E-Book, Deutsch, 175 Seiten
Meier / Roth Depression
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-041474-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Verstehen und Behandeln aus Sicht der Analytischen Psychologie
E-Book, Deutsch, 175 Seiten
ISBN: 978-3-17-041474-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Understanding and treating depression, with its usually complex disturbance pattern, plays a central role in C.G. Jung=s analytical psychology. This book is intended as a guide to the theory and practice of Jungian psychotherapy and psychoanalysis for depressive disorders. Special emphasis is given to flexibility and to the concepts of transference and countertransference in treatment, in order to do justice to the uniqueness of the encounter with depressed people. The explanations are illustrated with numerous case examples from adult psychotherapy.
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2 Therapiemodell
2.1 Erwartung und Motivation der Patient/innen
Depressive Patienten und Patientinnen kommen mit Erwartungen in die Psychotherapie, sie ahnen nicht selten gleichzeitig, dass es ihre eigene Problematik ist, die ihnen im Wege steht. Sie wollen ihr entkommen und wieder Lebensmut und Lebensfreude entwickeln. Sie geben als Behandlungsziel an, sie möchten eine befriedigende Beziehung, eine sinnvolle Arbeit, mehr Sinn im Leben, mehr innere Gelassenheit, einen besseren Selbstwert und weniger Verzweiflung und Ängste spüren. Manche verfügen bereits über ein eigenes Erklärungsmodell, wie es der Psychotherapieforscher Bruce E. Wampold und seine Mitautoren erwähnen (Wampold, Imel & Flückiger, 2018). Sie realisieren, dass sie reflexhaft immer wieder in die gleiche Falle treten, aber es erst im Nachhinein bemerken und wollen deshalb neue Einstellungen, neue Fähigkeiten und neue Sichtweisen in der Psychotherapie erwerben und sind motiviert, selber daran mitzuarbeiten. Andere wiederum kommen und haben bereits einige Male versucht, in einer Psychotherapie ihr Leiden zu überwinden, aber nichts half. Sie sind eher demoralisiert, leiden immer wieder an Depressionen und verfügen über starke Bewältigungsmechanismen, die ihnen helfen, erneute Verletzungen zu ertragen, die sie aber auch daran hindern, ein gutes Arbeitsbündnis und eine gute Arbeitsbeziehung in der Therapie einzugehen. Solche Menschen wissen mehr oder weniger bewusst, dass sie zum Erfolg beitragen sollten, auch wenn sie sich dagegen stemmen. Ihre Haltung ist somit ambivalent; sie erwarten einerseits Heilung, weil sie nicht mehr weiterwissen, aber andererseits ist Angst und ein Widerstreben vorhanden, sich ihren Themen zu nähern. Sie übergeben diesen Konflikt der Fachperson und schauen, wie diese damit umgeht. In solchen Fällen müssen wir die Ambivalenz aushalten bzw. verbalisieren und zunächst das Arbeitsbündnis stärken, wie wir weiter unten ausführen werden. Andere Patient/innen sehen ihre Depression als Defekt an, den sie loswerden wollen, sei es mit Medikamenten, sei es mit sozialen Interventionen bis hin zur Unterstützung für eine Invalidenrente. In diesen Fällen ist eine eigentliche Psychotherapie kaum durchführbar und es ist ein großer Erfolg, wenn solche Menschen, mit oder ohne Rente, zu einer befriedigenden Bewältigung des Alltags geführt werden können. Laut Wampold et al. sind die Erwartungen der Patient/innen zentral für den Erfolg einer Psychotherapie. Werden die Erwartungen nicht erfüllt, thematisiert bzw. bearbeitet, leidet das Arbeitsbündnis, die Patient/innen brechen die Psychotherapie ab, verweigern sich oder ziehen sich innerlich zurück. Die Erwartungen sind neben der therapeutischen Beziehung und der Behandlung einer der drei fundamentalen Wirkfaktoren einer Therapie (Wampold, Imel & Flückiger, 2018). Die Klärung der Erwartungen der Patient/innen steht also am Beginn einer Therapie. 2.2 Behandlungshypothesen der Therapeut/innen
Allgemein gesprochen strebt der Analytiker oder die Analytikerin nach C. G. Jung eine Auseinandersetzung der depressiven Patient/innen mit ihrem Unbewussten an. Dafür verfügen wir bildlich gesprochen über eine innere Bibliothek an Wissen, was wir tun können, um ihnen zu helfen. Dazu gehört einerseits das psychotherapeutische Wissen von C. G. Jung zur Depressionsbehandlung, andererseits die psychiatrischen Leitlinien der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen, medizinischen Fachgesellschaften) zur »unipolaren Depression«, in denen allgemeine Behandlungsziele für Patient/innen mit depressiven Störungen aufgelistet werden, wie die Symptome der depressiven Störung zu vermindern, die Mortalität, insbesondere durch Suizid zu verringern; die berufliche und psychosoziale Leistungsfähigkeit und Teilhabe wiederherzustellen; das seelische Gleichgewicht wieder zu erreichen sowie die Wahrscheinlichkeit für einen direkten Rückfall oder eine spätere Wiedererkrankung zu reduzieren (AWMF, 2017). Die folgenden Hypothesen lassen sich aus dieser inneren Bibliothek zur Depressionsbehandlung ableiten. Es sind Behandlungshypothesen, was davon in der Psychotherapie realisiert wird, ist eine andere Sache und Thema der darauffolgenden Therapie. Alltag wieder bewältigen können
