E-Book, Deutsch, 335 Seiten
Meyrink Das grüne Gesicht
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-3169-7
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 335 Seiten
ISBN: 978-3-8496-3169-7
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Meyrinks okkulter Liebesroman taucht ein in die Welt eines Liebespaares aus Amsterdam, das immer mehr in die Abgründe einer mystischen Gruppe abtaucht und dabei von einem grünen Gesicht heimgesucht wird ...
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Viertes Kapitel
Baron Pfeill hatte in der Absicht, den Spätnachmittagszug nach Hilversum noch zu erreichen, wo sein Landhaus "Buitenzong" lag, die Richtung nach Central Spoorweg-Station eingeschlagen und war bereits durch ein Gewimmel von Zelten und Buden hindurch dem beginnenden abendlichen Kirmesgetriebe entronnen und in der Nähe der Hafenbrücke angelangt, da verriet ihm der wie auf ein Zeichen des Orchesterdirigenten hereinbrechende, ohrenbetäubende Lärm der hundert Glockenspiele auf den Kirchentürmen, daß es sechs Uhr war und er die Bahn nicht mehr erreichen konnte.
Rasch entschlossen ging er wieder in die Altstadt zurück.
Es war ihm fast eine Erleichterung, daß er den Zug versäumt hatte und ihm noch ein paar Stunden Zeit blieben, um eine Angelegenheit in Ordnung zu bringen, die ihm unablässig im Kopf herumging, seit er Hauberrisser verlassen hatte.
Vor einem wundervollen, altertümlichen Barockbau aus rötlichen, weißumrahmten Ziegeln in der düsteren Ulmenallee der Heerengracht blieb er stehen, sah einen Augenblick hinauf zu dem ungeheuren Schiebefenster, das fast die ganze Höhe und Breite des ersten Stockes einnahm, und zog dann an dem schweren, bronzenen Türdrücker inmitten des Portals, der zugleich die Hausglocke bildete.
Es verging eine Ewigkeit, bis ein alter livrierter Diener mit weißen Strümpfen und maulbeerfarbenen seidenen Kniehosen öffnen kam.
"Ist Herr Doktor Sephardi zu Hause? – Sie kennen mich doch noch, Jan, wie?" Baron Pfeill suchte nach einer Visitenkarte. "Bringen Sie, bitte, diese Karte hinauf und fragen Sie, ob –"
"Der gnädige Herr erwartet Sie bereits, Mynheer. Wenn ich bitten darf?" – Der Alte ging die schmale, mit indischen Teppichen belegte und an den Wandseiten mit chinesischen Stickereien verkleidete Treppe voraus, die so steil war, daß er sich an dem gewundenen Messinggeländer halten mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Ein stumpfer, betäubender Geruch nach Sandelholz erfüllte das ganze Haus.
"Erwartet mich? Wieso?" fragte Baron Pfeill erstaunt, da er seit Jahren Doktor Sephardi nicht mehr gesehen hatte und ihm vor knapp einer halben Stunde erst der Einfall gekommen war, Sephardi aufzusuchen, um eine Erinnerung an das Bild des "Ewigen Juden" mit dem olivgrünen Gesicht in gewissen Einzelheiten festzustellen, die in seinem Gedächtnis einander seltsam widersprachen und merkwürdigerweise nicht übereinstimmen wollten mit dem, was er Hauberrisser im Café erzählt hatte.
"Der gnädige Herr hat Ihnen heute vormittag nach Den Haag telegrafiert und Sie um Ihren Besuch gebeten, Mynheer."
"Nach Den Haag? Ich wohne doch schon lange wieder in Hilversum. Es ist lediglich ein Zufall, daß ich heute hergekommen bin."
"Ich werde den gnädigen Herrn sofort verständigen, daß Sie hier sind, Mynheer."
Baron Pfeill setzte sich und wartete.
Bis ins kleinste stand alles genau auf demselben Platze wie damals, als er zum letztenmal hier gewesen: auf den Spitzen der schweren geschnitzten Stühle schillernde Samarkandseidenüberwürfe, die beiden überdachten südniederländischen Sessel neben dem prachtvollen, säulengeschmückten Kamin mit den goldeingelegten moosgrünen Nephritkacheln, in buntleuchtenden Farben Isfahanteppiche auf den schwarzweißen Steinquadern des Fußbodens, die blaßrosa Porzellanstatuen japanischer Prinzessinnen in den Nischen der Täfelung, ein Wangentisch mit schwarzer Marmorplatte, an den Wänden Rembrandtsche und andere Meister-Porträts von den Vorfahren Ismael Sephardis: eingewanderte, vornehme portugiesische Juden, die das Haus im siebzehnten Jahrhundert von dem berühmten Hendrik de Keyser bauen ließen, darin gelebt hatten und gestorben waren.
Pfeill verglich die Ähnlichkeit dieser Menschen einer vergangenen Epoche im Geiste mit den Zügen Doktor Ismael Sephardis.
Es waren dieselben schmalen Schädel, dieselben großen, dunklen, mandelförmigen Augen, die gleichen dünnen Lippen und leicht gebogenen scharfen Nasen, derselbe weltfremde, fast hochmütig verächtlich blickende Typus der Spaniolen mit den unnatürlich schmalen Füßen und weißen Händen, der mit den gewöhnlichen Juden der Rasse Gomers, den sogenannten Aschkenasi, kaum mehr gemein hat als die Religion.
