Mayer | Raum und (Des)Orientierung in der französischsprachigen Gegenwartsdramatik (1980-2000) | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 58, 315 Seiten

Reihe: Forum Modernes Theater

Mayer Raum und (Des)Orientierung in der französischsprachigen Gegenwartsdramatik (1980-2000)

Bernard-Marie Koltès, Marie Redonnet, Patrick Kehrmann, Valère Novarina
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8233-0383-1
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Bernard-Marie Koltès, Marie Redonnet, Patrick Kehrmann, Valère Novarina

E-Book, Deutsch, Band 58, 315 Seiten

Reihe: Forum Modernes Theater

ISBN: 978-3-8233-0383-1
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zeitgenössische französischsprachige Theatertexte gelten als vielfältig und unzugänglich. Unter der Perspektive des Raumes geht die Autorin der Frage nach der menschlichen Handlungsfähigkeit in der Postmoderne nach und untersucht Raum-Figuren-Verhältnisse in Kontinuität und Differenz zu den Experimenten der Avantgarden. Die Studie zeigt, wie Räume statt über szenische Anweisungen perzeptiv-sprachlich via Figurenrede evoziert werden. Es werden offene, weite und strukturlose Raumentwürfe ausgemacht, die mit Desorientierungssituationen einhergehen und dennoch Orientierungs- und Handlungspotenzial aufzeigen.

Annika Mayer ist Kunstvermittlerin am Nationaltheater Mannheim. Sie lehrte am Institut für Romanistik der Universität Kassel.

