Merkel | Das Jahr der Wunder | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Merkel Das Jahr der Wunder

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403265-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-10-403265-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die undurchsichtigen Anforderungen des Berufslebens: Christian versucht sich in einer jungen, aufstrebenden Agentur. Er verzagt, er hofft, er beschließt, glücklich zu werden, und erlebt so den Traum der schönen neuen Arbeitswelt. Die Suche nach dem Glück in Zeiten der New Economy: Christian soll sich in einer Multimedia-Agentur Werbung für eine Bausparkasse einfallen lassen. Auf die Agentur ist er stolz, die Sparkasse ist ihm peinlich. Es ist sein erstes Projekt und er hat zwölf Monate Zeit. Er verzagt, er hofft und er beschließt, glücklich zu werden. Es wird ein Jahr der Wunder. Christian schlittert überfordert und doch nicht ungeschickt durch die undurchsichtigen Anforderungen des Berufslebens. Die junge, aufstrebende Agentur, in der er arbeitet, scheint kaum Hierarchien zu kennen, stattdessen dominiert eine allgemeine Begeisterung und der Glaube, Teil einer medialen Revolution zu sein. Die neue Form des Opportunismus heißt hier Opposition, die neue Form des Mitläufertums heißt Kreativität. Gudula heißt die Kollegin, die ihm zeigt, wie Teamarbeit wirklich funktioniert. Titus ist Christians Freund, er ist schnell, phantasievoll und schlagfertig, eigentlich ist er ein Künstler, sagt er, und benimmt sich auch so. Grassi ist Christians Chef und will wissen, ob ihn die Arbeit glücklich macht. Wosch ist auch sein Chef, will aber eigentlich ein Kinderbuch schreiben. Christian schlägt sich durch und versucht verzweifelt das Unmögliche: glücklich und zugleich erfolgreich zu sein. Er fühlt sich als Mitglied der Agentur bestätigt und sieht seine Zukunft in strahlendem Licht. Aber das Jahr der Wunder geht zu Ende. Rainer Merkels witziger und bissiger Roman zeichnet ein Bild vom Perpetuum mobile der Dienstleistungsgesellschaft, vom Traum der schönen neuen Arbeitswelt.

Rainer Merkel, 1964 in Köln geboren, hat Psychologie und Kunstgeschichte studiert und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2009 arbeitete er für Cap Anamur im einzigen psychiatrischen Krankenhaus Liberias. Es erschienen die Romane »Das Jahr der Wunder«, für den er den Preis der Jürgen Ponto-Stiftung erhielt, »Das Gefühl am Morgen«, »Lichtjahre entfernt«, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, »Bo«, »Stadt ohne Gott« und die Reportagen »Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan« und »Go Ebola Go. Eine Reise nach Liberia«. 2013 wurde Rainer Merkel mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet. Literaturpreise: Literaturförderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2001 Erich Fried-Preis 2013
Merkel Das Jahr der Wunder jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


