Meyer-Burckhardt Meine Tage mit Fabienne
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7325-2356-6
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
            ISBN: 978-3-7325-2356-6 
            Verlag: Bastei Lübbe
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 0 - No protection
Früher war es ein Geschäft für Saiteninstrumente, nun ist es eines für elegante Hüte. Kannstatt hat schon immer eine höfliche Distanz zu den Mietern im Erdgeschoss bevorzugt. Für ihn, der seine Umgebung am liebsten über den Hörsinn wahrnimmt, ist das Wohnhaus eine wohlkomponierte Symphonie. Als Fabienne, eine lebensfrohe Elsässerin und Hutmacherin, dort einzieht, bereichert sie Kannstatts besondere Hausmusik mit ganz neuen Tönen. Mit ihrem Hutgeschäft und noch mehr mit ihrem Temperament und ihrer mitreißenden Energie mischt sie die sechs Parteien des Hauses auf, insbesondere jedoch Kannstatts Leben ...
Ein Haus in Berlin Moabit: die perfekte Bühne für einen charmanten Roman über das Leben und die Liebe
Autoren/Hrsg.
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Samstag, 24. Juli
Geräusche, die man nicht einordnen kann, sind wie Fragen an das Leben, auf die man keine Antwort haben will. Der Montag klingt anders als der Dienstag, der Morgen anders als der Mittag. Geräusche sind der Grund, warum ich meine Wohnung nie aufgegeben habe. Geräusche geben meinem Leben einen Rahmen. Ich weiß den Lärm der Müllabfuhr genauso zu schätzen wie das Quietschen der Straßenbahn, die alle zehn Minuten genau vor meinem Haus hält. Ich würde verzweifeln, wenn man diese Haltestelle verlegen oder gar aufgeben würde. Dass über mir seit Jahren ein Ehepaar aus dem Libanon wohnt, gehört zu meinem Leben dazu. Wenn sie sich streiten, verstehe ich es nicht. Wenn Sie sich anschließend lieben, entspricht das einem Ritual, das, fiele es aus, Anlass zur Beschwerde meinerseits gäbe. Wäre ich nicht so taktvoll, ginge ich hoch und würde nach dem Rechten sehen. Ich habe bereits darüber nachgedacht, dieses Ritual als Paragraph meinem Mietvertrag hinzufügen zu lassen. Würde dieses Ehepaar namens Nasser dann nicht gegen 15.15 Uhr angeregt diskutierend die knarzenden Stufen des alten Treppenhauses hinuntersteigen, um ihr Restaurant für den Abend vorzubereiten, wäre ich irritiert. Montag ist allerdings Ruhetag. Da kann ich mich darauf verlassen, dass es um 15.15 Uhr ruhig ist. Einmal verließen sie dennoch montags gegen 15.00 Uhr das Haus. Da bin ich aus meinem Sessel aufgesprungen, habe die Tür geöffnet und gefragt: »Wohin des Weges?« Sie hatten vergessen, dass Montag war.
Man kann sich eben einigermaßen auf mich verlassen in der Nachbarschaft. Das Haus, in dem ich wohne, wurde um 1900 gebaut – Altbau eben. Die Mieter werde ich Ihnen alle vorstellen. Jeden einzelnen erkenne ich daran, wie sie oder er unten die Haustür ins Schloss fallen lässt. An einem Sommertag wie heute lege ich mich gern auf meinen Balkon, der, Gott sei Dank, zur Straße geht, und überlege mit geschlossenen Augen, wie die Gesichter der Fußgänger aussehen könnten, deren Stimmen ich höre. Ich montiere dann die verschiedenen Töne in meinem Kopf zu einer Art Symphonie zusammen, zu einer Symphonie der Großstadt. Ansehen muss ich mir das Ganze nicht unbedingt, ich verlasse mich lieber auf mein Gehör.
