Meyer | Merle. Das Steinerne Licht | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2, 368 Seiten

Reihe: Merle-Zyklus

Meyer Merle. Das Steinerne Licht

Merle-Zyklus 2
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7336-5201-2
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Merle-Zyklus 2

E-Book, Deutsch, Band 2, 368 Seiten

Reihe: Merle-Zyklus

ISBN: 978-3-7336-5201-2
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Merle ist zurück... Merles Venedig ist voller Magie. Doch die Fließende Königin, die mächtige Beschützerin der Stadt, wurde vertrieben. Venedig ist in großer Gefahr und alle magischen Wesen ahnen, dass nur Merle die Stadt vor dem Untergang bewahren kann. Während ihr Freund, der Meisterdieb Serafin, an Land und auf dem Wasser für die Freiheit kämpft, fliegt Merle auf dem Rücken des Obsidianlöwen Vermithrax in das Reich des Steinernen Lichts - geradewegs in die Unterwelt. Zweites Buch des Merle-Zyklus Der Klassiker der deutschen Phantastik in opulenter Neuausgabe

Kai Meyer, geboren 1969, ist einer der wichtigsten deutschen Phantastik-Autoren. Er hat über fünfzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.
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Sohn des Horus


Tief unter den Schwingen des Obsidianlöwen zog die Landschaft dahin wie ein Meer aus Asche. Vermithrax’ Körper aus pechschwarzem Stein glitt scheinbar schwerelos unter der dichten Wolkendecke dahin. Das Mädchen auf seinem Rücken hatte das Gefühl, als könnte es die wattige Unterseite der Wolken berühren, wenn es nur den Arm danach ausstreckte.

Merle krallte sich mit beiden Händen in die Mähne des geflügelten Löwen. Vermithrax’ langer Pelz war aus Stein wie sein ganzer Körper, doch aus Gründen, die Merle nicht kannte, fühlte sich sein Haar weich und biegsam an – nur eines der zahlreichen Wunder, die der Steinlöwe in seinem tonnenschweren Obsidiankörper barg.

Der Wind war in dieser Höhe empfindlich kühl und schneidend. Er drang ebenso mühelos durch Merles rotes Cape wie durch das grobe, wadenlange Kleid, das sie darunter trug. Der Saum war hochgerutscht und entblößte ihre Knie; die Gänsehaut auf ihren Schenkeln schien ihr mittlerweile ebenso selbstverständlich wie ihr knurrender Magen und die Ohrenschmerzen, die sie von der Höhe und der kalten Luft bekam. Immerhin schützten die klobigen Lederschuhe ihre Füße vor der Kälte, ein schwacher Trost angesichts ihrer verzweifelten Lage und des menschenleeren Landes, das hundert Schritt unter ihnen dahinzog.

Vor zwei Tagen war Merle auf Vermithrax’ Rücken aus ihrer Heimatstadt Venedig entkommen. Gemeinsam hatten sie den Belagerungsring des Imperiums durchbrochen und flogen nun nach Norden. Seitdem hatten sie unter sich nichts als verwüstete Einöde gesehen. Leere Ruinenstädte aus gezahnten, ausgeglühten Mauerreihen; verlassene Gehöfte, niedergebrannt oder unter den Sohlen der ägyptischen Armeen zu Staub zermahlen; Dörfer, in denen nur noch streunende Katzen und Hunde lebten; und natürlich jene Stellen, an denen das Erdreich aussah wie umgekrempelt, aufgewühlt und von Kräften verheert, die tausendmal stärker waren als jeder Ochsenpflug.

Allein die Natur widersetzte sich der brachialen Macht des Imperiums, und so kam es, dass viele Wiesen in frühlingshaftem Grün erstrahlten, dass sich blühende Fliederbüsche über verödeten Mauern erhoben und die Bäume dichtes, saftiges Laub trugen. Die Kraft und das Leben all dieser Pflanzen standen in einem höhnischen Gegensatz zu den verlassenen Höfen und Ansiedlungen.

»Wie lange noch?«, fragte Merle mürrisch.

Vermithrax’ Stimme war tief wie ein Brunnenschacht. »Einen halben Tag weniger als heute Mittag.«

Sie erwiderte nichts, sondern wartete, dass sich die geisterhafte Stimme in ihrem Inneren meldete, wie meist, wenn Merle Trost oder ein paar aufmunternde Worte brauchte.