2


Eine große Stille breitet sich aus, als ich den Eingangsbereich verlasse und das Foyer betrete. Im ersten Moment denke ich noch, das Foyer ist viel zu groß, und ich bin gar nicht bei GFPD. Wie der Raum vor meinen Augen nach oben steigt, mich mit seinem Volumen empfängt. Bläuliche Milchglasscheiben wachsen in die Höhe, das Licht kommt in einer großen ausholenden Bewegung auf mich zu. Das ist der erste Eindruck. Der Eindruck des Schwebens, wie das Licht auf mich zukommt und sich mit mir vermischt, wie es mich durchdringt. Wir bilden ein schwebendes, diffuses Gewebe, und ich mache einen Schritt nach vorne, tastend und vorsichtig. Die Frau am Empfangstresen lächelt mir zu. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, für einen kurzen Moment, einen Augenblick der Verwirrung. Im Nachhinein versuche ich mich immer wieder daran zu erinnern, was ich in diesem Moment gedacht habe oder ob ich am Ende vielleicht gar nichts gedacht habe. Ich laufe auf Wosch und Steinfeld zu, die beiden Mitarbeiter von GFPD, die als dunkle, leicht verschwommene Silhouetten nach einer Weile im Foyer auftauchen, um mich abzuholen. Wosch kneift die Augen zusammen und zwinkert mir zu. Sie gehen vor mir her, nebeneinander, in einer mechanischen Eleganz, wie zwei Portalfiguren, die sich auf einmal in Bewegung gesetzt haben. Ich versuche den obersten Hemdknopf zu öffnen, aber es gelingt nicht, er ist wie angewachsen. Für einen Moment verliere ich beinahe die Nerven, im Spiegel auf der Mitarbeitertoilette konnte ich mich nicht durchringen, ihn zu öffnen, tupfte mir nur ein bisschen Wasser auf die Stirn und zog Grimassen, mit denen ich mir Mut zu machen versuchte. Wosch dreht sich ein paar Mal um und grinst mir zu. Der Konferenzraum befindet sich in der hintersten Ecke der Agentur. Es stehen sogar Blumen auf dem Tisch, ein Strauß mit gelben Hyazinthen, und ich muss mich gegen die Vorstellung wehren, sie seien eigens zu meiner Begrüßung aufgestellt. Das ist es, was ich nicht vergessen darf. Dass ich überhaupt noch gar nicht da bin. Ich bin unterwegs, ich befinde mich in einem Zustand des Übergangs. Titus kommt später noch dazu, sagt Wosch, aber ich habe das Gefühl, dass er mich lieber alleine lassen und sich nicht einmischen will. Meine Hände halte ich unter dem Tisch und lege sie nur ganz selten, und wenn, dann einzeln und mit zärtlicher Aufmerksamkeit, auf die Tischplatte, vorsichtig, um keine Spuren zu hinterlassen. Ich habe mir vorgenommen, bei allem, was Wosch und Steinfeld sagen, den Eindruck zu erwecken, es sei mir schon bekannt, ich hätte schon davon gehört. »Es ist mir schon seit langem bekannt.« Oder: »Davon habe ich erst neulich gehört. Das ist ja eine alte Geschichte.« Manchmal blinzele ich mit den Augen, als sei mir alles ein bisschen zu viel, als sei meine Zeit nur begrenzt und mein Bedürfnis, sofort weiterzuarbeiten und keine Zeit zu verlieren, sehr groß. Manchmal wiederhole ich einfach das, was Wosch oder Steinfeld gesagt haben. Ich zitiere sie oder gebe das, was sie sagen, in Zusammenfassungen wieder oder versuche, mit geschickten Wiederholungen dem Gesagten eine neue Wendung zu geben. Als Steinfeld von der geplanten CD-ROM spricht und auf einmal den Ausdruck »Terminal« benutzt, die Formulierung, »die Terminals werden auch von ungeschulten Benutzern bedient«, wiederhole ich es einfach und sage: »Die Terminals werden also von ungeschulten Benutzern bedient? Das ist natürlich ein .« Wosch lehnt sich zurück. Er grinst, wie er überhaupt nach jedem Satz grinst, während Steinfeld keine Miene verzieht. Wosch ist lässig, jungenhaft, entspannt. Er erinnert mich an eine Figur aus einem Enid-Blyton-Roman, den ich als Kind gelesen habe, einen Jungen, der sich mit seinen Freunden in einer Höhle versteckt, während die Verbrecher in den Tiefen des Berges herumirren, um einen Schatz zu finden, der ihnen nicht gehört. Vorsichtig nähere ich mich dem obersten Hemdknopf, Knopf für Knopf, ich fange in Bauchhöhe an, überprüfe jeden einzelnen und taste mich dann langsam nach oben. Steinfeld faltet die Hände. Im Nachhinein denke ich, dass es eine besondere Ehre ist, dass sie mit mir sprechen und dass sie es vielleicht nur tun, weil ich mit Titus befreundet bin. Titus hat gesagt, dass es um eine Bausparkasse geht, was sich im ersten Moment etwas exotisch anhört. Ich versuche mir ein paar Formulierungen zu merken. »Materialdefinition«, »Grobkonzept«, »Touch-Screen«. Manchmal kann ich der Versuchung nicht widerstehen, mich nach Titus umzudrehen, ob er vielleicht mit im Raum ist oder gerade hereinkommt oder am Ende sogar die ganze Zeit, ein Gedanke, den ich mir aber sofort verbiete, unter dem Tisch sitzt und mir die Daumen drückt.

