Merkel | Das Gefühl am Morgen | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 128 Seiten

Merkel Das Gefühl am Morgen

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403354-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 128 Seiten

ISBN: 978-3-10-403354-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Rainer Merkel erzählt die Geschichte eines Mannes und einer Frau, deren Liebe zwischen Rausch und Zögern schwankt, die Geschichte einer lauernden und zärtlichen Annäherung, die Geschichte einer Liebe. Und bis zum Schluss ist er sich sicher: Er wird sich nicht verzaubern lassen. Eine Geschichte über die Faszination, dass die Liebe ist, wie sie ist, und die Angst, dass es so bleiben könnte.

Rainer Merkel, 1964 in Köln geboren, hat Psychologie und Kunstgeschichte studiert und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2009 arbeitete er für Cap Anamur im einzigen psychiatrischen Krankenhaus Liberias. Es erschienen die Romane »Das Jahr der Wunder«, für den er den Preis der Jürgen Ponto-Stiftung erhielt, »Das Gefühl am Morgen«, »Lichtjahre entfernt«, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, »Bo«, »Stadt ohne Gott« und die Reportagen »Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan« und »Go Ebola Go. Eine Reise nach Liberia«. 2013 wurde Rainer Merkel mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet. Literaturpreise: Literaturförderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2001 Erich Fried-Preis 2013
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1


Irgendetwas war falsch an der Art, wie sie sich bewegte. Sie hatte etwas Übertriebenes an sich. Ihre Bewegungen hatten einen falschen Rhythmus, als verspätete er sich, folgte ihr, während sie schon vorneweg lief. Sie ging durch den Flur. Er erstreckte sich über eine Länge von zehn Metern. Es war ein schlichter, schmuckloser Gang. Am Ende des Gangs war Licht. Eine Tür stand offen. Nachher erzählte sie es ihm. Es war ein paar Monate später, als ihnen nach einer endlosen Autobahnfahrt, in den frühen Morgenstunden der Gesprächsstoff ausging.

»Es war gar kein Zufall«, sagte sie. »Ich war einfach nur ein bisschen neugierig.« Sie sagte es so, als sei es ein Geschenk, über das er dankbar sein musste. Er wollte es nicht hören, aber sie erzählte es trotzdem. Sie sei bis zum Ende des Gangs gelaufen, weil sie gedacht hatte, dass dort jemand war, der vielleicht Hilfe brauchte.

»Ich war erleichtert, dass mit dir alles in Ordnung war, obwohl ich dich ja noch gar nicht kannte.« Sie lief auf Zehenspitzen. Sie hatte sich die Schuhe ausgezogen, um keinen Lärm zu machen.

»Du dachtest immer, ich hätte mich in der Tür geirrt, oder? Aber das stimmt nicht.« Er erinnerte sich an die Stille und Abgeschlossenheit des Zimmers, er hatte das Gefühl, dass er sich dort in der letzten Nacht nach den Wochen, während derer er mit niemandem gesprochen hatte, von allen verabschiedete.

»Was hast du denn gedacht, als du mich das erste Mal gesehen hast?«, fragte sie. Es war östlich von Hannover, fünf Stunden vor Berlin. Sie schaute angestrengt aus dem Fenster, den Film aus Nieselregen und Spritzwasser vor Augen, der in sanften Fontänen vor der Fensterscheibe aufschäumte. Sie näherten sich der Grenze. Der Regen nahm zu, und er dachte, dass es am Kontrollpunkt bestimmt einen Stau geben würde.

»Ist das nicht komisch?«, sagte sie und schaute in den Nebel. »Wie du da am Schreibtisch gesessen hast. Er sah so aus, als würdest du ein Geständnis aufschreiben.«

Er dachte, es wäre etwas Großzügiges, die Tür offen stehen zu lassen. Etwas Luxuriöses. Im letzten Moment hatte sie die Schuhe übergestreift und wäre im Schwung der Bewegung beinahe vornüber gefallen.

»Wohnst du hier?«, fragte sie. Sie stand im Türrahmen direkt vor ihm. Er kehrte in seiner Erinnerung immer wieder dahin zurück. Er wusste nicht, ob er in diesem Moment glücklich oder unglücklich war.

»Schläfst du immer bei offener Tür?«, fragte sie.

»Ich schlafe ja noch gar nicht«, sagte er.

»Nein?«

»Ist das denn gefährlich?« Er betrachtete das geometrische Muster ihres Pullovers. Es bestand aus mehreren, viereckigen Feldern, die sich an den Rändern leicht überlappten.