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2.3 Tendenz 2: Entdramatisierende und redramatisierende Verfahren
Simultan zur neuen Text(q)ualität kündigt sich in den 1980er und 1990er Jahren eine Wiederauflage bzw. Fortentwicklung der Strukturelemente des Dramas an. Diese kann als eine Antwort auf das postdramatische Theater verbucht werden, lässt sich jedoch ebenso als Reaktion auf die – insbesondere von Beckett betriebene – avantgardistische Zerlegung und Ausreizung der dramatischen Elemente und Strukturen bis hin zu Nullwerten erklären. Damit geht jedoch keineswegs eine Rückkehr zum konventionellen oder „absoluten Drama“ vonstatten; suggerieren Begriffe wie „Dramatisches Drama“ oder „théâtre néo-dramatique“ auch eine solche. Die neuen Textverfahren brechen auf der Ebene der Rede und über deren zeitliche, räumliche und typographische Anordnungen dramatische Strukturen auf und lassen sich nicht mit gängigen Analysemodellen für Dramen untersuchen. Unterteilt Patrice Pavis in Oberflächenstruktur als „Textualität“ und „Theatralität“ sowie in die dramatische Tiefenstruktur als Intrige, Dramaturgie, Handlung und Sinn, mag dies für einen Untersuchungsvorgang hilfreich erscheinen. Allerdings suggeriert diese Aufteilung, dass sich die Textform und das theatralische Potenzial als äußere Hülle verändern und der Kern des Theatertextes nach wie vor das Drama sei. Entsprechend hält Pavis am strukturalistischen Aktantenmodell fest. Bei Theatertexten, insbesondere solcher, die neue (nicht mehr dramatische) Textqualitäten entfalten, stellt sich jedoch nicht nur die Frage, ob sich die Strukturen in äußere und innere aufteilen lassen, sondern auch wie es um die Versatzstücke des Dramas steht. Unverkennbar ist, dass sich die Gegenwartsautor_innen weiterhin auf die dramatische Form beziehen und sich mit ihren Bedeutungsdimensionen auseinandersetzen. Insofern gilt es, auch mit Stefan Tigges, dem seitens der postdramatischen Forschung „voreilig verabschiedeten dramatischen Grund- und Restgehalt“ gerecht zu werden, d.h. Szondi und Klotz folgend, den Weiterentwicklungen nachzugehen. Bereits Poschmann verabschiedet sich nicht vom Drama, sondern differenziert in Umgangsweisen mit der dramatischen Form: deren problemlose Nutzung, bei der die dramatisch erzeugte Fiktion erhalten bleibt und deren kritische Nutzung durch Selbstbezüglichkeit, Umfunktionierung, Unterwanderung (sowie den monologischen Theatertext als Sonderfall). Diese beiden Pole in der Forschung können mit den von Tigges eingeführten Begriffen Entdramatisierung und Re-Dramatisierung gefasst werden als Strategien des Verformens und ästhetischen Weiterschreibens von dramatischem Material „im reibungsvollen Spiel zwischen Tradition und Innovation“. Wenn auch die Heterogenität der französischsprachigen Theatertexte 1980-2000 der einheitlichen Bestimmung eine Absage erteilt, so lassen sich doch einzelfallübergreifende Ausformungen und Formelemente zusammentragen. Dazu bieten sich die beiden gegenläufigen ästhetischen Verfahren von Entdramatisierung und Redramatisierung an, deren bislang ausstehende Erläuterung und Systematisierung im folgenden Abschnitt nachgekommen wird. Unter einem entdramatisierenden Verfahren lässt sich ein theaterästhetisches Verfahren verstehen, das die drei konstituierenden Säulen des klassischen Dramas Figur, Handlung und Dialog aushöhlt und die geschlossene Form als die der Mimesis zuträgliche Einheit von Handlungsstrang, Ort und Zeit aufbricht. Die dramatischen Elemente werden dabei aus ihrem linearen und kausallogischen, den Plot unterstützenden Zusammenhang gelöst, stehen nicht mehr gebunden für die Repräsentation einer Handlung sondern vereinzelt für sich im theatralischen Bezugssystem. Im Extremfall entstehen dadurch brüchige und offene Text- und Zeichengefüge. Aus epischen, avantgardistischen und postdramatischen Theatertexten und deren Erforschung lassen sich folgende entdramatisierende Verfahrensweisen zusammentragen: Aushöhlung der Figur: Entmenschlichung (Marionetten, Puppen, Gespenster), Entpsychologisierung und Anonymisierung (Namenlose, „Schwundfiguren“, „Textträger“), Entkörperlichung (motorische Einschränkungen, Trennung von Körper und Stimme, „atopische Stimme“), Fragmentarisierung, Dezentrierung, „ludische Figuren“ Aushöhlung der dramatischen Handlung: Entmotivation, Entteleologisierung, Fremdsteuerung (durch Objekte, Medien, Theaterapparatur), Banalisierung, Alltagsritualisierung, Wiederholung, Duration, Stillstand und Zuständlichkeit (Warten, Ausharren), verdeckte Handlung, „Spielzüge“ Aushöhlung des dramatischen Dialoges: Monologisierung, „soliloque“, Narrativisierung, vage Adressierung, Poetisierung, Entfunktionalisierung (Informationsüberschuss, Redeschwall, Autonomie der Sprache), Sprachversagen (Lückenhaftigkeit, Zusammenbruch der Sprache), Sprachlosigkeit (Schweigen, Stille, Pantomime), Polyphonie und „choralité“, Redewiedergabe, externe Kommunikationsebene (Publikumsansprache, „Diskurs“) Aufbruch der Einheit des Ortes: Pluralisierung, Metaphorisierung und Abstrahierung des Bühnenbildes, Distanzierung, topologische Strukturen, Stationendramaturgie, Thematisierung des Spielraumes, leerer Raum Aufbruch der Einheit der Zeit: Achronologie, Rückläufigkeit, Vorläufigkeit, Gleichzeitigkeit der Zeiten, offener Anfang, offenes Ende, Thematisierung der Spielzeit Aufbruch der Einheit der Fabel: Entlinearisierung, Fragmentarisierung, Brüchigkeit, Inkohärenz, Demontage, Virtualität, Pluralisierung, Bilderfolgen, Repetitivität, Zirkularität, Variation, Unterbrechung, Tanz- und Musikeinlagen Aufbruch von Repräsentation / Nachahmung: Verzicht auf lebensweltliche Referenz, vermittelte und distanzierende Darstellungsweisen, Fiktionsbrüche, Autonomie der Zeichen, Ironisierung, Synästhesie, Bedeutungsverweigerung, Thematisierung des Spiels, Metatheatralität Unter redramatisierende Verfahren hingegen fallen Bestrebungen, die an Konstituenten oder Einheiten des Dramas festhalten, bzw. sie unter veränderten Bedingungen wiederaufnehmen. Bezogen auf die Figur kann das bedeuten, diese wieder mit Namen und/oder Sozialstatus zu versehen, ihre Identität in narrativer, prozessualer Form wieder aufzubauen oder ihr als Sprechinstanz einen neuen Stellenwert zukommen zulassen. Nicht zu rechnen ist jedoch mit einer Rückkehr zu Aktanten als prinzipien- oder wertegeleitete Figuren (oder Instanzen) in Relationen von Opposition, Kooperation und Behinderung. Kommt der Handlung wieder ein zentraler Stellenwert zu, dann nicht als einer einheitlich, teleologisch geführten großen Handlung, sondern im Sinne einer Handlung minderer Gespanntheit, d.h. ohne Konflikte bzw. mit interpersonellen oder innerpersonellen Mikrokonflikten. Ein wandelndes Handlungsverständnis wird bereits von Maurice Maeterlinck vorbereitet, der die Alltagshandlung gegenüber der großen Handlung der Abenteuer, Schmerzen und Gefahren abgrenzt, indem er die Stille, die Langsamkeit, das Innehalten, die alltägliche Einfachheit der Existenz hervorhebt. Neben einem von außen nicht sichtbaren, verdeckten Geschehen setzt er einen Schwerpunkt auf die „parole“ im Gegensatz zum Handlungsvollzug. In dieser Hinsicht ließe sich dramatisches Sprechhandeln um Redeformen des Erzählens, Beschreibens, artikulierten Wahrnehmens und Reflektierens erweitern und öffnen hin zu (jedem potenziell szenischen) Sprechen als Handlung. Der Dialog büßt zwar seine Form und Funktion der logik- und werteorientierten Wechsel- und Überzeugungsrede ein, hält sich aber als reduzierter Wortwechsel oder auch als formale Zuspitzung eines agonistischen Wortspiels zu einem Ping Pong von Redewendungen und Redeweisen. Auch wird der Dialog durch alltags- oder medienbezogene Kommunikationsanordnungen wie der des Interviews oder der Moderation geprägt. Publikumsansprache, metasprachlicher oder metatheatralischer Kommentar sind zwar entdramatisierende Mittel, lassen sich jedoch auch als Ausbau des Dialoges auf einer anderen Ebene verzeichnen. Die Sprechtexte der Gegenwartsdramaturgien verweisen stärker als die der Avantgarden auf die außerszenische Lebenswelt und enthalten explizite oder implizite Auseinandersetzungen mit...



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