»Das ist es ja gerade. Dass alles offen bleiben soll«, sagt Steinfeld. Er hat einen leichten Glanz auf der Stirn, so als würde er auf eine dezente und eingeübte Art schwitzen. »Du sollst dich überhaupt nicht festlegen. Es ist so, als hättest du von alledem hier«, er macht eine weit ausholende Bewegung, »keine Ahnung. Du stellst es dir einfach vor.« Für einen Moment weiß ich nicht, was ich antworten soll. Ich denke daran, wie mir Titus ein paar Mal erklärt hat, was er bei GFPD überhaupt macht und was er unter »Interaktion« versteht. Dass man sich etwas besser merken kann, wenn man es gleichzeitig liest, hört und sieht. Es ist so, als wäre man am Meer. So wie sich der Horizont weitet und man das Gefühl hat, man würde auseinander gezogen zu einer weiten, gleichförmigen Fläche. Man weiß nie, wo man zuerst hinschauen und ob man nicht besser für immer stehen bleiben soll. Als wir damals in Wien waren, haben wir noch überlegt, ob wir nicht ans Meer fahren sollen, und ich denke manchmal daran, wie das gewesen wäre, dass es bestimmt großartig gewesen wäre. Aber wir konnten uns nicht dazu entschließen. Wir waren Zivildienstleistende, und das schlechte Gewissen, in einem Leihwagen unterwegs zu sein, begleitete uns die ganze Fahrt. Ich sehe noch immer das Bild eines mit offenen Türen am Meer stehenden Leihwagens vor mir und Titus und mich, wie wir langsam auf den Strand zulaufen. Titus sagt: »Du musst es als Raum sehen. Als Möglichkeit.« Wosch zieht die linke Augenbraue hoch. Er versucht mir ein bisschen Mut zu machen. Er ist eindeutig sympathischer als Steinfeld. Vielleicht ist er eine Art Animateur, verschwindet in dem Moment, in dem ich aufgenommen worden bin, und sagt leise »Goodbye«.

»Natürlich muss der Weltraumbezug vorhanden sein«, sagt Steinfeld. Er fixiert einen Punkt des Konferenztisches, spreizt die Finger und macht eine schnelle Aufwärtsbewegung mit der linken Hand.

»Wir haben diesen losen Bezug zu , womit wir natürlich einen gewissen Humor mit hineinbringen.« Wosch grinst.

»«, sage ich, »das ist ja eine alte Geschichte.«

Steinfeld und Wosch sehen mich gleichzeitig an.

»In diesem Punkt sind uns leider die Hände gebunden«, sagt Wosch. Er legt die Hände übereinander, so dass sich die Gelenke an den Pulsadern berühren, und grinst. Seine lässige Art ist geradezu berauschend, und ich muss aufpassen, dass ich nicht unvorsichtig werde. Sie fragen mit keinem Wort nach meiner Qualifikation, wer ich bin, was ich gemacht habe, ob ich mich mit den Medien, die zum Einsatz kommen sollen, überhaupt auskenne. In den Gesprächen mit Titus übernehme ich immer den Part des Zweiflers, des Häretikers, den Part des Alles-Durchdenkers. Vielleicht finden Wosch und Steinfeld Gefallen daran. Zum Beispiel: Er macht sich über alles Gedanken. Oder: Er gibt sich nicht mit einfachen Lösungen zufrieden.