Depressionen führen zu Leere, Energielosigkeit, Abkapselung usw. Diese Symptome sind gleichsam ein Pfropf, der ein gestörtes, seelisches Gleichgewicht stabilisiert. Bei allen Interventionen müssen wir darauf achten, dass der depressive Mensch seinen Alltag weiterhin bewältigen kann, egal ob noch erwerbstätig, krankgeschrieben oder in stationärer Behandlung. Individuation macht beim psychisch Kranken Sinn, aber gerade bei ihm ist die Akzeptanz seiner individuellen Grenzen zentral – und in der Jung’schen Psychologie besteht die Gefahr, dass wir oder der depressive Mensch eine Individuation zu einem Idealwesen fantasieren, dass wir vergessen, dass Individuation meint, das zu werden, was individuell in jedem Menschen angelegt ist und dem auch Grenzen gesetzt sind. Strukturelle Defizite verbessern
Manche depressiven Menschen können sich oder andere schlecht einschätzen, Konflikte und Ambivalenzen können nicht gespürt werden, eine Ambiguitätstoleranz ist kaum vorhanden. Die Psychoanalytiker/innen sprechen in diesen Fällen von ich-strukturellen Defiziten und Persönlichkeitsstörungen (z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörung), in Abgrenzung zu neurotischen Konflikten. Bei solchen Depressiven geht es zunächst darum, ihre strukturellen Fähigkeiten zu verbessern, das heißt, dass sie sich selbst sowie die anderen besser wahrnehmen, sich besser affektiv steuern und bessere Bindungsfähigkeiten entwickeln können (Arbeitskreis, OPD, 2014; Müller & Müller, 2018). Aufgeben kindlich-regressiver Einstellungen
Jung argumentierte, dass der depressive Mensch einseitige Einstellungen entwickelt habe, mit der Folge, dass sich die psychische Energie ins Unbewusste zurückzieht, was eine Regression des Menschen zur Folge hat, die ihn depressiv werden lässt. Es handelt sich dabei um kindliche Fixierungen an Elternfiguren. Die Heilung schreite erst voran, so Jung, wenn der depressive Mensch ein Opfer bringt, nämlich Wünsche der »dämmernden Seligkeit« der Kindheit aufgibt, indem er Abschied nimmt von der kindlichen Träumerei, der Unbeherrschtheit, Triebhaftigkeit und Aggressionslust, aber auch Abschied nimmt von der mütterlichen Symbiose (Jung, 1912, § 571). Negatives Selbstbild verbessern
Der Jungianer Wolfgang Kleespies (Kleespies, 1998) erwähnt in diesem Zusammenhang das Selbstkonzept des Depressiven, das entwicklungspsychologisch blockiert wurde. Kämpferische Handlungsimpulse werden abgewehrt, der Depressive bleibt passiv, weil sich das Ich minderwertig etc. fühlt. Das Ich-Bewusstsein des depressiven Menschen sieht sich nicht in der Lage für sich etwas Adäquates zu fordern, obwohl entsprechende Wünsche und Bedürfnisse da wären. Die Wertvorstellungen über sich sind negativ, es fehlt ein »narzisstisches Grundgefühl« von Wärme und Geborgenheit mit dem Gefühl, wichtig zu sein. Integration negativer Bindungserfahrungen
Die Jungianerin Judith Hubback sieht die Depression als Reaktion auf schmerzhafte emotionale Erfahrungen von Trauer, Trennung und Einsamkeit aufgrund von entwicklungspsychologischen Ursachen (depressive Mutter, Krankheit, Tod in früher Kindheit etc.). Es entstehen daraus starke Projektionen und ein Schatten, der ebenfalls in die Übertragung der Analyse einfließen kann. Die Therapeutin kann zum »negativen Objekt« werden, aber über neue Erfahrungen mit ihr und durch die therapeutische Arbeit ist sowohl eine Integration und Wiedergewinnung des »guten Objektes« möglich wie auch die Integration von negativen Bindungserfahrungen (Hubback, 1989). Ohnmacht und Hilflosigkeit aushalten lernen
Depressive Menschen haben Mühe, Verluste, Trennungen oder Todesfälle auszuhalten und zu betrauern. Sie wurden in der Kindheit nicht selten emotional vernachlässigt, und deshalb sind Verlusterfahrungen zu schmerzhaft, um die damit einhergehende Ohnmacht, Trauer und Hilflosigkeit auszuhalten. Der Weg in die Gefühllosigkeit erscheint einfacher. Daraus resultiert aber Versteinerung, Freudlosigkeit, ein Leeregefühl, oft auch Selbstverleugnung und Selbsthass. Trauer und Ohnmacht auszuhalten sind nicht einfach, aber verhelfen wieder zu einem Leben ohne Depression. Hillman (1997) betont ferner, dass eine der Hauptaufgaben der Psychoanalyse nicht darin bestehe, die schwarze Stimmung der Depression zu beseitigen, sondern in Melancholie zu verwandeln, mit einem gesteigerten...