»Und wenn jemand hereinkommt?«

»Willst du denn hereinkommen?«

»Ich schaue nur. Was liest du denn da?« Das Licht der Schreibtischlampe fiel auf die aufgeschlagenen , die ihm sein Vater geschenkt hatte. Er las über eine komplizierte Reise zu einem indianischen Stamm in Brasilien, bei der die Expedition die Ankunft von Ersatzteilen abwarten und für Tage und Wochen am Rand eines ausgetrockneten Flussbettes ausharren musste. Zwei noch nicht eingelöste Schecks waren im Buch versteckt, zwischen den hintersten Seiten, im Literaturverzeichnis, wo man sie nicht so leicht finden konnte. Er schaute auf ihre Füße.

»Und wenn ich doch reinkomme?«, fragte sie. Lukas stand auf.

»Jetzt?«

»Ein anderes Mal vielleicht.«

»Ich bin nur noch eine Nacht hier«, sagte er. »Meine neue Wohnung wird gerade renoviert.« Er erinnerte sich an den Moment der Annäherung. Wie er zu ihr hinübergegangen war. Es war nur ein halber Meter.

»Es gibt dieses Schlangenritual«, sagte er, »sie versuchen Regen zu machen. Kennst du es?« Er lehnte sich neben sie, tastete die weiß gestrichene Wand ab.

»Ich finde es am besten, wenn es regnet«, sagte sie.

»Sie tun so, als wäre die Schlange ein Blitz, den man mit den Händen … Aber man kann ja den Blitz nicht einfach vom Himmel herunterholen. Vielleicht ist das ja die Idee, und eine Provokation der Natur.« Er lächelte sie an. Er versuchte sich alles zu merken, ihr Schwanken, ihre leichte Schwerfälligkeit. Sie war sehr groß.

»Weißt du«, sagte er, er zwängte sich durch den Türrahmen, »es ist doch noch gar nicht so spät, oder?«

»Es ist halb zehn.«

»Viel zu früh.«

»Zu früh, für was?«

»Zu früh, um schlafen zu gehen.«

»Ich bin ziemlich müde.« Sie hatte immer noch ihre Schuhe nicht richtig angezogen.

»Liest du viel?«, fragte sie.

»Nur so zum Spaß. Ich versuche eine andere Perspektive einzunehmen. Also aus der Sicht von Primitiven auf mein Leben zu schauen. Ob es funktioniert. Zum Beispiel eine Geschäftsidee. Verstehst du?« Sie lächelte. Richtig lachen konnte sie nicht. Einmal sagte sie: »Ich studiere nicht richtig. Nur .« Als wäre das ein Urteil.

»Sollen wir spazieren gehen?«, fragte er.

Sie bewegte sich langsam, fast träge. Es war nur ein paar Minuten später, als sie am Ende der Grünanlage einen kleinen Birkenhain erreichten. Wie in Tücher gepackt standen die Bäume im Dunkel um sie herum. Sie erzählte von ihrer Mutter, die in Kassel ein kleines Reisebüro betrieb. »Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich an sie denke«, sagte sie. Jeden Tag stand sie um sechs Uhr auf, um eine Stunde lang zu ihrem Geschäft zu fahren, und abends fuhr sie eine Stunde wieder zurück. Sie lebte in einem Vorort. Das Schlimmste sei die Dunkelheit, wenn ihre Mutter am frühen Morgen das Haus verließ.

»Du kannst ja mal zu Besuch kommen, wenn du in Kassel bist«, sagte sie.

»Ist denn dieses Jahr nicht die Documenta?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie.

Sie liefen nebeneinander. Er war froh, dass man das Muster ihres Pullovers nicht mehr so gut sehen konnte.

»Normalerweise mache ich so etwas nicht«, sagte sie.

»Was?«

»Nachts hier so herumlaufen.« Sie hatte die Arme verschränkt. Lukas lief immer einen Schritt voraus.

»Darf ich dich etwas fragen?« Sie standen auf einem schmalen Steinplattenweg. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Kannst du nicht den Pullover ausziehen?«

Er war stolz, mit welcher Selbstverständlichkeit sie in seinen Wagen stieg. Sie wollte nichts trinken, nur ein bisschen herumfahren. Er kannte sich im Süden von Berlin nicht aus, und es war schwierig etwas zu finden, was ihr gefiel. Der Pullover lag auf dem Rücksitz, und sie behauptete, es sei ihr ohne den Pullover zu kalt. Sie sagte: »Ich gehe nie aus. Das ist doch Zeitverschwendung.« Oft gab sie gar keine Antwort, und er dachte, er müsse irgendetwas Besonderes sagen, um sie aus der Reserve zu locken.

»Wir könnten bis zur Mauer fahren«, sagte er. »Die Grenzer in ihren Wachtürmen machen bestimmt ein Foto von dir. Würdest du das erlauben?« Sie schüttelte den Kopf.

