E-Book, Deutsch, 2410 Seiten
Mauthner Gesammelte Werke: Philosophische Schriften, Kulturgeschichtliche Werke, Romane, Erzählungen, Autobiografie
1. Auflage 2015
ISBN: 978-80-268-2801-3
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sprachkritik, Atheismus, Raumzeit und Erzählkunst
E-Book, Deutsch, 2410 Seiten
ISBN: 978-80-268-2801-3
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses eBook: 'Gesammelte Werke: Philosophische Schriften + Kulturgeschichtliche Werke + Romane + Erzählungen + Autobiografie' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Fritz Mauthner (1849-1923) war ein deutschsprachiger Philosoph und Schriftsteller. Mauthner erhielt bei seinem Lehrer Ernst Mach in Prag die speziellen Grundlagen für seine späteren Arbeiten. Sein Schüler Fritz Mauthner war ebenso breitgefächert interessiert und setzte sich in wissenschaftstheoretischen Betrachtungen mit den aktuellen Ergebnissen der Psychologie auseinander. Von Mach übernahm Mauthner die Vereinigung der Raumdimensionen und der Zeitdimension im vierdimensionalen Kontinuum. Während Einstein diese Sichtweise auf den ganzen Kosmos anwendete, verknüpfte Mauthner diese moderne Ansicht mit psychophysiologischen Betrachtungen, die im Gedächtnis eine raumzeitliche Ordnung vermuten. Inhalt: Der neue Ahasver Hypatia Der letzte Tod des Gautama Buddha Der letzte Deutsche von Blatna Die böhmische Handschrift Vom armen Franischko Ein Abend im Irrenhause Aus dem Märchenbuch der Wahrheit: Die Palme und die Menschensprache Das Gesetz Rosenrote Fenster Zwei Schuster Zwei Bettler Das Opfer Der Buchweizen und die Rechenmeister Die Jury Nach berühmten Mustern Leopold Ritter von Sacher-Masoch Walpurga, die thaufrische Amme Blaubeeren-Isis Der blonde Jainkef Die Vorfahren. I. Wlf Die Philosophie des unbewußten Hühnerauges Der Peter von Säkkingen Faßt das Gewehr an! Der unbewußte Ahasverus oder Das Ding an sich als Wille und Vorstellung Europäische Züge und Gegenzüge oder Eine Schale Melange Beiträge zu einer Kritik der Sprache Wesen der Sprache Zur Psychologie Zur Sprachwissenschaft Sprache und Grammatik Sprache und Logik Wörterbuch der Philosophie Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande Spinoza ...
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II.
Als Heinrich zu Beginn des Winters seine Vaterstadt verließ, war es ihm, als erwache er frisch und fröhlich nach einem langen, tiefen Schlafe. Seine Lehrzeit war vorüber! Das »Dr.« auf seinen Karten kümmerte ihn wenig, daß er aber die letzte Prüfung abgelegt hatte, die ihn zu einem arbeitsamen Leben nach freiem Ermessen berechtigte, das kam ihm jetzt so recht deutlich zum Bewußtsein, da er frohen Mutes auf die Wanderschaft ging.
Die Welt sehen! Nicht die Freude an Abenteuern zog ihn hinaus. Er wollte lernen, fleißiger, gewissenhafter, ununterbrochener lernen als in den Hörsälen Leipzigs. Aber es war doch ein ander Ding, wenn er jetzt in Paris seine Empfehlungsschreiben abgab und von den bedeutendsten Ärzten achtungsvoll als junger Kollege begrüßt und in ihre Kliniken und Operationssäle geführt wurde – wenn er im nächsten Jahre eine wissenschaftliche Expedition an die Küste des Mittelländischen Meeres begleiten durfte – wenn er im folgenden Sommer die Verhältnisse Londons studierte. Unbeirrt blieb er seinem Vorsatz getreu, sich nicht zerstreuen zu lassen und unablässig an seinen zukünftigen ersten Patienten zu denken – seinen Ideal-Patienten, dem er dereinst, ausgerüstet mit allen Kenntnissen und Erfahrungen der zivilisierten Welt, kühn entgegentreten wollte.
Und warum nur der zivilisierten Welt? Waren nicht die Kräuterweiber seiner Heimat die Lehrerinnen manches tüchtigen Landarztes geworden? Hatte er nicht auf seinen Reisen allmählich einen bescheideneren Begriff von der Unfehlbarkeit der Kulturländer erhalten?
