde, und sie suchte den Kuß, der duftlos erstickte. Sie sammelten nur, weil sie suchten.
Die Kiesel
Am Strande, wo die Meereswellen Tag und Nacht heftig gegen das Ufer schlugen, lag schwer und fest ein alter Granitblock. Um ihn herum wälzten sich unzählige Kieselsteine bald hinauf, bald hinunter. Die Kieselsteine waren von verschiedener Größe und Gestalt, alle aber wurden von jeder Woge mit Knirschen und Rasseln emporgehoben und übereinander geschoben, um nachher wieder mit mahlendem Donnergeräusch ins Meer zurückzurollen. Wenn die Kiesel gegen den Granitblock aufschlugen, so rührte er sich nicht, sie aber verloren an ihm ihre Ecken, und gegenseitig rundeten und glätteten sie einander dermaßen, daß sie nach einigen hundert Jahren schon lauter polierte Kiesel waren.
In diesem kultivierten Zustand fingen sie an zu denken, und sie dachten:
»Du sollst Ehrfurcht haben vor dem alten Granitblock, als welcher nicht von der Erde ist und auch nicht vom Meer, sondern vom Monde niedergefallen.«
»Du sollst glatt werden nach deiner Größe.«
»Du sollst Feuer geben, wenn du auf dem Lande lebst und mit Stahl geschlagen wirst.«
»Du sollst jeder Welle gehorchen, hinauf und hinab, auf daß es dir wohl gehe auf der Erde und auch im Wasser.«
»Du sollst zerbrechen, was schwächer ist als du selbst; aber du sollst nachgeben, wenn einer härter ist als du.«
»Du sollst schwer sein.«
Die Strandkiesel nannten das ihre Moral und lebten auch danach. Die kleinen Strandmuscheln aber, welche zwischen die Kieselsteine gerieten und zerquetscht wurden, nannten die Kiesel unmoralische Geschöpfe,
Das oberste Gesetz der Strandmuscheln lautet:
»Du sollst leicht sein.«
Die Frösche
Ein junger Löwe dürstete.
An einem Tümpel saßen dicke Frösche und quakten:
»Komm, wirst groß! Komm, wirst groß!«
Der junge Löwe hörte das Quaken und dachte: »Wo Frösche sind, ist auch Wasser.« So ging er dem Quaken nach und trank aus dem Tümpel.
Die Frösche aber rieben sich die breiten Füße und sagten:
»So sind die Löwen. Man braucht ihnen nur zu schmeicheln, dann kommen sie schon.«
Die Bahn auf die Jungfrau
Es war einmal ein junger Maschinenmeister, der hieß Krafft. Er lebte am Gebirge in Deutschland oder in Italien, wer kann das wissen. Er hatte einen großen Gedanken. Er wollte unter den Alpen eine Mine anlegen und alle höheren Berge in die Luft sprengen. Dann würden, deß war er sicher, die unfruchtbaren Felsen und Gletscher verschwinden und für hunderttausend Menschen Wohnsitz und Nahrung geschaffen werden. So wollte er oben und unten gleich machen. Und kühn teilte der zwanzigjährige Maschinenmeister Krafft seinen großen Plan der Welt mit.
Am Fuße der Alpen, nördlich oder südlich, wer kann das wissen, weidete eine fette Rinderherde und vernahm von der Geschichte. Da gab es lautes Brummen. Beim Auffliegen der Mine könnten die...