Mendele | Der Wunschring / Schloimale | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Reihe: Piper Edition

Mendele Der Wunschring / Schloimale

Mit einem Vorwort von Martin Walser
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-99095-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mit einem Vorwort von Martin Walser

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Reihe: Piper Edition

ISBN: 978-3-492-99095-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Klassiker der jiddischen Literatur - zum WiederentdeckenIn»Schloimale« erfahren wir von einem armen Jungen, der auf Holzpritschen hungern musste, bis er ein freier Mann und Mensch wurde. Hier begegegnen wir vielleicht sogar Mendele selbst.»Der Wunschring« ist ein Abenteuerroman, ein Märchen aus der verlorenen Welt der osteuropäischen Juden.»Die Romane von Abramowitsch sind eine einzige Zärtlichkeitsfülle. Seine Menschen, eine gewaltige Schar der Bedürftigkeit und Liebe. Ich kenne keine Literatur, in der die Menschen in jedem Augenblick durchströmt und bewegt werden von einer solchen Gott-Seligkeit.« Martin Walser
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VORSPIEL


1.


Also spricht Mendele der Buchhändler: Gibt es denn jemanden, der heil an allen Gliedern von der Reise käme, der nicht Seitenstechen fühlte, dem der Rücken vom eng aneinandergepressten Sitzen der Passagiere im Wagen nicht wehtäte? Sobald man nur den Wagen besteigt, gibt man gleich seine Knochen als vogelfrei dran: Wer da Lust hat, mag einem nun auf die Füße treten. Das ist ja etwas ganz Gewöhnliches. Aber war das ein schrecklicher Schmerz, den ich in allen meinen Gliedern spürte, als ich nach einer langen, schweren, unangenehmen Reise nach Schwarza kam – mög’ es Euch nicht zustoßen, liebe Leser! Damals fühlte ich es unwiderleglich in mir, wie wahr die Worte unserer heiligen Weisen über den Vers »ich habe das Gute vergessen« sind.

»Das Gute«, sagen sie, »bedeutet das Bad.« Ganz einfach ein Bad, so wie es sich gehört, mit allem Drum und Dran, mit den obern breiten Bänken, mit den langen Stangen, auf die man um Vergebung! – die Hosen, die Strümpfe und dergleichen hängt; mit dem Bader, der bei einer brennenden Kerze in einem Winkel sitzt, die Leute schert und zur Ader lässt. Dieses »Gute« hatte ich damals lebensnötig. Aber ach, all diese Dinge, mit denen die Kleinstädte unserer Gegend gesegnet waren – in der großen Stadt Schwarza waren sie ganz unbekannt. Schon darum allein ist das Leben in den großen Städten gar kein Leben, das unsere Juden aus Dümmingen und Schnorringen aushalten könnten. Als ich erkannte, dass ich hier das gewünschte Heilmittel nicht bekommen würde, nahm ich die übliche Arznei, die ein Jude gewöhnlich im Notfall gebraucht: das heißt, ich tat, als ob ich nichts wüsste, schlug mir die Schmerzen aus dem Kopf – »bah, ’s ist nichts!« – und ging nach dem Marew-Gebet aus dem Gasthof, um in Geschäften Kaufleute zu sehen und auch bloß Bekannte zu treffen.

