E-Book, Deutsch, 342 Seiten
Meyer Jenseits dieser Zeit
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-347-67700-5
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 342 Seiten
ISBN: 978-3-347-67700-5
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Max Meyer, gebürtiger Berner, ist Autor unterschiedlichster Genres von Sachbüchern wie «Liberal Democracy» bis zu seinem Science-Fiction-Roman «Jenseits dieser Zeit». Er besuchte die Universität Bern und schloss sein Studium mit einem Doktortitel in Rechtswissenschaften ab. 1991 absolvierte er das «Executive Program» an der Stanford University Business School in Kalifornien, USA. Er ist ein begeisterter Leser und wenn er nicht gerade Goethes Faust liest, beschäftigt er sich gerne mit Themen der Geschichte, Physik und Politik. «Jenseits dieser Zeit» ist sein erstes belletristisches Werk.
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Einbruch
Der Morgen, an dem alles begann, begann wie jeder andere. Ich wachte früh auf, trank eine Tasse Kaffee und lief gegen 6:30 Uhr die Treppe meiner Wohnung hinunter. Wie immer nahm ich zwei Stufen auf einmal, wobei ich aus wochenlanger Gewohnheit nie einen Tritt verfehlte, obschon ich mir noch den Schlaf aus den Augen reiben musste. Ich war damals durchtrainiert und trittsicher. Die kleine Zweizimmerwohnung im Universitätsviertel hatte ich gemietet, um mein Junggesellenleben alleine weiter zu führen. Ich war kein Student mehr und verdiente jetzt ein wenig Geld als Assistent, so dass ich mir die Wohnung leisten konnte. Für mich damals ein enormer Luxus nachdem ich lange in einer Wohngemeinschaft gelebt und ein einziges Zimmer belegte hatte.
Unten öffnete ich die Haustür. Es war noch dunkel, aber am Horizont zeichnete sich ein schwaches Licht ab. Als ich mich als Jurastudent auf das Staatsexamen vorbereitete, stand ich sogar noch früher auf. Morgens konnte ich besser lernen und hatte mich noch nie zu der Sorte Studenten gezählt, die bis in alle Nacht über ihren Büchern brüten. Die Gewohnheit des Frühaufstehens hatte ich nach dem Examen beibehalten, wenn ich auch nicht mehr ganz so früh aus dem Bett kroch wie damals.
Als ich an meinem Briefkasten vor dem Gebäude vorbeikam, hielt ich an, um nach der Post zu sehen. Ich erwartete nichts, da ich ihn am Abend zuvor geleert hatte. Ich konnte einfach nicht an dem Briefkasten vorbeigehen, ohne ihn zu öffnen. Zu meiner großen Überraschung befand sich darin ein einziger kleiner Umschlag. Ich zog ihn heraus und steckte ihn in meine Tasche. Ich würde ihn später im Büro öffnen. Auf der Straße war es noch zu dunkel, um etwas zu lesen. Ich ging zu meinem Auto, einem alten blauen Fiat mit etwelchen Beulen und einigem Rost. Er würde die nächste Jahresinspektion nicht bestehen, aber bisher hatte er mir gute Dienste geleistet. Ich setzte mich hinter das Steuer, drehte den Schlüssel, löste die Handbremse und ließ den Wagen die leicht abschüssige Straße hinunterrollen. Als ich genug Geschwindigkeit hatte, trat ich die Kupplung ein. Das Auto ruckelte und sprang an. Bis heute halte ich nicht viel von teuren Autos oder anderen Statussymbolen, doch hoffte ich damals schon, mir später einmal, als Anwalt, ein ordentliches Auto leisten zu können, dessen Anlasser funktioniert.
***
Wenn ich auch sehr bescheiden lebte, weil Geld in der Jugend noch keine Rolle spielt und ich also auch nicht damit prahlten konnte oder auch nur wollte, so glaubte ich immerhin damals von mir, gut auszusehen. Ich war trainiert, hatte bisher alle Prüfungen gut bestanden und ich ging eigentlich davon aus, deswegen eine gute Partie für eine Frau zu sein. Aber ich konnte das nicht umsetzen. Die meisten Frauen, die ich interessant fand, hatten ganz andere Werte als ich. Sie lebten von Träumen und bevorzugten Hippie-Typen. Sie hatten wenig Interesse an einem Mann wie mir, der seine Zeit mit harter Arbeit verbrachte und sich auf seine wirtschaftliche Zukunft konzentrierte. Sie bevorzugten Männer, die Spaß daran hatten, die ganze Nacht aufzubleiben und über sämtliche Probleme der Welt zu diskutieren, Probleme, die mich damals nicht interessierten. In der Tat schienen mich die Frauen kaum zu beachten. Da es mir aber nicht an Selbstbewusstsein fehlte und ich mein ganzes Leben noch vor mir hatte, strafte ich genau diese Frauen damit, dass auch ich sie ignorierte. Zwar hatte ich ab und zu eine Freundin, aber aus meiner Sicht nie die Richtige. Rückblickend stelle ich fest, dass ich im Vergleich zu meinen älteren männlichen Kollegen und sogar zu den Frauen selbst unerfahren und geradezu naiv war.
