E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Mertin / Müller / Lademann Edukative Aktivitäten und Interventionen in der Pflege
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-17-033794-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Chronisch Kranke beraten, anleiten, schulen
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-17-033794-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Edukative Aktivitäten zur Förderung des Selbstmanagements von Menschen mit chronischen Erkrankungen sind ein zentrales Aufgabenfeld der professionellen Pflege. Hierzu zählen die Förderung der Health Literacy, die strukturierte Schulung sowie die Stärkung der Selbstfürsorge. Auf der Basis von bezugs- und pflegewissenschaftlichen Theorien und Modellen sowie aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, erwirbt die Leserin/der Leser die Grundlagen von patientenzentrierten Beratungen, Anleitungen und Schulungen und kann dadurch die betroffenen Menschen in Belastungs-, Entscheidungs- oder Konfliktsituationen unterstützen. Durch die Gestaltung von edukativen Interventionen werden die Selbstpflegekompetenzen betroffener Menschen erweitert und stabilisiert, sodass ein Leben mit einer chronischen Erkrankung bewältigt werden kann.
Weitere Infos & Material
2 Health Literacy
Irene Müller
Moderne Gesellschaften sind von einem zunehmenden Grad an Komplexizität gekennzeichnet. Das betrifft auch das Gesundheitswesen. Es gibt eine Flut an Informationen zu gesundheits- und lebensstilbezogenen Fragen. Gleichzeitig werden Menschen in wachsendem Ausmaß herausgefordert, neben anderen Entscheidungen auch jene für einen gesunden Lebensstil zu treffen. Ein komplexer werdendes Gesundheitssystem hat durch die damit verbundene Spezialisierung viele Vorteile. Gleichzeitig wird es immer schwieriger für Menschen, jene Personen im Gesundheitswesen zu finden, die für eine spezifische Fragestellung die richtigen Ansprechpersonen sind. Dies wird auch für sehr gut ausgebildete Menschen eher schwerer als leichter. Daher soll dieses Kapitel für das Thema Health Literacy bzw. Gesundheitskompetenz sensibilisieren, damit besonders vulnerable Gruppen, wie z. B. chronisch kranke und/oder ältere Menschen leichter erkannt werden können. Schließlich wird auf verschiedene Vorgehensweisen zur Förderung von Health Literacy eingegangen. 2.1 Praxisbeispiel
Maria A. ist im vierten Semester ihres dualen Bachelorstudiums der Gesundheits- und Krankenpflege. Über den Sommer absolviert sie ihr Praktikum auf einer unfallchirurgischen Abteilung eines Krankenhauses. Seit zwei Tagen betreut Maria einen Patienten, der aufgrund einer schmerzhaften Knieverletzung aufgenommen wurde. Herr L. ist 42 Jahre alt, von Beruf Dachdecker und aufgrund der körperlichen Arbeit, die mit seiner beruflichen Tätigkeit verbunden ist, in einem sehr guten Trainingszustand. Darüber hinaus spielt er gerne Handball. Er sagte, dass er auf dem Dach abgerutscht sei, sich sein rechtes Kniegelenk verdreht und stechende Schmerzen im Kniegelenk verspürt hätte. Das Knie war gerötet, geschwollen und schmerzte sehr. Darüber hinaus konnte er sein rechtes Bein nicht mehr vollständig strecken oder beugen. Daher suchte er die Unfallambulanz auf. Dort wurde ein Verdacht auf einen Meniskusriss festgestellt und eine Arthroskopie des Knies vorgeschlagen, mit der Herr L. einverstanden war. Die Arthroskopie des Knies und des Meniskus ergab jedoch einen anderen Befund. Die Kniegelenksflächen waren mit Kristallen übersät. Es erhob sich der Verdacht auf eine Gicht. Daher wurde postoperativ der Harnsäurespiegel im Blut bestimmt. Ein normaler Harnsäurewert beträgt 2,5-6,5 mg/dl. Herr L. wies jedoch einen stark erhöhten Wert auf, nämlich 14,8 mg/dl. Daher erhielt er von der Stationsleitung einen Flyer, der alle relevanten Informationen zu Ernährung und der Wirksamkeit von Medikamenten (Urikostatika, Urikosurika) enthielt und in einer verständlichen Sprache verfasst war. Maria wollte bei Herrn L. einen Verbandswechsel am Knie durchführen und beobachtete, dass er zwei Brötchen mit je einer dicken Leberkäsescheibe aß, die ihm seine Frau mitgebracht hatte. Ihr fiel auf, dass die Patienteninformation auf dem Nachtschrank lag und Herr L. viele Fragen an Maria stellte. Er konnte sich nicht erklären, wie sein hoher Harnsäurespiegel entstanden sei. Herr L. fragte, was purinhaltige Nahrungsmittel seien, was er zukünftig essen oder trinken dürfe, welche Gefahren ein hoher Harnsäurespiegel nach sich ziehen könne und ob es neben den Medikamenten noch einen anderen Weg gäbe, den Harnsäurespiegel zu senken. Maria fragte ihn, ob er die Patienteninformation bereits gelesen hätte, da diese Fragen darin sehr umfassend und evidenzbasiert beantwortet worden seien. Herr L. sagte, dass er sie nicht gelesen hätte, da seine Frau die Brille zuhause vergessen hätte. Herr L. bat Maria darum, ihm seine Fragen zu beantworten, da er den Flyer ohne Brille nicht lesen könne. 2.2 Einführung