Ein besonderes Ungewitter kam plötzlich vom Norden daher. Es wurde dunkel und finster. Schwarze Wolken rundum. Die Menschen wurden von Panik ergriffen und liefen wie von Sinnen umher. In unsern Zeiten hat sich das Klima überhaupt geändert, das Wetter ist wirr und toll geworden, grade wie die Papiere an der Börse, die an einem Tage zehnmal steigen und fallen, und wie das ganze nette heutige Geschlecht. Schon zu Sommerende war plötzlich eine Änderung in die Luft gekommen, es gab Wolken, Kälte und Wind, die Sonne verschwand, die Welt wurde öde, Finsternis begrub sie. Ziegen und Böcke sprangen in den Gärten herum, zertraten und vernichteten alles, was noch dort war. Es war rein eine göttliche Heimsuchung. Die Schweine wühlten und rissen jedes Stücklein Gemüse aus, die Arbeit der Menschen ging zugrunde. Die Bäume verloren ihren Schmuck, den ihnen der Frühling geschenkt hatte. Sie waren in einem jämmerlichen Zustand, wie Melamdim ohne »Blätter«. Sie bogen sich, bebten, zitterten, schlugen sich mit den Ästen den kahl gewordenen Kopf. Man sah es ihnen gar nicht an, dass sie einst geblüht und den Menschen gute Früchte gebracht hatten. Die kleinen Tiere suchten Löcher, um sich in die Erde, die Fliegen, sich in irgend eine Spalte an der Wand zu flüchten. Manche Geschöpfe gingen auf die Wanderung, über weite Meere bis ans Ende der Welt. Die Erde trauerte, alles war voll Schwermut, alles fühlte: Im nächsten Nu wird der Winter da sein, der böse Herrscher, und wird die Erde öde machen. Aber Jomkipper war vorbeigegangen, dann war auch Ssikkes vorüber, gottlob. Endlich kam der Winter. Aber es wurde nicht so arg, er kam ohne Sturm und ohne Getobe. Er war ja gar nicht ein solch böser Wüterich, wie es geschienen hatte, im Gegenteil, er war gutmütig und wandte der Erde ein freundliches Antlitz zu. Das Herz wurde ruhig. Es war so wie süß und sauer zusammen. Die Fliegen zeigten sich wieder, sie bewegten sich wie trunken und tanzten auf dem Fenster ein Kosakentänzlein. Auch die Mücken krochen scharenweise aus ihren Löchern hervor und flogen summend in wirbelnden Tänzen durch die Straßen. Eine Akazie in einem Garten überlegte sich’s nicht lange und machte sich plötzlich ans Blühen. Und die Menschen wollten sich einreden – das liegt in ihrer Art –, dass Wunder auf Erden geschähen, dass es sich jetzt, will’s Gott, zu Gutem wenden werde. Die armen Leute freuten sich und die Schnorrer fassten Mut. Man hoffte auf gute, helle Zeiten, warm würde es werden, will’s Gott. Aber plötzlich mochte der Winter der Welt seine Macht und seine Bedeutung zeigen. Es stürmte, schneite und regnete, als wenn die Welt untergehen wollte.

Der Wind ließ nicht nach. Der fallende Schnee stach mich wie mit Nadeln. Ich senkte den Kopf und hielt den Kaftan fest, damit mir seine Schöße nicht über den Kopf wehten. So ging ich ganz krumm gebückt zu Schloime Reb Chajems, einem alten Bekannten von mir.

2.


Dieser Schloime hatte früher in Dümmingen gewohnt und die Dümminger hatten ihn in großen Ehren ausgehalten. Nicht etwa, dass sie Geld an ihn verschwendet hätten, behüte! Nicht einen Pfennig! Um einen Pfennig ließe sich ein Dümminger beide Augen ausreißen, wenn man ihn nicht an der Peje packt. Das ABC der Weisheit beginnt für ihn mit M: Münze. Sie macht ihn zu einem richtigen Wesen, zu einem Erzfrechling, zum Führer und zur Autorität in der Gemeinde. Aber wie war es hier?! Reb Schloime war ein Schriftsteller, ein Autor, und die Dümminger bildeten für ihn den Quell seiner Erzählungen. Das will sagen, er sah den Dümmingern aufmerksam zu, betrachtete ihr ganzes Tun, nach Art der Forscher, welche die Natur der Wesen beobachten und über Ungeziefer, Kriechtiere und alle Arten von Getier und Vieh sprechen. Als er mit der Natur der Dümminger Wesen, mit der Art ihres Lebens, mit ihren Eigentümlichkeiten und ihrem Treiben vertraut war, schilderte er sie und schuf ein wunderbares, herzerfreuendes Bild, das im Publikum sehr gesucht war und von dem er ganz hübsch sein Auskommen fand.

Auf den ersten Blick sollte man glauben, dass die Dümminger keine Möglichkeit hatten, etwas dagegen zu sagen und es ihm übel zu nehmen. Was kann es einen schließlich kümmern, wenn jemand irgend welchen Nutzen hat, bei dem man selber kein Geld zusetzt? Aber – sie waren damit sehr unzufrieden. Man höre, es ist rein wie eine Geschichte aus Sodom. Und was war der Grund? Das wissen wir bis heute noch nicht. Es gibt sogar ein ausdrückliches Gesetz gegen solche Unbill. Das Gericht wäre eigentlich verpflichtet gewesen, ihnen zwangsweise und mit Gewalt den Mund zu stopfen, sie an allen Vieren wie das liebe Vieh zu binden und sie dann so vor ihn hinzulegen: »Hier, schreibe, bitte! Schildere sie zu deinem eigenen Vergnügen und zum Vergnügen des Publikums.« Aber er selbst hatte sie schon links liegen lassen. Warum? Erstens kam da wirklich die Pflicht des Mitleids in Frage – man darf ja keinem lebenden Wesen, nicht einmal einem Floh, wehe tun. Zweitens bekam er es wirklich einfach satt, sich immer mit den Dümmingern abzugeben; auch an Krapfen überisst man sich. Und drittens muss ja alles einmal ein Ende haben.

