E-Book, Deutsch, 260 Seiten
Mayer Erinnerungen eines Rechtsanwalts aus sechs Jahrzehnten
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-99107-713-8
Verlag: novum pro Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 260 Seiten
ISBN: 978-3-99107-713-8
Verlag: novum pro Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vor Gericht und auf hoher See ist man in nur Gottes Hand! Diese alte Juristenweisheit kommt einem unweigerlich in den Sinn, wenn man dieses Buch liest. Der Verfasser ist seit 60 Jahren in Stuttgart als Rechtsanwalt zugelassen und war immer freiberuflich tätig, lange Jahre zusammen mit anderen Kollegen, zuletzt allein in eigener Kanzlei. Nach 55 Jahren aktiver Tätigkeit steht er heute nur noch im Bekanntenkreis beratend zur Verfügung, wenn er um Hilfe gebeten wird. In launiger Runde berichtete er immer wieder über Episoden aus seinem Berufsleben, heitere, traurige, unverständliche und solche, die zum Nachdenken anregten. Aus seinem Freundeskreis kam die Anregung, solche Geschichten doch aufzuschreiben und zu veröffentlichen. Dieser Anregung ist er mit diesem Buch nachgekommen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Teil I - Von der Schule bis zur Zulassung als Rechtsanwalt
Schule und Studium
Den zweiten Weltkrieg hatte ich unversehrt überstanden. Für den Dienst an der Waffe war ich damals zu jung, den Bombenkrieg und Tieffliegerangriffe erlebte und überlebte ich zwar hautnah, aber mir geschah nie etwas.
Nach Kriegsende – ich war 14 Jahre alt – wurde ich „Notstandsarbeiter“ bei der Stadt Stuttgart. Ich wurde bei der Trümmerbeseitigung und der Herstellung von Bausteinen aus den Trümmern eingesetzt und verdiente mein erstes Geld – 70 Reichspfennig in der Stunde. Ohne einen solchen Einsatz erhielt man keine Lebensmittelmarken und dieser Einsatz war, wie ich später immer wieder feststellte, für mich äußerst lehrreich. Ich hätte ihn in meinem späteren Leben nicht missen wollen.
Das Leben normalisierte sich langsam, die Schulen nahmen den Unterricht wieder auf und wir jungen Leute machten uns schon damals Gedanken über den späteren beruflichen Werdegang.
Meine Mutter, sehr evangelisch-pietistisch aufgezogen, hätte es gerne gesehen, wenn ich Theologie studiert hätte und Pfarrer geworden wäre. Ich hatte aber meine Schwierigkeiten, nicht mit dem Christentum, sondern mit den Kirchen und ihren Vertretern auf Erden. Im 1. Weltkrieg stand auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten „Gott mit uns“, als ob sie Gott für sich alleine gepachtet hätten. Im 1. wie im 2. Weltkrieg segneten die Militärpfarrer am Vorabend einer Schlacht auf beiden Seiten die Soldaten und erbaten für sie Gottes Segen für den Sieg. Am nächsten Tag waren dann im modernen Vernichtungskrieg auf beiden Seiten tausende Soldaten tot, was die Militärpfarrer auf beiden Seiten am Vorabend auch schon wussten. Für solche Widersprüchlichkeiten als Pfarrer einzutreten, war für mich unvorstellbar.
Ich hatte meinen eigenen Kopf und erklärte meinen Eltern, ich wolle Rechtsanwalt werden wie mein Vater. Meine Eltern waren damit schließlich beide einverstanden, wobei mein Vater sein Einverständnis mit den Worten kommentierte „i dät’s aber net“, auf hochdeutsch „ich würde es nicht tun“.