Und, als der Antrag an ihn herantrat, einige neugierige englische Touristen als ihr Arzt und Gelehrter nach dem nordwestlichen Afrika zu begleiten, da überlegte er nicht lange, sagte zu und schnürte sein Bündel. Ein Testament brauchte er nicht zu machen. Er stand ja allein auf der Welt, so mutterseelenallein, daß es für jeden anderen als einen Afrikareisenden zum Verzweifeln gewesen wäre. Doch auch der Afrikareisende empfand es bitter, daß er seinen Entschluß keinem Sterbensmenschen mitzuteilen hatte als dem uralten Großvater drüben in der Prager Judenstadt.
Als er nach Ablauf eines Jahres gebräunt, gestärkt, männlicher und frischer wieder nach Europa zurückkehrte, als er vor der Rückkehr nach Deutschland noch einmal sein altes Prag mit herzlicheren Gefühlen und milderem Sinn aufsuchte, da war auch hier niemand mehr, der nach ihm fragte. In dem wackligen Hause der Zaikerlgasse, welches nun ihm gehörte, lebte als treue Verwalterin, sie selbst dem Tode nahe, die lange Babette. Der Großvater war eines Nachmittags, während er den letzten Brief des Enkels las, wie gewöhnlich eingeschlummert, aber nicht mehr aufgewacht. Er hatte tags vorher zum erstenmal in seinem Leben geklagt: über seine nun abnehmende Sehkraft. Es sei zwar kein Gegenstand, hatte er gesagt, lesen sei gut, nicht lesen sei besser.
Und die lange Babette erzählte noch viel von dem alten Herrn. Aber auch sie hatte ihre Munterkeit und ihre Heftigkeit eingebüßt, seitdem sie in dem düsteren Hause allein war. Sie konnte nicht mehr schlafen, seitdem Herr Wolff nebenan nicht mehr hustete – sie konnte nicht mehr essen, seitdem sie für Herrn Wolff nicht mehr kochte – sie konnte nicht mehr in Aufregung geraten, seitdem Herr Wolff sie nicht mehr mit seinem »kein Gegenstand« beruhigte.
»So soll mir Gott helfen in meiner Sterbestunde«, sagte sie, »es wäre mir lieber, Herr Wolff säße hier mit Ihnen, und ich läge draußen auf dem guten Ort. Gott, was hab’ ich vom Leben! Niemand ist hier, mit dem man reden könnt’. Sie sind fortgelaufen, was weiß ich, zu den Menschenfressern! Und die Tina hat sich aus Gram lassen überreden zu heiraten einen großen Spekulanten aus Berlin. Was weiß ich, vielleicht ist sie nach Berlin gegangen, um Sie dort zu treffen, ja Sie, Heinrich! Was sehen Sie mich so an? Es wär’ gewesen ein Glück für Sie beide, wenn Sie hätten geheiratet die Tina. Sie hat gemacht eine feine Partie. Aber wer wird mir schenken das schwarze Seidenkleid, was mir hat versprochen Herr Kolliner? Es ist geworden eine neue Welt, wo die jungen Leut’ reisen zu den Menschenfressern, um zu machen eine Heirat aus Liebe. Natürlich, wo die Menschen, mit Respekt zu melden, nackt herumgehen, da braucht man nicht zu schenken Seidenkleider an gute alte Freundinnen.«
Heinrich kaufte der kindischen Frau, wonach sie sich sehnte, und ließ sie mit ihrer Freude allein.
Und als er den Fuß auf deutschen Boden setzte, da erfuhr er erst, was er im Auslande wohl so in den Blättern gelesen, aber nie recht deutlich verstanden hatte. Deutschland erstand. Der alte Traum, unter dessen Zauberbanne auch er manches Glas geleert und manches Lied gesungen hatte, wurde Wirklichkeit. Und eben jetzt, da er versuchen wollte, sich zurecht zu finden und alles inzwischen Geschehene zu fassen, da grollte es zwischen Deutschland und dem alten Widersacher, als ob ein Entscheidungskampf bevorstände um Deutschlands Ehre und Deutschlands Größe.
Und der große Krieg brach aus. Wieder war Heinrich bereit, den Verwundeten seine Dienste zu weihen, aber es war anders als damals in Prag im Kloster der Piaristen.
Umsonst sagte er sich, daß das Vaterland überall der treuen Hände bedürfe, daß er auch in einer stillen Tätigkeit in friedlichen Städten nützlich werden könne. Unerbittlich zog es ihn hinaus ins Feld, wo blutig um die Zukunft, um die Unabhängigkeit gekämpft wurde. Er fühlte sich ein säumiger Schuldner seiner Volksgenossen, solange nicht eine Kugel ihn traf oder doch an seinen Ohren vorbeipfiff. Und als er die Möglichkeit wahrnahm, als Militärarzt mitten im Feuer, vom Tode umdroht, mit dem Tode um das Leben zu kämpfen, da war kein Besinnen möglich. Jubelnd zog er den Soldatenrock an, und stillfreudig tat er seine Pflicht. Offiziere und Soldaten freuten sich ihres unermüdlichen Arztes, der ohne Tollkühnheit doch nirgends fehlte, wo man seiner bedurfte.