Wichtig ist, wie bei einer »richtigen« Symphonie, dass das, was an die Ohren gelangt, gewissen Hörgewohnheiten entspricht und nicht verunsichert. So wie auch an diesem sommerlichen Samstagmorgen – alles in bester Ordnung. Jedenfalls bis genau zu diesem Moment. Unter all die gewohnten Geräusche mischten sich schon seit einigen Minuten (ich konnte es nicht sofort zuordnen) junge Stimmen, die sowohl Deutsch als auch Französisch sprachen und ihr Möglichstes taten, um einen Autofahrer rückwärts in eine offensichtlich zu enge Parklücke zu lotsen. ›Entweder ist die Lücke wirklich zu eng‹, dachte ich, ›oder der Fahrer ist nicht mit ausreichend Talent ausgestattet.‹ Nachdem das Manöver unter dem übermütigen und wie ich fand übertriebenen Applaus der Umstehenden offenbar ein erfolgreiches Ende genommen hatte, begann man zu entladen. ›Aber hier zieht doch niemand ein oder aus‹, grübelte ich. Und den schon länger leerstehenden Laden wird doch wohl hoffentlich niemand übernehmen?
Und wenn doch …! Ich war glücklich gewesen, als – es mag ein Jahr her sein – der Käseladen ausgezogen war. Ich mochte die beiden jungen Männer durchaus, die sich mit viel Leidenschaft der französischen Käsekultur verschrieben hatten. Sie waren freundlich zu jedermann, meistens auch zu mir, und gelegentlich kaufte ich auch bei ihnen ein. Aber wenn man genau darüber wohnt, riecht es den ganzen Tag nach Käse. Und, schlimmer noch, Käse macht keine Geräusche. Und da die beiden Lauf- und kaum Stammkundschaft hatten, waren die Geräusche beim Öffnen und Schließen der Ladentür so unberechenbar, dass man keine Ruhe mehr fand.
Das war ganz anders, als ich vor ungefähr zwanzig Jahren eingezogen bin. Da war dort ein alteingesessenes Geschäft für Saiteninstrumente. Das Ehepaar Poschmann war in der Gegend für Musikliebhaber ein Begriff. Aber was soll ich sagen: Wir haben uns als Mieter nur fünf Jahre überschnitten. Poschmanns waren bereits fünfzehn Jahre vor mir hier, und jetzt sind seit deren Geschäftsaufgabe wiederum fünfzehn Jahre vergangen.
Eine Weile hatte ich noch gehofft, dass die Musikliebhaber auch Käseliebhaber sind. Dann wäre wenigstens das Öffnen und Schließen der Tür berechenbar geblieben. Aber das war nicht der Fall. Das Zupfen von Gitarren- oder Geigensaiten durch Kunden, die sich einem Instrument, das ihnen noch nicht gehört, respektvoll nähern, habe ich lange vermisst. Am Käse zupft eben niemand, und die Laufkundschaft, die sich dann vor dem Geschäft auch noch ewig darüber unterhält, wo man den noch besseren korsischen Schafskäse bekommt, ging mir auf die Nerven.
Während ich also auf meinem Liegestuhl die jüngere Geschichte des kleinen Ladenlokals noch einmal melancholisch Revue passieren ließ, drangen weiterhin von unten Stimmen an mein Ohr, die mit einem Samstagvormittag, wie ich ihn kenne und schätze, nichts zu tun haben. Es war nicht mehr zu leugnen, unten wurde etwas abgeladen. Ferner schien es so, dass es sich eindeutig nicht um ein professionelles Umzugsunternehmen handelte, sondern eher um ein gemietetes Lasttaxi, dessen Handhabung diese jungen Leute nicht gewohnt waren, die ihnen aber nichtsdestotrotz Spaß bereitete. Dummerweise machte der Spaß Krach. ›Wenn der Laden dort unten neu vermietet ist, dann kann ich meinen Plan, dort meine fünftausend Langspielplatten zu verkaufen (und zwar nur an Kenner), vergessen‹, durchfuhr es mich. Gleichwohl komme ich nicht umhin zuzugeben, dass ich diesen Plan immer nur dann in die Tat umsetzen möchte, wenn die Umstände es nicht erlauben. Sind nahe Räumlichkeiten verfügbar, finde ich immer sofort eine Begründung, warum man es nicht tun sollte. Offenbar wendete sich also das Schicksal dort unten an diesem eigentlich herrlichen Sommermorgen gerade gegen mich. Ich erhob mich vorsichtig und schaute auf die Straße hinunter. Eine größere Zahl Pappkartons wurde entladen. Allzu schwer schienen sie nicht zu sein. Und der letzte Zweifel war beseitigt: All diese Pappkartons wurden in den Laden gebracht, der einst Umschlagplatz von Gitarren und Käse war.