Um Jura studieren zu können, brauchte man damals das sogenannte Große Latinum, also besuchte ich ein humanistisches Gymnasium und lernte Lateinisch und Alt-Griechisch und prägte mir den Spruch ein: Non scholae sed vitae discimus – nicht für die Schule, für das Leben lernen wir …
Um einen Jurastudienplatz zu bekommen, benötigte man damals kein „Einserabitur“, ein bestandenes Abitur genügte. Mein Abiturzeugnis war nur mittelmäßig, weil ich neben der Schule vielerlei andere Interessen hatte, die ihre Zeit in Anspruch nahmen. Ich räumte der Schule also die Zeit ein, die ich für ausreichend hielt, nach meinem Abiturzeugnis würde mich später niemand mehr fragen, sagte ich mir. Das war allerdings nicht ganz richtig, obwohl, richtige Nachteile erlitt ich dadurch nie.
Schon in der Schulzeit machte ich aber zwei wesentliche Erfahrungen für mein späteres Leben, insbesondere mein Berufsleben:
Meine Klassenkameraden hatten mich Jahr für Jahr zum Klassensprecher gewählt, obwohl ich mich um diese „Würde“ nie beworben hatte. Ich machte mir nie Gedanken, weshalb die Wahl immer so eindeutig auf mich fiel. Wenn die das so wollen, mache ich es eben, sagte ich mir. Dies führte dann, wie gesagt, im Laufe der Zeit zu diesen zwei interessanten Erfahrungen:
Man kann die mit dem Amt des Klassensprechers verbundene Arbeit selbst machen, was ja auch der Sinn der Sache ist. Dann ist man aber der Depp vom Dienst. Diesen Weg habe ich gewählt. Man kann auch Reden halten, den Boss spielen und die Arbeit auf Gehilfen verteilen, so als Vorübung etwa für einen späteren Ministerposten. Das war nicht mein Ding.
Man kann sich als Klassensprecher auch unbeliebt machen, nicht bei den Kameraden, wenn man seine Arbeit gut macht, aber beispielsweise auch und gerade bei den Lehrern.
Das Zeugnis, also die sogenannte Papierform, besagt darüber, welche Kenntnisse der Kandidat hat, offensichtlich nicht viel. So habe ich von Chemie noch nie etwas verstanden, ich habe auch heute noch keine Ahnung von Chemie, aber in meinem Abiturzeugnis erhielt ich für das Fach Chemie die Note 2. In Mathematik hatte ich seit der ersten Klasse im Gymnasium immer eine 2. Mathematik fiel mir leicht. Bis ein im Grunde völlig belangloses Ereignis eintrat: Unser Mathematiklehrer hatte einmal einem meiner Klassenkameraden für eine Mathearbeit eine glatte 6 gegeben. Man musste eine Berechnung eigenständig entwickeln,, durchführen und zu einem bestimmten Ergebnis führen. Das Ergebnis, zu dem mein Klassenkamerad kam, war richtig, aber unnötig umständlich und nicht ganz einfach nachvollziehbar. Unser Lehrer ging offensichtlich davon aus, dass der Verfasser die Systematik der Aufgabe nicht begriffen und das Ergebnis einfach abgeschrieben habe. Ich schaute mir die Arbeit an und versuchte, die Gedankengänge meines Klassenkameradens nachzuvollziehen. Das war nicht ganz einfach, aber ich konnte schließlich einwandfrei darstellen, dass er zwar unnötig umständlich, aber letztlich doch richtig gerechnet hatte. Das trug ich dem Mathematiklehrer vor, der, wenn auch unwillig, zugeben musste und zugab, dass er einen Fehler gemacht hatte. Mein Klassenkamerad erhielt daraufhin die für seine Arbeit angemessene Note. Der Lehrer nahm es aber übel und mir gelang es danach nie mehr – wir hatten diesen Lehrer bis zum Abitur – in Mathematik über die Note 3 hinauszukommen. Hony soi qui mal y pense.
