E-Book, Deutsch, 575 Seiten
Mereschkowski Peter und Alexej
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-3159-8
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 575 Seiten
ISBN: 978-3-8496-3159-8
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der dritte Band der Trilogie 'Christ und Antichrist' spielt in Russland zur Zeit Peters des Großen. Dieser wird beim Volk ob seiner immer stärker werden Versuche der Europäisierung immer unbeliebter und schließlich sogar für den Antichrist gehalten.
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"Ich habe eine Venus gekauft," meldete Beklemischew aus Italien dem Zaren. "In Rom wird sie sehr hoch geschätzt. Sie steht der berühmten Florentinischen (Mediceischen) in nichts nach, ist eher schöner als diese. Man fand sie bei einfachen Leuten. Sie wurde beim Ausheben des Grundes zu einem neuen Hause ausgegraben. Zweitausend Jahre hat sie in der Erde gelegen. Lange Zeit hatte sie der Papst in seinem vatikanischen Garten stehen. Ich verheimlichte sie vor Liebhabern. Ich fürchte, daß die Ausfuhr Schwierigkeiten machen wird. Sie gehört aber schon Eurer Majestät."
Peter unterhandelte durch seinen Bevollmächtigten Sawwa Ragusinskij und durch den Kardinal Ottobani mit dem Papste Clemens XI. wegen der Erlaubnis, die von ihm erworbene Statue nach Rußland ausführen zu dürfen. Der Papst wollte lange keine Genehmigung erteilen. Endlich erhielt man sie nach langen diplomatischen Kunstgriffen und Listen.
"Herr Kapitän," schrieb Peter an seinen Wiener Gesandten Jagushinskij, "die schönste Statue der Venus soll aus Livorno zu Wagen nach Innsbruck gebracht werden, und von da mit einem eigenen Begleiter die Donau abwärts nach Wien, an deine Adresse. Und da die Statue, wie es dir bekannt ist, auch dort sehr hochgeschätzt wird, sollst du in Wien ein Wagengestell auf Federn machen lassen, auf dem man sie unbeschädigt nach Krakau bringen kann; von Krakau kann man sie aber wieder zu Wasser weiterschicken."
Auf Meeren und Flüssen, über Berge und Täler, Städte und Steppen und schließlich auch durch armselige russische Dörfer, Urwälder und Sümpfe, überall durch den willen des Zaren sorgsam behütet, bald auf Wasserwellen und bald im federnden Wagen schaukelnd, machte die Göttin in ihrem dunklen Kasten wie in einer Wiege oder einem Sarge ihre lange Reise aus der Ewigen Stadt nach der neugegründeten Siedlung Petersburg.
Endlich war sie glücklich angelangt. So sehr auch der Zar wünschte, die Statue, von der er so viel gehört und die er so lange erwartet hatte, so bald wie möglich zu sehen, überwand er doch seine Ungeduld und beschloß, den Kasten nicht vor dem ersten feierlichen Erscheinen der Venus beim Feste im Sommergarten zu öffnen.
Schaluppen, Ruder- und Segelboote, Ewer und andere "neumodische Schiffe" landeten vor der hölzernen Treppe, die direkt ins Wasser hinabführte, und hielten an den am Ufer eingerammten Pfosten mit den Eisenringen. Die Ankommenden stiegen aus den Booten und gingen die Treppe zur mittleren Galerie hinauf, wo im Lichte der Illumination bereits eine geputzte Menge wogte, rauschte und sich hin und her bewegte: Kavaliere in bunten seidenen und samtenen Röcken, Dreimastern, mit Degen an der Seite, in Strümpfen und Schnallenschuhen mit hohen Absätzen, in üppigen pyramidalen schwarzen, blonden, seltener gepuderten Perücken mit unnatürlich reichen Locken; die Damen in ungemein weiten runden mit Fischbein versteiften Reifröcken "nach der neuesten Mode von Versailles", mit langen Schleppen, mit Schönheitspflästerchen auf den geschminkten Gesichtern, mit Spitzenhauben, Federn und Perlen im Haar. In dieser glänzenden Menge sah man aber auch gewöhnliche Militäruniformen aus grobem Soldatentuch und sogar Matrosen- und Schifferjoppen, nach Teer riechende Stiefel und lederne Südwester der holländischen Seeleute.
Die Menge machte einem seltsamen Zuge Platz: kräftige Heiducken und Grenadiere des Zaren trugen auf ihren Schultern mit sichtbarer Mühe, unter der schweren Last gebückt, einen langen, schmalen, schwarzen Kasten, der wie ein Sarg aussah. Nach der Länge des Sarges zu urteilen, mußte die Leiche von übermenschlichem Wuchs sein. Der Kasten wurde auf den Boden gesetzt.
Der Zar begann ganz allein, ohne fremde Hilfe, ihn zu öffnen. Die Zimmermanns- und Schreinerwerkzeuge flogen in den geübten Händen Peters nur so hin und her. Er hatte große Eile und zog die Nägel mit solcher Ungeduld heraus, daß er sich an einem von ihnen die Hand blutig ritzte.
Alle drängten sich ringsherum, stellten sich auf die Fußspitzen und blickten neugierig einander über die Schultern und Köpfe.