»Der Weltraum darf natürlich keine Phantasmagorie sein«, sage ich.

Steinfeld sieht mich etwas irritiert an.

»Das ist ja genau der Punkt«, sagt er, »da stimmen wir wunderbar überein.«

»Bildlich gesehen kann er ja bei einigen Motiven schwarz sein.«

»Er ist unsichtbar«, sage ich und mache ein nachdenkliches Gesicht.

»Imaginär«, sagt Wosch.

»Dann wäre also in diesem Punkt die Gefahr gebannt«, sagt Steinfeld. Ich nicke nachdenklich, ein bisschen in mich versunken.

»Und was das Finanzielle angeht …«

Ich unterbreche Steinfeld, und zwar in höchster Eile. Es ist eine intuitive Reaktion, weil es mir auf einmal so vorkommt, als sei ich in dem einen oder anderen Punkt zu weit gegangen und hätte zu wenig Bereitschaft gezeigt, mich hier mit meiner ganzen Persönlichkeit einzubringen. Titus hat ein halbes Jahr ohne Bezahlung gearbeitet und nachts sogar unter seinem Schreibtisch geschlafen, bis er dann einen Vorstoß gewagt hat, der ihn allerdings gleich in eine, wie er sagt, höhere Sphäre befördert hat. Ich darf diesen Schritt nicht gleich am Anfang machen. Ich unterbreche Steinfeld. Ich lege Zeigefinger und Mittelfinger zwischen die beiden obersten Hemdknöpfe und senke den Kopf.

»Und was das Finanzielle angeht«, sage ich, »werden wir uns bestimmt einig. Da sehe ich keine Probleme.«

Steinfeld dreht sich zu Wosch, und für einen Moment klingt etwas Disharmonisches an, bleibt etwas fraglich und sonderbar. Ich denke an die Cola, die Beatrice, die Frau am Empfangstresen, mir angeboten hat und die vielleicht noch immer unangetastet im Foyer steht. Ich habe mich nicht getraut, einen Schluck zu trinken.

»Das ist jetzt wirklich deine Sache«, sagt Steinfeld. »Ich habe mit der Projektleitung doch gar nichts zu tun.« Sein Gesicht ist auf einmal ganz verzerrt. Ich frage mich, ob das ein Streitpunkt ist, unter dem hier alle mehr oder weniger leiden, mit dem alle klarkommen müssen, dass es in finanziellen Fragen Probleme gibt. Vielleicht nur kleine, unbedeutende Probleme, kleine atmosphärische Störungen, im Sinne von schwankenden...


Merkel, Rainer
Rainer Merkel, 1964 in Köln geboren, hat Psychologie und Kunstgeschichte studiert und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2009 arbeitete er für Cap Anamur im einzigen psychiatrischen Krankenhaus Liberias. Es erschienen die Romane 'Das Jahr der Wunder', für den er den Preis der Jürgen Ponto-Stiftung erhielt, 'Das Gefühl am Morgen', 'Lichtjahre entfernt', der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, 'Bo', 'Stadt ohne Gott' und die Reportagen 'Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan' und 'Go Ebola Go. Eine Reise nach Liberia'. 2013 wurde Rainer Merkel mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet.

Literaturpreise:

Literaturförderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2001
Erich Fried-Preis 2013

Rainer MerkelRainer Merkel, 1964 in Köln geboren, hat Psychologie und Kunstgeschichte studiert und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2009 arbeitete er für Cap Anamur im einzigen psychiatrischen Krankenhaus Liberias. Es erschienen die Romane 'Das Jahr der Wunder', für den er den Preis der Jürgen Ponto-Stiftung erhielt, 'Das Gefühl am Morgen', 'Lichtjahre entfernt', der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, 'Bo', 'Stadt ohne Gott' und die Reportagen 'Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan' und 'Go Ebola Go. Eine Reise nach Liberia'. 2013 wurde Rainer Merkel mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet.

Literaturpreise:

Literaturförderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2001
Erich Fried-Preis 2013



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.