»Naja, ich könnte sie mal fragen. Ich wende mich nach ganz oben, an die höchste Stelle.«

»An wen?«

»Naja. Ich bete darum, dass er mir hilft.«

»Wer?«

»Gott.«

Sie lachte.

»Ich sage: Bitte hilf mir … Bitte hilf mir, dass mich die Frau, die ich bewundere, erhört.«

»Wer? ?«

»Ja. Ich sage es ganz leise. Ich flüstere es. Als Kind habe ich das immer so gemacht. Vor dem Einschlafen. Ich habe gesagt. Lieber Gott, bitte mach, dass ich morgen krank bin. Ich stehe dann auch ganz früh auf. Danach habe ich mich sofort entschuldigt.«

»Aber du kennst mich doch gar nicht.«

»Ich bete ja auch erst später.«

Sie lehnte den Kopf ans Seitenfenster. Er fürchtete, dass sie vielleicht einschlafen könnte.

Sie fuhren zu einer Bar in Steglitz, blieben aber nicht lange. Eine halbe Stunde saßen sie in einem Restaurant, ohne etwas zu essen. Laura hatte Angst, dass die Kellnerin eine Kommilitonin sein könnte. Nach zwei weiteren Versuchen, in der näheren Umgebung, bei denen die Kneipen, die er sich ausgesucht hatte, schon geschlossen waren, kehrten sie wieder ins Studentendorf zurück. Sie saßen in der Küche. Es war ein großer neonerhellter Raum. Er versuchte Zeit zu gewinnen. Beim Spazierengehen hatten sie einen Pilz gefunden, und sie verbrachten eine Weile damit, den Pilz zu betrachten und zu überlegen, ob er giftig sei.

»Der ist bestimmt verstrahlt«, sagte er. Er nahm einen Kugelschreiber aus der Tasche und drehte ihn zur Seite.

»Er hat ein Gedächtnis«, sagte sie. Sie schaute auf den Pilz. Die cremefarbenen Lamellen waren so weich, dass er den Kugelschreiber wieder zur Seite legte.

»Und wenn wir ihn essen?«, fragte sie.

»Hast du keine Angst?«

»Doch.« Sie verzog das Gesicht.

»Wenn er älter als ein Jahr ist, dann ist er ungefährlich.« Auf einmal war er begeistert, dass er sie selbst im grellen Küchenlicht noch attraktiv fand. Er rückte etwas näher.

»Ich weiß gar nicht, was du überhaupt von mir willst«, sagte sie plötzlich. Er legte seine Hände über den Pilz.

»Es ist nur so eine Technik, eine Methode.«

»Was?«

»Dass ich bete.« Er sah sie vorsichtig an und dachte, sie würde schon sehen, wie verletzlich und gehetzt er war.

»Ich finde das unheimlich«, sagte sie. »Aber du meinst es nicht so, oder?«

Er hielt so lange durch, bis sie zu erschöpft war, um Widerstand zu leisten. Ihre Haare, die er unzählige Male berührt, glatt gestrichen, betastet und untersucht hatte, lagen als Erinnerung noch Tage lang zwischen seinen Fingern. In Gedanken stellte er sie wie ein Puppe vor sich hin und versuchte die richtigen...


Merkel, Rainer
Rainer Merkel, 1964 in Köln geboren, hat Psychologie und Kunstgeschichte studiert und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2009 arbeitete er für Cap Anamur im einzigen psychiatrischen Krankenhaus Liberias. Es erschienen die Romane 'Das Jahr der Wunder', für den er den Preis der Jürgen Ponto-Stiftung erhielt, 'Das Gefühl am Morgen', 'Lichtjahre entfernt', der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, 'Bo', 'Stadt ohne Gott' und die Reportagen 'Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan' und 'Go Ebola Go. Eine Reise nach Liberia'. 2013 wurde Rainer Merkel mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet.

Literaturpreise:

Literaturförderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2001
Erich Fried-Preis 2013

Rainer MerkelRainer Merkel, 1964 in Köln geboren, hat Psychologie und Kunstgeschichte studiert und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2009 arbeitete er für Cap Anamur im einzigen psychiatrischen Krankenhaus Liberias. Es erschienen die Romane 'Das Jahr der Wunder', für den er den Preis der Jürgen Ponto-Stiftung erhielt, 'Das Gefühl am Morgen', 'Lichtjahre entfernt', der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, 'Bo', 'Stadt ohne Gott' und die Reportagen 'Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan' und 'Go Ebola Go. Eine Reise nach Liberia'. 2013 wurde Rainer Merkel mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet.

Literaturpreise:

Literaturförderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2001
Erich Fried-Preis 2013



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