E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Mayr Der Schlafwagendiener
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8031-4377-8
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4377-8
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Suzette Mayr, geboren 1967, hat für ihre sechs bisher erschienenen Romane bereits mehrere Preise erhalten. 2022 wurde sie für »Der Schlafwagendiener« mit dem renommiertesten kanadischen Literaturpreis, dem Giller Prize, ausgezeichnet. Mayr unterrichtet Kreatives Schreiben an der Universität von Calgary.
Autoren/Hrsg.
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Toronto–Winnipeg, Mo., 22:45 Uhr (E. T.)
bis Mi., 21:15 Uhr (C. T.)
21:45 Uhr. Baxter steht neben seinem Trittschemel und hält Ausschau, reglos, geschmeidig, jederzeit bereit, einen Koffer hochzuhieven, einen Fahrplan zu analysieren, auf den Schaffner zu verweisen, zu nicken, weitere Koffer hochzuhieven oder auch eine Hutschachtel, weitere Fragen zu beantworten, zu nicken und immer wieder zu nicken. Hosenaufschläge schleifen durch den Staub, blanke Stiefelabsätze klackern über den Bahnsteig, ein Kind rennt zum Aussichtswagen, Haarbänder, Manschettenknöpfe, Tickets und Abschiedsbriefe rauschen zu Boden. Hände strecken sich ihm entgegen, halten sich an ihm fest, ziehen ihn an der Jackentasche, fuchteln ihm vor dem Gesicht herum. Eine Woge aus Fahrgästen walzt auf seinen Wagen zu, ein Mahlstrom hektischen Abfahrtstrubels.
R. T. Baxter, Zahnarzt in spe, der einmal Zahnfleisch aufsäbeln und kranke Weisheitszähne ziehen will, steht da, hier, neben seinem Zug, inmitten dieses Wirbelsturms.
Jetzt schon schläfrig.
Ein Fahrgast, der in Baxters Wagen zusteigt, drängelt sich an einer Mutter vorbei, die ihren Knirps am Ellbogen festhält. Der Mann, geformt wie ein Herz, wie eine Mango, verharrt kurz auf dem Trittschemel, ehe er in den Waggon klettert. Mango reckt den gekrümmten Zeigefinger in die Luft und öffnet die trockenen Lippen, aber es entweicht ihnen kein Ton, kein Fragezeichen.
»Sie sind in Abteil C, Sir«, sagt Baxter, obwohl der Schaffner dem Passagier das bereits erklärt hat. Er ist sich nicht sicher, was der Passagier jetzt noch wissen möchte und was der schweigend in die Luft gereckte Zeigefinger zu bedeuten hat. »Willkommen an Bord«, sagt er.
»Mitternacht«, sagt Mango. Er schiebt den Finger in seine Brusttasche, zieht eine Visitenkarte heraus und schnippt Baxter die Karte zu. Die Berufsbezeichnung lautet . Auf die Rückseite hat der Passagier in winzig kleinen Versalien notiert:
MITTERNACHT. KEINE MINUTE SPÄTER.
Die spitzen Ecken der Karte piksen Baxter in die Fingerspitzen. Um Mitternacht wird er noch beschäftigt sein, Fahrgästen gut zureden, sich in ihre Kojen zu begeben, und über Kissen und Schlafanzüge stolpern. Er hat eine vage Ahnung, was der Mann mit seinen akkuraten Winzbuchstaben sagen will, aber manche Passagiere sind durchtriebene Gesellen, die einem in der einen Sekunde freundlich die Zähne zeigen, um sie in der nächsten arglistig zu fletschen. Er hat keine Zeit, für Mango den Kummerkastenonkel zu spielen, sich seine nächtlichen Bekenntnisse über eine unglückliche Liebesaffäre oder einen lasterhaften Bruder anzuhören, wo er doch Stiefel wichsen und Berichtzettel ausfüllen muss. Um Mitternacht werden noch Passagiere betrunken durch den Wagen torkeln oder nach der Leiter klingeln oder zur Toilette und wieder zurück wanken, ihn mit Fragen belästigen wie oder als läge Baxter, sobald er aus ihrem Blickfeld verschwindet, auf dem Dach des Zuges. Vielleicht kann Mango, der Optiker, ihm ja die menschlichen Augen aus den Höhlen schaben und stattdessen Vogelferngläser einsetzen.
