E-Book, Deutsch, Band 1, 288 Seiten
Reihe: Merle-Zyklus
Meyer Merle. Die Fließende Königin
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7336-5200-5
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Merle-Zyklus 1
E-Book, Deutsch, Band 1, 288 Seiten
Reihe: Merle-Zyklus
ISBN: 978-3-7336-5200-5
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kai Meyer, geboren 1969, ist einer der wichtigsten deutschen Phantastik-Autoren. Er hat über fünfzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.
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Meerjungfrauen
Die Gondel mit den beiden Mädchen kam aus einem der Seitenkanäle. Sie mussten warten, bis die Rennboote auf dem Canal Grande vorüber waren, und selbst Minuten danach herrschte noch immer ein solches Durcheinander von Kähnen und Dampfbooten, dass der Gondoliere es vorzog, sich zu gedulden.
»Es geht gleich weiter«, rief er den Mädchen zu und umklammerte mit beiden Händen sein Ruder. »Ihr habt es nicht eilig, oder?«
»Nein«, antwortete Merle, die Ältere der beiden. Tatsächlich aber war sie aufgeregt wie noch nie in ihrem Leben.
Seit Tagen sprach man in Venedig von nichts anderem als der Bootsregatta auf dem Canal Grande. Die Veranstalter hatten angekündigt, nie zuvor seien die Boote von so vielen Meerjungfrauen auf einmal gezogen worden.
»Fischweiber« nannten manche die Meerjungfrauen abfällig. Das war nur eines von unzähligen Schimpfwörtern, mit denen man sie bedachte, vor allem seit behauptet wurde, sie paktierten mit den Ägyptern. Nicht, dass jemand ernsthaft solch einen Unsinn glaubte; schließlich hatten die Armeen des Pharaos zahllosen Meerjungfrauen im Mittelmeer den Garaus gemacht.
Bei der heutigen Regatta waren zehn Boote an den Start gegangen, am Südende des Canal Grande, auf Höhe der Casa Stecchini. Jedes wurde von zehn Meerjungfrauen gezogen.
Zehn Meerjungfrauen! Das war rekordverdächtig, nie da gewesen. , die Erhabene, wie die Venezianer ihre Stadt gern nannten, hatte dergleichen noch nicht erlebt.
Fächerförmig hatte man sie vor die Boote gespannt, an langen Tauen, die selbst den nadelspitzen Zähnen einer Meerjungfrau standhielten. Rechts und links des Kanals, dort, wo sein Ufer begehbar war, und natürlich auf allen Balkonen und an den Fenstern der Paläste hatte sich das Volk versammelt, um dem Schauspiel zuzusehen.
Merles Aufregung aber hatte nichts mit der Regatta zu tun. Sie hatte einen anderen Grund. Einen besseren, fand sie.
Der Gondoliere wartete weitere zwei, drei Minuten, ehe er die schlanke schwarze Gondel hinaus auf den Canal Grande lenkte, quer darüber hinweg und in eine gegenüberliegende Mündung. Beinahe wurden sie dabei von dem Boot einiger Wichtigtuer gerammt, die ihre eigenen Meerjungfrauen vor den Bug gespannt hatten und unter Gegröle versuchten, es den Teilnehmern der Regatta gleichzutun.
Merle strich ihr langes dunkles Haar zurück. Der Wind trieb ihr immer wieder Strähnen vor die Augen. Sie war vierzehn Jahre alt, nicht groß, nicht klein, allerdings ein wenig dünn geraten. Aber das waren fast alle Kinder im Waisenhaus, außer dem dicken Ruggero natürlich, doch der war krank – sagten zumindest die Aufseherinnen. Aber war es wirklich ein Zeichen von Krankheit, sich nachts in die Küche zu schleichen und den Nachtisch aller Bewohner aufzuessen?