Lese- und Schreibkompetenz Der Begriff Health Literacy wurde in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts eingeführt. Health Literacy wird meistens auf Deutsch mit Gesundheitskompetenz übersetzt (Schaeffer & Pelikan 2017, S. 11). Das englische Wort Literacy steht für Lese- und Schreibkompetenz. Im weiteren Sinne werden darunter auch Kompetenzen wie sinnerfassendes Textverstehen, sprachliche Abstraktionsfähigkeit, Lesefreude, Vertrautheit mit Büchern bis hin zum kompetenten Umgang mit Medien subsumiert. Schaeffer und Pelikan (2017) führen an, dass Literalität als Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe verstanden und in verschiedenen Kontexten für alltagsrelevante Fähigkeiten verwendet wird. Menschen treffen jeden Tag Entscheidungen, die ihre Gesundheit beeinflussen können. Ein Beispiel hierfür sind Kaufentscheidungen und Konsumverhalten im Hinblick auf die Ernährung. Diesbezügliche Entscheidungen sind durch die ständige Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, die große Vielfalt des Angebotes und der Inhaltsstoffe (z. B. hoher Zucker-, Fett- und Salzgehalt) komplizierter geworden. Darüber hinaus werden diesbezügliche Entscheidungen durch Werbung positiv oder negativ beeinflusst. Vor allem Kinder können sich nicht davor schützen. Darüber hinaus können sie noch nicht entscheiden, inwiefern beispielsweise nicht-alkoholische Getränke und Lebensmittel mit hohem Zucker-, Salz- und Fettgehalt ihre Gesundheit langfristig beeinflussen und ggf. die Entstehung lebensstilbezogener Erkrankungen fördern. Teilhabe und Selbstbestimmung Bereits in der Ottawa-Gesundheitscharta wurde festgehalten, dass Gesundheitsförderung bzw. gesundheitsförderliches Verhalten darauf abzielt, durch aktives anwaltschaftliches Eintreten die Gesundheitsdeterminanten günstig zu beeinflussen. Kickbusch (2017) weist darauf hin, dass Teilhabe und Selbstbestimmung immer auch Machtfragen beinhalten und man daher einen zukunftsweisenden Gesundheitsdiskurs nicht ohne Reflexion über unterschiedliche Werteverständnisse und Demokratieauffassungen führen könne. Gesundheitskompetenz ist nur vordergründig eine Frage der Bildung. Es geht um weit mehr als nur um Wissen, sondern um Ermächtigung zum Handeln, ein Prozess, der sowohl eine individuelle als auch eine gesellschaftliche Komponente aufweist. Im Gesundheitswesen zeigt sich Macht beispielsweise in der Definitionsmacht über das Verständnis von gesund oder krank, der Kontrolle über Entscheidungsprozesse, der Verfügungsgewalt über Ressourcen, Wissen und Information. Daher müssen Organisationen ihre Strukturen und Entscheidungsprozesse dahingehend ändern, sodass sie trotz komplexer Systemabläufe transparent sind und für Bürgerinnen und Bürger, Patientinnen und Patienten sowie Angehörige durchschaubar und verstehbar werden (Kickbusch 2017). 2.3 Was ist Health Literacy?
Unter Health Literacy werden die im Alltag benötigten Fähigkeiten verstanden, um gesundheitsrelevante Entscheidungen treffen und entsprechende Handlungen umsetzen zu können (Schaeffer & Pelikan 2017, S. 11). Dabei sind die Lese- und Schreibfähigkeiten von Patientinnen und Patienten von zentraler Bedeutung, damit sie an Behandlungen und Therapien mitwirken können: »Health literacy is linked to literacy and entails people’s knowledge, motivation and competences to access, understand, appraise, and apply health information in order to make judgments and take decisions in everyday life concerning healthcare, disease prevention and health promotion to maintain or improve quality of life during the life course.« (Sørensen et al. 2012, S. 13). Informationen erschließen und verarbeiten Somit wird Health Literacy definiert als die erforderlichen literalen und kognitiven Fähigkeiten, um Informationen erschließen, rezipieren, verstehen und so nutzen zu können, dass sie zur informierten Entscheidungsfindung beim Management der eigenen Gesundheits- und Krankheitssituation im Alltag – der Gesundheitserhaltung und Prävention sowie der Krankheitsbewältigung und Versorgungsnutzung – beitragen (Schaeffer & Pelikan 2017, S. 53). Während sich frühere Definitionen eher an Krankheit und Krankheitsbewältigung orientierten, erweiterte die WHO (1998) durch ihre Definition dieses funktionale Verständnis. Health Literacy ist demnach ein Bestandteil von Empowerment und umfasst die kognitiven und sozialen Fähigkeiten, die Individuen benötigen, um Informationen zu erschließen, zu verstehen und diese effektiv zu nutzen (Schaeffer & Pelikan 2017, S. 11 f). Darunter ist sowohl ein versierter Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen als auch die Voraussetzung der Gesunderhaltung gemeint. Vor allem Nutbeam (1998) prägte den Begriff Health Literacy: »Health Literacy represents the cognitive and social skills which determine the motivation...