Trotz meines Selbstbewusstseins war meine frühe akademische Laufbahn nicht überragend. Ins Gymnasium schaffte ich es problemlos, war aber dort ein mittelmäßiger Schüler. Ich hatte zu viele andere Interessen. Ich las viel und neigte dazu, mich auf nichts Bestimmtes zu konzentrieren. Außerdem, die Schule nahm kaum meine ganze Zeit in Anspruch. So spielte ich Schach und vertiefte mich in die Feinheiten von Geschichte und Mathematik. Darüber hinaus interessierten mich Naturwissenschaften besonders und ich führte gerne meine eigenen Experimente durch, auch wenn ich dabei nicht sehr methodisch vorging. Die Lehrer verlangten von mir nur, dass ich jedes Jahr mit der Note ‚genügend’ bestand, was mir ohne Schwierigkeiten gelang. Ich sah also keinen Grund, mich besonders anzustrengen. In den Ferien besuchte ich Sprachkurse in anderen Sprachregionen der Schweiz. So lernte ich Französisch und Italienisch. Nach dem Gymnasium ging ich direkt an die Universität. Anfangs konnte ich mich nicht zwischen Medizin und Geschichte entscheiden. Ich schaute bei beiden rein und ging dann in eine dritte Richtung ? Jura. Anders als in der Schulzeit konzentrierte ich mich auf mein Studium und schloss es in fünf Jahren mit guten Noten ab. Mir wurde darauf eine Assistentenstelle angeboten. Ich entschied mich aber, sie nicht sofort anzunehmen. Stattdessen ging ich für ein Jahr in die Vereinigten Staaten, um angelsächsisches Recht zu studieren und Englisch zu lernen. Stolz kehrte ich mit einem Master-Abschluss in Jura der Stanford University nach Hause zurück. Nun war ich also Assistent an der Universität hier in Bern und betrachtete die Arbeit als eine Fortsetzung meiner Ausbildung. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich eine Stelle und erhielt ein Gehalt.
***
Ich beschloss, den Umschlag zu öffnen, während ich an einer roten Ampel wartete. Darin befand sich ein Zettel von einer meiner Freundinnen. Marianne war gestern Abend zu mir gekommen, aber ich war schon zu Bett gegangen und hatte nicht aufgemacht. Jedenfalls wollte ich mich nicht wirklich binden, also war es mir egal, wenn ich sie brüskierte. Erst jetzt wird mir klar, wie einfach es gewesen wäre, ein bisschen netter zu sein und das Leben vielleicht mehr zu genießen. Damals hatte ich ganz andere Werte und Prioritäten.
Als ich den Parkplatz der Universität erreichte, steckte ich den Zipfel meines rotkarierten Polohemdes in die schwarze Jeanshose zurück, aus der es mir im engen Führersitz gerutscht war. Dann ging ich zügigen Schrittes zum Haupteingang Ich öffnete die Tür, betrat das Foyer und fuhr mit dem Aufzug in den vierten Stock. Es war noch dunkel. Aber am Ende des Flurs leuchtete ein Oberlicht hinter einer Tür hervor, was darauf hindeutete, dass bereits jemand am Arbeiten war. Ich ging den halben Korridor entlang und blieb stehen, überrascht, dass das Licht aus meinem Büro kam. Hatte ich gestern Abend vergessen, es auszuschalten? Oder war nach meinem Weggang die Putzfrau gekommen und hatte es brennen lassen? Ich ging auf die Tür zu. Wie üblich war sie nicht abgeschlossen, da sich keine Wertsachen im Zimmer befanden und meine juristische Arbeit keine Geheimnisse barg. Ich öffnete die Tür und blieb auf die Schwelle stehen.
***
„Nächster Punkt: Ordnungsdienst“, Polizeikommandant Herbert Stucki blickte von seiner Traktandenliste auf. Der hochgewachsene Mann in den Fünfzigern strahlte Autorität aus. In der Regel fiel es ihm zu, die wöchentlichen Sitzung des Leitungsstabes der Berner Stadtpolizei zu leiten.
Stucki sah sich in dem spärlich eingerichteten Sitzungszimmer der Hauptwache um. Er studierte die Gesichter der sechs Abteilungsleiter, der Kommissare, vergewisserte sich, dass sein Adjunkt das Protokoll führt und die beiden Spezialisten, die er zur Behandlung bestimmter Themen hinzugezogen hatte, aufmerksam zuhören. Alle waren in Zivil gekleidet, mit Ausnahme des Leiters des Verkehrsdienstes, der seine Polizeiuniform trug. Die Stimmung war nüchtern, sachlich und ruhig wie das Sitzungszimmer selbst. Routinearbeit. Sie waren die wöchentlichen Veranstaltungen in der üblichen Reihenfolge durchgegangen und nun beim Ordnungsdienst angelangt, der in der Regel dem Schutz von politischen Aktivitäten oder von Gruppen, die eine Demonstration oder eine Kundgebung abhielten, galt. Der Ordnungsdienst hatte in der Bundeshauptstadt eine besondere Bedeutung, da viele Aktivitäten hier stattfanden.
„Es ist eine Demonstration der Bauern angesagt“, bemerkt der Adjunkt des Kommandanten, ein junger Jurist.
„Schon wieder eine Demo“, stöhnte der Leiter der Abteilung Verkehr und rollte mit den Augen. Kommissar Paul Lack war seit seinem Eintritt in den Polizeidienst im Verkehrsdienst tätig. Er kannte seine Pflichten in- und auswendig und hatte wenig übrig für Leute, die ihm seiner Meinung nach, die Arbeit unnötig erschwerten. Dazu gehörten Demonstranten, für die er den Verkehr überall umleiten musste.
Der Adjunkt fuhr fort. „Die Organisatoren haben vor einigen Tagen mit mir Verbindung aufgenommen. Sie beanspruchen den Bundesplatz vor dem Parlamentsgebäude, und zwar von 13.00 Uhr an den ganzen Nachmittag.“
„Gegen was protestieren die Bauern diesmal?“, fragte der Leiter der Kriminalabteilung gelangweilt, da ihn die Sache wenig anging.
„Gegen die Verwendung von Gentechnik in der Landwirtschaft“, antwortete der Adjunkt. „Im Parlament soll über ein Gesetz dazu...