Nun, das Abitur hatte ich auch mit einer 3 in Mathematik in der Tasche. Also hieß es, sich an der Universität zu immatrikulieren und eine Studentenbude zu suchen. Das mussten meine Klassenkameraden schließlich auch, aber im Gegensatz zu deren Eltern meinte mein Vater, ich solle doch selbst sehen, wie ich damit zurecht käme, ich sei schließlich alt genug. Wie recht er doch hatte. Ich fuhr also nicht mit Mama und Papa, wie meine Klassenkameraden, sondern allein nach Tübingen – an der dortigen Universität wollte ich studieren –, suchte und fand eine Bude und schrieb mich an der Universität ein.
Das erste Semester begann im Herbst, für das Sommersemester reichte es nicht mehr. Ein halbes Jahr herumzusitzen, behagte mir indessen nicht. Ein Vetter meines Vaters, Bankdirektor seines Zeichens, verschaffte mir bei seiner Bank eine Volontärstelle, ich wurde durch alle Abteilungen durchgereicht, lernte Münzgeld von Hand zu rollieren, Papiergeld von Hand mit Banderolen zu versehen, lernte Scheck und Wechsel kennen und vor allen Dingen Pünktlichkeit. Ich erinnere mich noch gut – ich war an der Hauptkasse tätig – es war ein Samstag, Schalterschluss, da fiel das Zahlbrett mit dem Münzgeld auf den Boden. Wir alle, die wir an der Kasse tätig waren, sammelten die Münzen wieder auf, am Schluss fehlte aber noch ein Pfennig. Eine Kasse, die nicht stimmt, kann man nicht abschließen. Um 12 Uhr war Schalterschluss, aber wir suchten und suchten, der Hauptkassier war eisenhart. „Solange der Pfennig nicht da ist, geht keiner nach Hause“, erklärte er und blieb selbst da, denn es war ja seine Kasse, die nicht stimmte. So gegen halb drei, auf hochdeutsch 14.30 Uhr, fanden wir schließlich die Pfennigmünze senkrecht in einer Parkettritze stecken, die Kasse stimmte jetzt und wir durften nach Hause gehen. Auch diese Episode war sehr lehrreich für mich. Eine Kasse stimmt nicht, egal ob 1 000 Mark oder 1 Pfennig fehlt, sie stimmt eben nicht und der Fehler muss gesucht werden, das war einfach selbstverständlich und diese Erkenntnis half mir in meinem späteren Berufsleben häufig weiter, insbesondere, wenn es um die Beurteilung von Sachverständigen-Gutachten ging.
Ich nützte die Zeit bis zum Semesterbeginn weiter damit aus, Stenografie und Maschinenschreiben zu erlernen. Grundkenntnisse im großen Gebiet der Buchhaltung erhielt ich bei der Bank. Der Hintergedanke dabei war, notfalls auch ohne Hilfspersonal ein Anwaltsbüro betreiben zu können.
Die Überlegung war richtig, wie sich später immer wieder erweisen sollte.
Pünktlich zu Beginn des Wintersemesters bezog ich meine Studentenbude in Tübingen und ging erwartungsvoll in die erste Vorlesung. Außerdem trat ich, wie sich das gehört, einer alteingesessenen, aber liberalen Studentenverbindung bei.
Zur damaligen Zeit war es möglich, nach dem 6. Semester die erste juristische Staatsprüfung abzulegen. Das war absolut nicht üblich. 10 bis 12 Semester waren normal und wohl auch erforderlich, wenn man ein Prädikatsexamen erreichen wollte, ein Muss, wenn man eine Stelle im Staatsdienst anstrebte, denn dort musste die Papierform stimmen. Nun, der Staatsdienst war das Letzte, was mir vorschwebte, ich strebte den Rechtsanwaltsberuf an. Da konnte mir, so meinte ich, die Papierform gleichgültig sein. Diese Überlegung war zwar in dieser Absolutheit falsch, aber sie hat mir nie geschadet.
Ich war 4 Jahre in die Grundschule und 9 Jahre aufs Gymnasium...