Federn schweben vor Baxters Augen. Er blinzelt, putzt sich mit dem Taschentuch die Brille. Keine Federn. Kaum Schlaf letzte Nacht, davor zwei Nächte hintereinander überhaupt kein Schlaf, jetzt zieht in seinen Augäpfeln Nebel auf. Er steckt sich die Karte des Optikers in die Brusttasche.
Baxter füllt die Formulare aus, hievt Kisten hoch und runter und hoch, steigt beim Kontrollieren der Kojen über Kissen und Schlafanzüge, notiert innerlich, wessen Schuhe geputzt werden müssen und wer schon so viel getrunken hat, dass er sich im schnurgeraden engen Korridor garantiert verlaufen wird.
Um 23:59 Uhr drückt Baxter den Perlmuttklingelknopf zu Abteil C. Mango öffnet die Tür mit qualmender Zigarre im Mund, der Rauch und der Geruch aus dem Abteil schlagen Baxter entgegen, die Schultern des betrunkenen Körpers füllen den Türrahmen aus.
»Exakt pünktlich.« Qualm quillt aus Mangos Mund.
Er hält Baxter einen Fünfdollarschein hin, und Baxter greift danach, schwindelig angesichts des ungeheuren Geldbetrags. Aber Mango zieht den Schein mit einem Ruck zurück, zerreißt ihn und hält eine Hälfte Baxter zwinkernd hin. Die Lippen rund um die Zigarre hat er zu einem höhnischen Grinsen verzogen. Die Zeit kommt schlagartig zum Stillstand. Mango ist einer dieser widerlichen Typen, die Baxter als Alibi oder Zeuge für eine noch nicht begangene, aber beabsichtigte Dummheit oder Schandtat brauchen. Baxter faltet den halben Geldschein in der Mitte und steckt sich das verdorbene Ding in die Brusttasche seiner Uniformjacke.
Ihm fällt ein, dass Mangos pompöse protzige Kerne haben.
»Die andere Hälfte gibts am Ende der Reise«, raunt Mango ihm zu und klopft ihm auf die Schulter.
Lange Haare wachsen dem Passagier aus den Nasenlöchern, aus den Ohren. Baxter hat Männer wie ihn schon gesehen. Und nicht gesehen. Sein Ausbilder Edwin Drew hat ihm alles gesagt, was man über solche Männer wissen muss. hat er sie genannt.
»Hier«, sagt Mango, »die hast du vergessen.«
Er schiebt Baxter ein Paar Schuhe hin, die innen feucht sind und übel riechen. Dann macht er die Abteiltür zu, knallt sie ihm gegen die Fußspitze.
Baxter bringt weitere Passagiere in ihren Kojen unter, wischt rund um die Waschbecken die Spritzer weg, holt neue Handtücher. Sein Zwillingsbild zieht in den Spiegeln weißjackige Pirouetten, zeigt seine Schweißtropfen auf der Stirn, sein langes und dünnes Gesicht, die schimmernde Brille. Die zweite Stunde einer fast achtundvierzig Stunden langen Tour, und am liebsten würde er sich jetzt schon zusammenrollen und fortwehen lassen.
Baxter befreit Mangos Schuhsohlen vom Schmutz, schrubbt mit der Bürste über die Vorderkappe, den Absatz, die Seiten, tupft und verteilt Schuhcreme und auf der Kappe Wasser und reibt mit dem Lappen, bis der Schuh glänzt, bis das Leder straff und blank ist. Er fährt, nur ganz kurz, mit den Fingern über die Nähte und Zierlöcher.