Aber die Fließende Königin schwieg.

»Königin?«, fragte sie zaghaft.

Vermithrax hatte sich längst damit abgefunden, dass Merle gelegentlich mit jemandem sprach, den er weder sehen noch hören konnte. Er erkannte rasch, wenn ihre Worte nicht an ihn gerichtet waren.

»Gibt sie keine Antwort?«, fragte er nach einer Weile.

»Sie denkt nach«, kam es über Merles Lippen, aber es war nicht sie selbst, die diese Worte aussprach. Die Fließende Königin hatte sich einmal mehr ihrer Stimme bemächtigt. Mittlerweile tolerierte Merle diese Unart, auch wenn sie sich im Stillen darüber ärgerte. Im Augenblick war sie froh, dass die Königin überhaupt ein Lebenszeichen von sich gab.

»Worüber denkst du nach?«, fragte Merle.

»Über euch Menschen«, sagte die Königin und wechselte wieder in ihre Gedankenstimme, die nur Merle hörte. »Wie es so weit kommen konnte. Und was einen Mann wie den Pharao zu … so etwas bringt.« Sie hatte keine eigene Hand, um auf die Ödnis am Boden zu zeigen, aber Merle wusste sehr gut, was sie meinte.

»Ist er das denn? Ein Mensch, meine ich? Immerhin war er tot, bis ihn die Priester wieder zum Leben erweckt haben.«

»Allein die Tatsache, dass ein Mann von den Toten aufersteht, muss doch nicht bedeuten, dass er alle Länder mit einem Krieg überzieht, wie ihn die Welt seit langem nicht gesehen hat.«

»Seit langem?« Merle wunderte sich. »Gab es denn schon einmal einen Krieg, bei dem es gelungen ist, fast die ganze Welt zu erobern?« Mit Ausnahme von Venedig, dessen Stunden gezählt waren, widerstand nur das Zarenreich seit drei Jahrzehnten den Angriffen des Imperiums. Alle anderen Länder waren schon vor langer Zeit von Mumienheeren und Skarabäenschwärmen überrannt worden.

»Man hat es versucht. Aber das war vor Tausenden von Jahren, im Zeitalter der Subozeanischen Kulturen.«

Die Subozeanischen Kulturen. Die Worte klangen nach in Merle, auch als die Stimme der Königin verstummt war. Nachdem sie die Fließende Königin aus den Händen eines ägyptischen Spions befreit hatte, hatte sie erst angenommen, das sonderbare Wesen sei eine Überlebende der Subozeanischen Reiche, von denen es hieß, dass sie einst unfassbar mächtig gewesen waren. Doch die Königin hatte das abgestritten, und Merle glaubte ihr. Es wäre zu einfach gewesen.

Niemand vermochte eine Wesenheit wie sie völlig zu durchschauen, nicht einmal Merle, die der Königin seit ihrer gemeinsamen Flucht aus Venedig näher war als jede andere.

Merle riss sich aus ihren Gedanken. An Venedig zu denken hieß auch an Serafin denken, und das tat einfach zu weh.

Angestrengt spähte sie über Vermithrax’ schwarze Mähne hinweg. Vor ihnen erhoben sich die Felsnasen hoher Berge. Das Land wurde seit geraumer Zeit hügelig und stieg jetzt immer steiler an. Sie würden das Gebirge bald erreichen. Angeblich befand sich ihr Ziel nur ein Stück weit dahinter.

»Da liegt ja Schnee!«

»Was hast du denn gedacht?«, fragte der Obsidianlöwe amüsiert. »Sieh mal, wie hoch wir hier sind. Es wird noch ziemlich kalt werden, ehe wir auf der anderen Seite ankommen.«

»Ich hab noch nie Schnee gesehen«, sagte Merle. »Die Leute behaupten, es habe seit Jahrzehnten keinen echten Winter mehr gegeben. Und keinen Sommer. Frühling und Herbst gehen einfach ineinander über, irgendwie.«

»Während meiner Gefangenschaft im Campanile hat sich anscheinend nichts verändert.« Vermithrax lachte. »Die Menschen beschweren sich noch immer von morgens bis abends über das Wetter. Warum machen sich so viele Köpfe so viele Gedanken über etwas, das sie ohnehin nicht beeinflussen können?«

Merle fiel keine Antwort ein.