Der Feldzug nahte freilich seinem Ende, als Heinrich endlich dazukam. Er fühlte die Pflicht, die Ermüdeten abzulösen und seine frische Kraft zu brauchen.
Jenseits der Loire war’s, fern von der Hauptmacht. Keine hundert Schritte vor ihm stand das Bataillon im heftigen Feuer und beschäftigte den Feind, während sich hinten ein Husarenregiment zu einem neuen Angriff sammelte. Der erste Anprall war abgeschlagen worden. Er hatte viele Opfer gekostet. Die Ambulanz war unter Heinrichs Führung beschäftigt, die Verwundeten fortzuschaffen.
Drüben lag ein hübscher junger Leutnant ohnmächtig in seinem Blute, sein totes Pferd auf ihm. Mit Mühe wurde er von der Last befreit. Heinrich konnte in der Schnelligkeit nur sicherstellen, daß die linke Hand durch einen tiefen Säbelhieb verletzt war und auch von einer Kopfwunde das Blut niederfloß. Er half den jungen Offizier aufrichten. Da öffnete dieser stöhnend die Augen, schaute dem Arzt mit wirrer Miene ins Gesicht und flüsterte: »Ich werd’s nicht wieder tun. Seien Sie mir nicht mehr böse. Die Jüdin war so schön!« Und die Augen schlossen sich wieder.
Bevor Heinrich noch recht wußte, was er denken sollte, hörte er schnelle Kommandorufe. Er hatte keine Zeit aufzublicken. Er ahnte nur unklar, daß dem Feinde von der rechten Seite Verstärkung gekommen sein mußte, daß das eigene Bataillon seine Stellung veränderte. Das Schießen wurde heftiger, kam näher. Plötzlich ein stechender Schmerz, irgendwo im Kopfe oder an der Hüfte. Heinrich sank ohnmächtig neben dem Leutnant hin.
Dann kamen schlimme Tage. So oft Heinrich aus seinem Wundfieber erwachte, sah er außer dem phantasierenden Leutnant keinen Deutschen um sich. Offenbar waren sie in feindlichem Gebiet zurückgeblieben; und feindlich war jeder Blick, den man ihnen schenkte, freundlich nur jeder Dienst geleistet, der ihnen von den frommen Wärterinnen erwiesen wurde.
Das dauerte lange, sehr lange. Es war grausam, unter schadenfrohen Feinden vielleicht sterben zu müssen, noch grausamer, über das Ende des schrecklich schönen Krieges nichts zu erfahren.
Eines Morgens aber – die Blicke der Leute waren noch böswilliger geworden als sonst – wurde die Tür geöffnet, und ein preußischer Militärarzt, begleitet von einigen bayerischen Soldaten, trat ein. Heinrich war gerade bei Besinnung, aber er konnte nicht sprechen. Doch die Tränen traten ihm heiß in die Augen und dem fremden Landsmann auch. Es war der Führer eines Sanitätszuges, der in den von den Deutschen geräumten Landestellen nach versprengten Verwundeten suchte.
Mit liebender Vorsicht wurden die beiden Kranken nach dem Wagen gebracht. Wenn auch das Fieber sich am ersten Tage ein wenig verschlimmerte – was schadete das jetzt? Es ging ja der Heimat zu. Auch der Kamerad, der schwer verwundete Leutnant, kam jetzt zum Bewußtsein. Es war richtig Victor von Laskow, der kecke Freiwillige aus Prag. Heinrich schloß mit ihm innige Freundschaft, während der Sanitätszug, der indessen seine Aufgabe gelöst hatte, die Rückreise antrat.
Die beiden wurden bis Berlin gebracht, wo sie im Hause eines Freiherrn von Auenheim Ruhe und Pflege fanden.
Die beiden Betten standen nebeneinander an der Längswand eines wohnlichen stillen Zimmers. Die Verwundeten konnten, ohne sich anzustrengen, miteinander plaudern und einander auch die Hand reichen. Nur so viel Raum war zwischen ihnen gelassen, daß die Pfleger bequem hindurchgehen konnten.
Der kleine, immer unruhige Hausarzt der Familie, der Sanitätsrat Friedmann, der sie jetzt in Behandlung nahm, machte niemals ein bedenkliches Gesicht. Er tröstete Heinrich, dem eine Kugel in den Oberschenkel gedrungen war, sofort damit,...