Nirgends auch nur eine Spur der Anpassung an eine anders gewordene Zeit in diesem, sich durch die Jahrhunderte ewig gleich bleibenden Gesichtsschnitte.
Eine Minute später wurde Baron Pfeill von dem eintretenden Doktor Sephardi begrüßt und einer jungen, blonden, auffallend schönen Dame von etwa sechsundzwanzig Jahren vorgestellt.
"Haben Sie mir wirklich telegraphiert, lieber Doktor?" fragte Pfeill, "Jan sagte mir –"
"Baron Pfeill hat so feinfühlige Nerven", erklärte Sephardi lächelnd der jungen Dame, "daß es genügt, einen Wunsch zu denken, und schon erfüllt er ihn. Es ist gekommen, ohne meine Depesche erhalten zu haben. – Fräulein van Druysen ist nämlich die Tochter eines verstorbenen Freundes meines Vaters", wandte er sich an Pfeill, "und von Antwerpen hergereist, um mich in einer Angelegenheit um Rat zu fragen, in der aber nur Sie Bescheid wissen. Es betrifft ein Bild, – oder besser gesagt, könnte damit zusammenhängen, – von dem Sie mir einmal erzählten, Sie hätten es in Leyden in der Oudhedenschen Sammlung gesehen, und es stelle den Ahasver dar."
Pfeill sah erstaunt auf. "Haben Sie mir deshalb telegrafiert?"
"Ja. Wir waren gestern in Leyden, um das Bild zu besichtigen, erfuhren jedoch, daß niemals ein ähnliches Gemälde in der Sammlung existiert habe. Direktor Holwerda, den ich gut kenne, versicherte mir, es hingen überhaupt keine Bilder dort, da das Museum nur ägyptische Altertümer und – – –"
"Erlauben Sie, daß ich dem Herrn erzähle, warum mich die Sache so interessiert?" mischte sich die junge Dame lebhaft in das Gespräch. "Ich möchte Sie nicht mit einer breiten Schilderung meiner Familienverhältnisse langweilen, Baron, ich will daher nur kurz sagen: in das Leben meines verstorbenen Vaters, den ich unendlich geliebt habe, spielt ein Mensch, oder – es klingt vielleicht sonderbar – eine 'Erscheinung' hinein, die oft monatelang sein ganzes Denken erfüllte.
Ich war damals noch zu jung – vielleicht auch zu lebenslustig –, um das Innenleben meines Vaters zu begreifen (meine Mutter war schon lange tot), aber jetzt ist plötzlich alles von damals wieder in mir wach geworden, und eine beständige Unruhe quält mich, Dingen nachzugehen, die ich längst hätte verstehen lernen sollen.
Sie werden denken, ich sei überspannt, wenn ich Ihnen sage, ich möchte lieber heute als morgen aufhören zu leben. – Der blasierteste Genußmensch kann, glaube ich, dem Selbstmord nicht näher sein als ich"; – sie war mit einemmal ganz verwirrt geworden und faßte sich erst, als sie sah, daß Pfeill ihr mit tiefem Ernst zuhörte und die Stimmung, in er sie sich befand, sehr rasch zu verstehen schien. – "Ja, und das mit dem Bild, oder der 'Erscheinung': Welche Bewandtnis es damit hatte? Ich weiß so gut wie nichts darüber. Ich weiß nur, mein Vater sagte oft, wenn ich – damals noch ein Kind – ihn über Religion oder über den lieben Gott fragte, daß eine Zeit nahe bevorstünde, wo der Menschheit die letzten Stützen fortgerissen würden und ein geistiger Sturmwind alles wegfegen würde, was jemals Hände aufgebaut hatten.
Nur jene seien gefeit gegen den Untergang, die – das waren genau seine Worte – die das erzgrüne Antlitz des Vorläufers, des Urmenschen, der den Tod nicht schmecken wird, in sich schauen können.
Als ich dann jedesmal neugierig in ihn drang und wissen wollte, wie dieser Vorläufer aussehe, ob er ein lebender Mensch sei oder ein Gespenst oder der liebe Gott selbst, und woran ich ihn erkennen könne, wenn ich ihm auf dem Wege zur Schule gelegentlich begegnen sollte, sagte er immer: Sei ruhig mein Kind, und grüble nicht. Es ist kein Gespenst, und wenn er auch einmal zu dir kommen wird wie ein Gespenst, so fürchte dich nicht, er ist der einzige Mensch auf Erden, der kein Gespenst ist. Auf der Stirne trägt er eine schwarze Binde, darunter ist das Zeichen des ewigen Lebens verborgen, denn wer das Zeichen des Lebens offen trägt und nicht tief innen verborgen, der ist gebrandmarkt wie Kain. Und schritte er auch im Glanz einher wie ein wandelndes Licht: er wäre ein Gespenst und ein Raub der Gespenster. Ob er Gott ist, das kann ich dir nicht sagen; du würdest's nicht begreifen. Begegnen kannst du ihm überall, am wahrscheinlichsten dann, wenn du es am wenigsten erwartest. Nur reif mußt du dazu sein....