Reb Schloime bemerkte sehr wohl, dass der Quell, aus dem er schöpfte, langsam – um Vergebung! – faulig und stinkend zu werden und von verschiedenen kleinen Wesen zu wimmeln begann, mit denen zu beschäftigen es sich nicht verlohnte. Auch hörte er, dass sich ganz neuartige Kreaturen gezeigt hätten, die Klügelstädter, deren Aussehen auf den ersten Blick dem der früheren glich, die aber doch anders, eine bisher noch nicht genügend auf Wesen und Weise untersuchte Art von Chamäleonen wären; sie wären sehr merkwürdig, verlangten alles zu wissen und nach seiner Natur zu ergründen; es stünde zu hoffen, dass mit der Zeit der Forscher käme, dem es beschert wäre, sie gründlich zu untersuchen und die Welt mit ihnen bekannt zu machen. Darum gab Reb Schloime seine Dümminger preis, ließ sie laufen und verließ Dümmingen.

Ob Reb Schloime von den Klügelstädtern freudig begrüßt worden und ob er Freude an ihnen gehabt hatte, wie lange er bei ihnen geblieben war, wie weit er sich mit den sonderbaren Wesen beschäftigt hatte und ob es ihm gelungen war, sie gründlich kennenzulernen, wusste ich nicht. Möglich, dass auch sie ihm zum Überdruss wurden und er lieber einem Aas die Haut abgeschunden hätte, als mit ihnen zu tun zu haben. Aber das wusste ich bestimmt, dass er heute in Schwarza eine eigene jüdische Schule hatte.

Nach dem schweren Weg durch Regen und Schnee tappte ich mich in der Finsternis an eine Tür heran und kam mit Gottes Hilfe sehr respektvoll in ein Vorhaus hinein. Selbstverständlich ging ich von hinten durch die Küche, wie es ein Jude mit Lebensart zu tun pflegt.

Der Jude kommt – so ist es Brauch – ganz leise und demütig gebückt zur Tür herein, kaum dass man einen Laut hört. Und plötzlich steht er, wie aus der Erde gewachsen, vor dem Hausherrn, um ihn plötzlich zu erwischen, bevor er Zeit zur Flucht findet, recht wie der Bär, »der da luget nach Beute, die er zerrisse«.

Diese jüdische Eigenart ist ein Denkmal der schweren Armut, die uns seit unvordenklichen Zeiten im Exil drückt. Seit die Schnorrer erschienen sind, seit der Nehmer mehr sind als der Geber, begannen sie, auf der Suche nach Brot in den Häusern herumbettelnd, sich aller kunstvollen Jagdlisten der Jäger zu bedienen. Sie kamen immer von hinten, ganz leise, damit der arme, um sein Geld zitternde Hausherr keine Zeit zum Entrinnen habe. Und diese Art des Eintretens, ein geschlechterlanges Erbe, ist uns bis heute verblieben.

Eine Weile stand ich ganz still im Vorderzimmer, nestelte am Rock und an den Pejes, hob ein bisschen die Mütze, um das Käpplein darunter zurechtzurücken, wie man so zu tun pflegt, und blickte nebenbei rasch ein wenig ins nächste Zimmer. Dort saß man an einem langen, mit einem weißen...


Mendele, Moicher Sforim
Mendele Moicher Sforim (geb. 2. Januar 1836 in Kopyl bei Minsk; gestorben 8. Dezember 1917 in Odessa), eigentlich Scholem Jankew Abramowitsch, war ein vor allem jiddischer Schriftsteller. Er gilt als „Großvater“ der neujiddischen Literatur und hat ihr mit seiner geschliffenen Prosa Weltruf verschafft. Mendele ist, vor Scholem Alejchem (der sich stets als Mendeles „Enkel“ bezeichnet hat) und Jitzchok Leib Perez, der älteste der sogenannten drei Klassiker der jiddischen Literatur.



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