Merle atmete tief durch. Der Anblick der gefangenen Meerjungfrauen machte sie traurig. Sie besaßen menschliche Oberkörper, mit heller, glatter Haut, um die gewiss so manche Dame allabendlich in ihren Gebeten flehte. Ihr Haar war lang, denn unter Meerweibern galt es als Schande, es abzuschneiden – sogar ihre menschlichen Meister respektierten diese Sitte.
Was die Meerjungfrauen von gewöhnlichen Frauen unterschied, war zum einen ihr mächtiger Fischschwanz. Selten kürzer als zwei Meter, entspross er auf Höhe ihrer Hüften. Er war so flink wie eine Peitsche, so stark wie eine Raubkatze und so silbern wie das Geschmeide in den Schatzkammern des Stadtrats.
Der zweite große Unterschied aber – und er war es, den die Menschen am meisten fürchteten – war das grässliche Maul, das ihre Gesichter spaltete wie eine klaffende Wunde. Mochte auch der Rest ihrer Züge menschlich sein, und wunderschön dazu – zahllose Gedichte waren über ihre Augen verfasst worden, und nicht wenige verliebte Jünglinge stiegen für sie freiwillig in ein nasses Grab –, so waren es doch ihre Mäuler, die viele überzeugten, es mit Tieren und nicht mit Menschen zu tun zu haben. Der Schlund einer Meerjungfrau reicht von einem Ohr zum anderen, und wenn sie ihn öffnet, ist es, als klappe ihr gesamter Schädel entzwei. Aus den Kiefern ragen mehrere Reihen scharfer Zähne, so schmal und spitz wie Nägel aus Elfenbein. Wer behauptet, es gebe kein schlimmeres Gebiss als das eines Hais, der hat noch nie einer Meerjungfrau ins Maul geschaut.
Im Grunde wusste man wenig über sie. Fest stand, dass Meerjungfrauen die Menschen mieden. Für viele Bewohner der Stadt war das Grund genug, sie zu jagen. Junge Männer machten sich oft einen Spaß daraus, unerfahrene Meermädchen, die sich im Labyrinth der venezianischen Kanäle verirrt hatten, in die Enge zu treiben; wenn eines dabei zu Tode kam, fand man das schade, gewiss, doch niemand machte den Jägern einen Vorwurf.
Meist aber wurden die Meerjungfrauen gefangen und in Bassins im Arsenal gesperrt, bis sich ein Grund fand, sie durchzufüttern. Häufig waren dies Bootsrennen, seltener Fischsuppe – auch wenn der Geschmack ihrer langen Schuppenschwänze Legende war. Er übertraf gar Delikatessen wie Sirene und Leviathan.
»Sie tun mir leid«, sagte das zweite Mädchen, das neben Merle in der Gondel saß. Es war ebenso ausgehungert und noch knochiger. Sein hellblondes, fast weißes Haar fiel ihm weit über den Rücken. Merle wusste nichts über ihre Begleiterin, nur dass sie ebenfalls aus einem Waisenhaus stammte, wenn auch aus einem anderen Viertel Venedigs. Sie war ein Jahr jünger als Merle, dreizehn, hatte sie gesagt. Ihr Name war Junipa.
Junipa war blind.
»Die Meerjungfrauen tun dir leid?«, fragte Merle.
Das blinde Mädchen nickte. »Ich konnte vorhin ihre Stimmen hören.«
»Aber sie haben gar nichts gesagt.«
»Unter Wasser schon«, widersprach Junipa. »Sie haben gesungen, die ganze Zeit über. Ich hab ziemlich gute Ohren, weißt du. Viele Blinde haben das.«
Merle schaute Junipa entgeistert an, ehe ihr bewusst wurde, wie unhöflich das war, ganz gleich, ob das Mädchen es nun sehen konnte oder nicht.
»Ja«, sagte Merle schließlich, »mir geht’s genauso. Ich finde, sie wirken immer ein wenig … ich weiß nicht, irgendwie wehmütig. So als hätten sie etwas verloren, das ihnen viel bedeutet hat.«
»Ihre Freiheit?«, schlug der Gondoliere vor.