Der Geheime Rat Pjotr Andrejitsch Tolstoi, der viele Jahre in Italien gelebt hatte, ein gelehrter Mann und obendrein ein Dichter – er war der erste russische Übersetzer der Metamorphosen Ovids – erzählte den Damen und jungen Mädchen, die sich um ihn drängten, von den Ruinen eines alten Venustempels:
"Als ich einmal auf der Durchreise in Castello di Bajä bei Neapel war, sah ich dort einen Tempel dieser Göttin Venus. Die Stadt ist ganz zerstört, und die Stelle, wo sie einst gestanden, mit Wald bewachsen. Der Tempel ist aus Backsteinen erbaut; er ist mit hohen Säulen geschmückt und von schöner Architektur. An den Gewölben sind zahllose unsaubere Götter dargestellt. Ich sah dort auch andere Tempel – der Diana, des Merkur und des Bacchus, denen der verdammte Tyrann Nero Opfer darbrachte; für diese seine Liebe zu ihnen befindet er sich jetzt mit ihnen zusammen in der Hölle ..."
Pjotr Andrejitsch öffnete eine Perlmuttertabatiere, auf deren Deckel drei Schäfchen und ein Schäfer, der einer schlafenden Schäferin den Gürtel löst, dargestellt waren, reichte sie der niedlichen jungen Fürstin Tscherkasskaja, nahm selbst eine Prise und fügte schmachtend hinzu:
"Bei meinem Aufenthalt in Neapel war ich, wie ich mich noch ganz genau entsinne, in eine gewisse schöne Cittadina Franceska inamoriert. Sie kostete mich über zweitausend Dukaten. Auch heute noch wohnt jenes Amore in meinem Herzen ..."
Er sprach so gut italienisch, daß seine russische Rede immer mit lateinischen Brocken durchsetzt war; er sagte inamoriert statt verliebt und Cittadina statt Bürgermädchen.
Tolstoi war ein Siebziger, war aber noch so kräftig, rüstig und frisch, daß er wie ein Fünfziger aussah. Was die Galanterie gegen Damen betraf, so konnte er darin, nach einem Ausspruche des Zaren, "alle jungen Venusjäger in den Sack stecken". Er fiel durch die samtene Weichheit seiner Bewegungen auf, durch seine samtweiche Stimme, sein samtzartes Lächeln und seine samtnen, ungewöhnlich dichten und schwarzen, wahrscheinlich gefärbten Brauen. "Er ist ganz wie Samt, hat aber doch einen Stachel!" pflegte man von ihm zu sagen. Auch Peter selbst, der seine "Paladine" mit viel zu wenig Vorsicht behandelte, sagte: "Wenn man mit Tolstoi zu tun hat, soll man im Busen einen Stein bereit halten." Dieser "elegante und exzellente Herr" hatte manche dunkle, böse und sogar blutige Tat auf dem Gewissen. Aber er verstand es, alle Spuren zu verwischen.
Nun krümmten sich die letzten Nägel, das Holz knarrte, der Deckel ging in die Höhe, und der Kasten war geöffnet. Zuerst sah man etwas Graues und Gelbes, das wie der Staub vermoderter Gebeine aussah. Es waren Hobel- und Sägespäne von Fichtenholz, Filz- und Wollabfälle, in die man die Statue gebettet hatte, damit sie es weicher habe.
Peter wühlte mit beiden Händen herum, tastete endlich den Marmorleib und rief voller Freude aus:
"Da ist sie, da ist sie!"
Das Zinn zum Verlöten der Eisenklammern, die den Sockel mit der Statue verbinden sollten, wurde bereits geschmolzen. Der Architekt Leblond machte sich mit großem Eifer an einer Art Aufzugsmaschine mit kleinen Leitern, Tauen und Flaschenzügen zu schaffen. Zuerst mußte man aber die Statue mit den Händen aus dem Kasten heben.
Diener halfen Peter bei dieser Arbeit. Als aber einer von ihnen mit einem unziemlichen Scherzwort die "nackte Dirne" an einer unpassenden Stelle berührte, gab ihm der Zar eine solche Ohrfeige, daß alle sofort einen großen Respekt vor der Göttin bekamen.
Die wollenen Flocken fielen wie Klumpen grauer Erde vom glatten Marmor herab. Und nun entstieg die Göttin, wieder zu neuem Leben erwacht, wie vor zweihundert Jahren in Florenz, ihrem Sarg.
Die Stricke wurden angezogen, die Flaschenzüge knirschten. Sie stieg immer höher empor. Peter stand auf einer Leiter, um die Statue auf dem Sockel zu befestigen, und hielt sie dabei mit beiden Armen umfangen.
Leblond, der eine klassische Bildung genossen hatte, sagte unwillkürlich: "Die Venus in den Armen des Mars!"
"So hübsch sind sie beide," rief ein junges Hoffräulein der Kronprinzessin Charlotte, "daß ich an Stelle der Zarin eifersüchtig werden würde!"
Peter war beinahe ebenso übermenschlich groß wie die Statue. Und sein Menschengesicht bewahrte seinen Adel auch neben dem göttlichen Antlitz: der Mensch war der Göttin würdig.
Sie schwankte noch zum letztenmal, erzitterte und blieb plötzlich regungslos aufrecht auf dem Sockel stehen.
...