Erneut benutzte die Königin ihre Stimme: »Vermithrax! Dahinten, am Fuß dieses Berges … Was ist das?«

Merle schluckte, als könnte sie den unliebsamen Einfluss, der ihre Zunge kontrollierte, einfach hinunterwürgen. Sofort spürte sie, wie sich die Königin aus ihrem Mund zurückzog, ein Gefühl, als entwiche für die Dauer eines Lidschlags alles Blut aus ihrer Zunge und den Wangen.

»Ich seh’s auch«, sagte sie. »Ein Vogelschwarm?«

Der Löwe knurrte. »Ziemlich groß für einen Vogelschwarm. Und zu massiv.«

Der dunkle Schatten, der wie eine Wolke über einem Teil der Bergflanke schwebte, war scharf umrissen. Die Entfernung mochte noch einige tausend Schritt betragen, und im Vergleich zu den riesenhaften Felsgiganten im Hintergrund wirkte das Ding, das sich dunkel von den Hängen abhob, nicht besonders beeindruckend. Aber schon jetzt ließ sich erahnen, dass sich dieser Eindruck ändern würde, wenn sie erst näher heran waren. Oder das Ding auf sie zukam.

»Achtung!«, rief Vermithrax.

Er verlor so abrupt an Höhe, dass Merle das Gefühl hatte, ihre Eingeweide würden durch die Ohren nach außen gepresst. Einen Moment lang war ihr speiübel. Sie wollte den Obsidianlöwen gerade anfauchen, als sie sah, was ihn zu dem Manöver veranlasst hatte.

Eine Handvoll winziger Punkte umschwirrte den großen Umriss, helle Tupfen, die im Licht der untergehenden Sonne glühten, als hätte jemand Goldstaub über einem Landschaftsgemälde ausgestreut.

»Sonnenbarken«, sagte die Königin in Merles Gedanken.

Jetzt haben sie uns, dachte Merle. Sie haben uns den Weg abgeschnitten. Wer hätte ahnen können, dass wir immer noch so wichtig für sie sind? Gewiss, sie war die Trägerin der Fließenden Königin, des Schutzgeistes, der in den Gewässern der Lagune gelebt und Venedig vor den ägyptischen Eroberern bewahrt hatte. Aber das war vorbei. Die Stadt war unwiderruflich in der Gewalt der Tyrannen.

»Es muss Zufall sein, dass wir ihnen begegnen«, sagte die Gedankenstimme der Fließenden Königin. »Sieht nicht so aus, als hätten sie uns bemerkt.«

Merle gab ihr recht. Die Ägypter hätten sie nicht so schnell überholen können. Und selbst wenn es ihnen gelungen wäre, einen Teil ihrer Streitkräfte in dieser Region zu alarmieren, hätten sie die Flüchtigen gewiss nicht weithin sichtbar vor dem Schneefeld eines Gletschers erwartet.

»Was tun sie hier?«, fragte Merle.

»Das Große muss ein Sammler sein. Eine ihrer fliegenden Mumienfabriken«, antwortete die Königin.

Vermithrax schoss über die Wipfel eines dichten Waldes hinweg. Gelegentlich musste er hochgewachsenen Tannen und Fichten ausweichen, ansonsten aber hielt er geradewegs auf ihre Gegner zu.

»Vielleicht sollten wir ausweichen«, sagte Merle und versuchte, nicht allzu ängstlich zu klingen. Ihr Herzschlag raste. Ihre Beine fühlten sich an, als gehörten sie zu einer Lumpenpuppe.

Ein Sammler also. Ein echter, wahrhaftiger Sammler. Noch nie hatte sie eines der ägyptischen Luftschiffe mit eigenen Augen gesehen, und sie hätte weiterhin gut und gern auf diese Erfahrung verzichten können. Sie wusste, was die Sammler taten, sogar, wie sie es taten, und ebenso war ihr schmerzlich bewusst, dass jeder Sammler von einem der gefürchteten Sphinx-Kommandanten des...


Meyer, Kai
Kai Meyer, geboren 1969, ist einer der wichtigsten deutschen Phantastik-Autoren. Er hat über fünfzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.

Kai Meyer ist einer der wichtigsten deutschen Phantastik-Autoren. Er hat rund sechzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen auf der ganzen Welt. Seine Geschichten wurden als Film, Theaterstück, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet. Die Trilogie um Merle und die Fließende Königin gilt als Klassiker der phantastischen Jugendliteratur und wurde in 25 Sprachen übersetzt.



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