Aber, warten Sie, vielleicht sollte ich mich Ihnen erst einmal vorstellen:
Ich bin Immobilienkaufmann. Kein großer, kein reicher, aber ich habe mir eine gewisse Unabhängigkeit erarbeitet. Ich bin über fünfzig, war einmal verheiratet, »aber nur ganz kurz« (das möchte ich ausdrücklich betonen.) Ich bin durchaus ein Freund der Frauen, sofern sie Distanz halten. Ich bin ferner ein Kenner der Rockmusik der 70er- bis 80er-Jahre, kenne jeden Bassist mit Namen und weiß meist sogar das Studio, in dem der Song aufgenommen wurde. Ich lebe in Berlin Moabit, würde aber lieber am Montmartre in Paris wohnen. Ich koche ganz gern, möchte aber nichts mit anderen kochenden Männern zu tun haben. Denn ich rede nicht gern übers Kochen, ich rede überhaupt nicht so wahnsinnig gern. Die oberflächliche Konversation mit den Nachbarn liebe ich allerdings, vermeide es aber gleichzeitig, in ihre Wohnungen eingeladen zu werden. Ich bin hilfsbereit, wenn daraus keine Verpflichtung entsteht. In meinem Kühlschrank lagern an die fünfzig Herrendüfte. (Da halten sie länger.) Individualität entspricht mir sehr, deshalb wohne ich gern in einem Mehrparteienhaus. Meiner sehr romantischen Vorstellung nach sind alle Nachbarn auf ihre Weise so individuell, wie ich es bin bzw. für mich in Anspruch nehme. Ich missioniere nicht und will nicht missioniert werden. »Das alles soll sich eben nicht vermischen. Jedem das seine.« Mein Credo.
Vermischt werden bei mir nur Steine. Wenn ich reise, hebe ich Steine auf und werfe sie woanders wieder weg. Ich lasse sie dann wieder frei – so nenne ich das. Konkret heißt das, dass ich Kiesel aus Nevada, Bulgarien oder der Steiermark in die Havel werfe, ich möchte die Geologen der Zukunft irritieren. Mein Weg zu einer Prise Unsterblichkeit.
Böse Zungen nennen mich den Concierge des Hauses, ich selbst sehe mich indes eher als den Chronisten der Immobilie. Und in eben dieser Immobilie wohnen in Ruhe und Frieden sechs Parteien.
Doch dieser Frieden scheint mir durch jeden Neuankömmling bedroht zu sein, fragen Sie mich nicht warum. Vielleicht weil ich nichts so sehr schätze wie Verlässlichkeit und mich nichts so sehr irritiert wie Veränderung.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Im dritten Stock rechts wohnt ein Lufthansa-Pilot. Wie soll ich den beschreiben? Früher habe ich immer gedacht, dass Menschen, die beruflich die Welt bereisen, in Weltläufigkeit gebadet haben. Das ist bei Herrn Jasper nicht der Fall. Er stammt aus Bayern und hängt an jeden auch noch so unbedeutenden Satz (und er gibt ausschließlich unbedeutende Sätze von sich) die Floskel »… das muss ich ganz ehrlich sagen …«, als ob die Ehrlichkeit bei ihm die Ausnahme sei und deshalb entsprechender Honorierung bedarf. Seine Frau, eine Stewardess, hat ihn vor ein paar Jahren wegen Roger Willemsen verlassen. Das hat er mir im Treppenhaus mal anvertraut. Er fühlte sich durch diesen Umstand geadelt, war mein Eindruck. Wahrscheinlich hat Roger Willemsen mit ihr einen flüchtigen Flirt gehabt, vielleicht eine Affäre. Die arme Frau war vermutlich sinnlich so unterzuckert, dass die Akquise trotz gebremster Anstrengung von Seiten Roger Willemsens dennoch zum Ziel geführt hat. Jetzt hat Herr Jasper wohl eine Vorliebe für die Prostitution entwickelt. Ich möchte das moralisch nicht bewerten. Gleichwohl – das war ebenfalls Gegenstand des Gespräches im Treppenhaus – mit...