Die Schuhe stellt Baxter in das Schränkchen neben Mangos Abteiltür. Dann setzt er sich wieder auf seinen Hocker und putzt die Schuhe und Stiefel der anderen Passagiere, die Fingernägel schmierig von der Schuhcreme, putzt weiter bis in den schlaftrunkensten Teil der Nacht, in dem er endlich das Putzzeug einpacken und sein Bett machen kann, weil selbst die pingeligsten Passagiere so tief träumen, dass sie einmal nicht das Bedürfnis haben, nach dem Schlafwagendiener zu klingeln.
Dennoch ruft ihn von Zeit zu Zeit die Klingel, und er muss die Leiter an eine der oberen Kojen anlegen, damit ein Passagier hinabsteigen, sich zum nächtlichen Besuch des Waschraums oder einer anderen Lustbarkeit aufmachen und wie ein trunken schläfriges Eichhörnchen wieder hinaufklettern kann.
Unter dem Schaukeln und Schwanken des Wagens gleitet draußen vor den Zugfenstern die Nacht vorüber. Baxter reibt sich die Augen so fest, dass unter seinen Lidern Polarlichter wabern.
Um 2:00 Uhr zieht er im Raucherabteil neben der Toilette eine hauchdünne Matratze heraus und legt sie auf das Sofa. Er streckt sich darauf aus, sein Kopf sinkt zur Seite, er nickt ein. Seine Finger fassen nach dem Betttuch, um es sich bis zum Hals hochzuziehen, da fällt ihnen auf, dass er das Laken vergessen hat. Und er hat vergessen, den Diener im nächsten Wagen zu bitten, ihn kurz zu vertreten. Er muss wieder aufstehen, er muss Ordnung schaffen. Er sinkt zurück in den Schlaf.
Nach nur zwanzig Minuten weckt ihn das Schrillen der Klingel. Mühsam rappelt er sich auf.
Baxter hält die Leiter fest, damit ein betrunkener Hallodri, der außer Schlafanzug und Regenmantel nichts anhat, in eine der leeren oberen Kojen kraxeln kann. Der Kerl hat es zunächst ohne Leiter probiert und ist dabei auf der unteren Koje herumgetrampelt. Der Mann unten hat dann Baxter herbeigeklingelt und sich wieder weggedreht.
»Danke danke, daaanke schööön«, flüstert der Betrunkene und zieht sich die Decke bis unter die Achseln. »Diener«, zischt er, »Diener! Guck mal. Guck mal, was ich hier habe.«
Mr. Schnapsnase stützt sich auf einen Ellbogen. Raschelnd zieht er eine abgegriffene Postkarte aus der Schlafanzugtasche und schiebt sie Baxter hin. »Hihi«, kichert er.
Baxter betrachtet die Karte im Dämmerlicht.
Zwei Frauen räkeln sich nur mit Strümpfen bekleidet auf einem Kanapee.
»Hab ich aus Frankreich«, sagt Schnapsnase. ».«
Baxter streicht die abgewetzte Schmuddelkarte auf der Bettkante glatt. Schweiß kriecht ihm auf die Stirn und in den Nacken. Die weißen Zähne der einen Lady säumen wie winzige Blütenblätter ihre Lippen.
Er steht auf dem obersten Tritt der Leiter und zermartert sich den Kopf, was er vorgaukeln könnte. Interesse darf er nicht vorgaukeln, nicht mal für das beste Trinkgeld der Welt. Er will nicht gefeuert oder totgeprügelt werden, weil er einer nackten weißen Lady lüsterne Blicke zugeworfen hat, und er will sich auch keine Strafpunkte für mit diesem Passagier einhandeln. Übelkeit kann er auch nicht vorschützen. Nein, das geht alles nicht.
Schnapsnase runzelt die Stirn und schnaubt missbilligend, weil die schäbige Liederlichkeit seiner Karte Baxter weder einen Pfiff noch ein Kichern entlockt; er schnaubt verärgert, weil Baxter überhaupt keine Reaktion zeigt.
...