»Mehr als das«, entgegnete Merle. Ihr fehlten die Worte, um zu beschreiben, was sie meinte. »Vielleicht die Fähigkeit, sich zu freuen.« Das traf es immer noch nicht ganz genau, kam dem aber nahe.
Sie war überzeugt, dass die Meerjungfrauen ebenso menschlich waren wie sie selbst. Sie waren intelligenter als manch einer, den sie im Waisenhaus kennengelernt hatte, und sie besaßen Gefühle. Sie waren anders, gewiss, aber das gab niemandem das Recht, sie wie Tiere zu halten, sie vor Boote zu spannen oder nach Belieben durch die Lagune zu scheuchen. Das Verhalten der Venezianer ihnen gegenüber war grausam und ganz und gar unmenschlich. Alles Dinge, die man eigentlich den Meerjungfrauen nachsagte.
Merle seufzte und blickte aufs Wasser. Der Bug der Gondel schnitt wie eine Messerklinge durch die smaragdgrüne Oberfläche. In den schmalen Seitenkanälen war das Wasser sehr ruhig, nur am Canal Grande kamen manchmal stärkere Wellen auf. Hier aber, drei, vier Ecken von Venedigs Hauptschlagader entfernt, herrschte völlige Stille.
Die Gondel glitt lautlos unter gewölbten Brücken hindurch. Manche waren mit grinsenden Steinfratzen verziert; auf ihren Köpfen wuchs buschiges Unkraut wie grüne Haarbüschel.
Zu beiden Seiten des Kanals reichten die Fassaden der Häuser geradewegs ins Wasser hinab. Keines war niedriger als vier Stockwerke. Vor ein paar hundert Jahren, als Venedig noch eine starke Handelsmacht gewesen war, hatte man von den Kanälen aus die Ware direkt in die Paläste der reichen Händlerfamilien verladen. Heute aber standen viele der alten Gemäuer leer, die meisten Fenster waren dunkel und die Holztore auf Höhe der Wasseroberfläche morsch und von Feuchtigkeit zerfressen – und das nicht erst, seit sich der Belagerungsring der ägyptischen Armee um die Stadt geschlossen hatte. Nicht an allem trugen der wiedergeborene Pharao und seine Sphinx-Kommandanten die Schuld.
»Löwen!«, entfuhr es Junipa.
Merle schaute am Ufer entlang zur nächsten Brücke. Sie entdeckte nirgends eine Menschenseele, geschweige denn die steinernen Löwen der Stadtgarde.
»Wo denn? Ich sehe keinen.«
»Ich kann sie riechen«, sagte Junipa. Sie schnupperte lautlos in die Luft, und Merle bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der Gondoliere hinter ihnen den Kopf schüttelte.
Sie versuchte es Junipa gleichzutun, doch die Gondel musste fast fünfzig Meter weitergleiten, ehe Merles Nasenflügel etwas auffingen. Den Geruch von feuchtem Gestein, muffig und ein wenig modrig, so stark, dass er selbst den Odem der versinkenden Stadt überdeckte.
»Du hast recht.« Es war unzweifelhaft der Gestank der Steinlöwen, die von den venezianischen Stadtgardisten als Reittiere und Kampfgefährten eingesetzt wurden.
Im selben Augenblick trat eines der mächtigen Tiere vor ihnen auf eine Brücke. Es war aus Granit, eine der häufigsten Rassen unter den steinernen Löwen der Lagune. Es gab andere, stärkere, doch das machte letztlich keinen Unterschied. Wer einem Granitlöwen in die Klauen fiel, war so gut wie verloren. Die Löwen waren von alters her das Wahrzeichen der Stadt, schon zu der Zeit, als ein jeder von ihnen geflügelt und in der Lage gewesen war, sich in die Luft zu erheben. Heute gab es nur noch wenige, die das vermochten; eine streng regulierte Zahl von Einzeltieren, die zum persönlichen Schutz der...