E-Book, Deutsch, 235 Seiten
Meyrink Walpurgisnacht
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-3172-7
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 235 Seiten
ISBN: 978-3-8496-3172-7
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von vielen Kritikern wird dieser Roman als noch wichtiger für die okkulte Literatur als Meyrinks 'Der Golem' angesehen. Der Leser wird entführt in die Stadt Prag, direkt hinein in ein Pandemonium aus Mystik, Grauen und Leidenschaft ....
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Eine ganze Woche hindurch war der Herr kaiserliche Leibarzt Flugbeil nicht aus dem Ärger über sich selbst herausgekommen.
Der Besuch bei der "böhmischen Liesel" hatte ihn nachhaltig mißgestimmt, und das schlimmste dabei war, daß er die Erinnerung an seine ehemalige Liebe zu ihr nicht loswerden konnte.
Er gab der linden, süchtigen Luft des Mai die Schuld, der in diesem Jahr noch lockender blühte als sonst, und spähte jeden Morgen vergebens in den klaren Himmel, ob sich denn keine Wolke zeigen wolle, die den Johannistrieb seines alten Blutes zu kühlen versprach.
Vielleicht war das Gulasch beim "Schnell" zu pfefferig? – sagte er sich, wenn er abends im Bette lag und, ganz gegen seine Gewohnheit, nicht einschlafen konnte, so daß er oft die Kerze anzündete, nur um die Gardine am Fenster deutlicher zu sehen, die ihm sonst im Mondlicht noch weiter allerlei spukhafte Grimassen geschnitten hätte.
Um seine Gedanken abzulenken, war er schließlich auf die absonderliche Idee verfallen, sich eine Zeitung zu abonnieren, aber das machte die Sache noch schlimmer, denn kaum hatte er sich für irgendeinen Artikel zu interessieren begonnen, fiel sein Auge auf einen spaltenlangen leeren Fleck, der selbst dann nicht wich, wenn er außer seiner Brille noch den Zwicker aufsetzte.
Anfangs hielt er diese betrübliche Erscheinung zu seinem Schrecken für Sehstörungen, die am Ende gar in einer beginnenden Gehirnerkrankung ihre Ursache haben könnten, bis ihm seine Haushälterin feierlich versicherte, auch sie sähe genau dieselben Stellen unbedruckt, woraus er allmählich schloß, daß lediglich ein Eingriff seitens der Zensur, damit der Leser vor falschen Erkenntnissen geschützt werde, vorliegen müsse.
Trotzdem behielten solche weiße Flecke mitten in der karbolduftenden Druckerschwärze stets etwas Beunruhigendes für ihn. – Eben weil er sich innerlich genau bewußt war, daß er die Zeitung nur vornahm, um nicht an die "böhmische Liesel" von einstmals denken zu müssen, fürchtete er vor dem Umblättern jedesmal, es könnte die nächste Seite wieder leer sein und, statt der schwungvollen Rede eines Leitartikels, sich – sozusagen als Niederschlag der eigenen seelischen Besorgnisse – die greulichen Züge der "böhmischen Liesel" auf dem Papier bilden.
An sein Teleskop traute er sich schon gar nicht mehr heran; bei der bloßen Erinnerung, wie ihm die Alte durch die Linse entgegengegrinst hatte, sträubte sich ihm jetzt noch das Haar, und wenn er trotzdem hindurch guckte, um sich selbst seinen Mut zu beweisen, geschah es nur nach vorherigem mannhaften Zusammenbeißen seiner tadellosen weißen falschen Zähne.
Tagsüber bildete nach wie vor das Erlebnis mit dem Schauspieler Zrcadlo einen Hauptbestandteil seiner Erwägungen. Einfälle, den Mann nochmals in der "Neuen Welt" aufsuchen zu gehen, wies er aber begreiflicherweise weit von sich.
Einmal – beim "Schnell" – hatte er dem Edlen von Schirnding gegenüber, als dieser gerade in ein Schweinsohr mit Kren biß, das Gespräch auf den Mondsüchtigen gebracht und erfahren, daß Konstantin Elsenwanger seit jener Nacht wie ausgewechselt sei und keinen Besuch mehr empfange; er lebe beständig in Angst, das unsichtbare Dokument, das der somnambule Schauspieler in die Schublade gelegt habe, könne am Ende doch wirklich sein und eine nachträgliche Enterbung durch seinen verstorbenen Bruder Bogumil enthalten.
"Und warum auch nicht?" hatte der Edel von Schirnding gemeint und mißgelaunt von seinem Schweinsohr abgelassen – "wenn schon Wunder geschehen und es verlieren Menschen unter dem Einfluß des Mondes ihr Gesicht, warum sollten die Toten nicht die Lebendigen enterben können? – Der Baron hat ganz recht, wenn er die Schublade zuläßt und nicht erst nachschaut; besser, dumm sein, als unglücklich."
Der Herr Leibarzt hatte dieser Ansicht zwar zugestimmt, aber nur aus Höflichkeit. – Er konnte für seinen Teil die Gehirnschublade, in der der Zufall Zrcadlo aufgehoben lag, keineswegs in Ruhe lassen, kramte vielmehr bei jeder Gelegenheit darin herum.
"Ich muß einmal nachts in den 'Grünen Frosch' schauen, vielleicht treffe ich den Kerl dort" – nahm er sich vor, als ihm die Sache wieder durch den Kopf ging; "die Liesel – verdammte Hexe, daß man auch fortwährend an das Weibsbild denken muß! – hat doch gesagt, er wandere in den Wirtshäusern umher."
Noch am selben Abend, kurz vor dem Schlafengehen, beschloß er, seinen Plan zur Ausführung zu bringen, knöpfte die bereits gelockerten Hosenträger wieder fest, stellte auch im übrigen seine Toilette wieder her und begab sich, das Gesicht in abweisende Falten gelegt (damit entfernte Bekannte, denen er ebenfalls so spät noch begegnen könnte, nichts Ungebührliches von ihm dächten), hinab auf den Maltheserplatz, wo, umgeben von altehrwürdigen Palästen und Klöstern, der "Grüne Frosch" sein dem Bacchus geweihtes nächtliches Dasein führte.
Seit Kriegsausbruch hatten weder er noch seine Freunde das Lokal besucht, trotzdem stand das mittelste der Zimmer leer und für die Herren reserviert, als habe der Wirt – ein alter Herr mit goldener Brille und dem wohlwollend ernsten Gesicht eines Notars, der an nichts anderes denkt, als Mündelgelder rastlos zu verwalten – es nicht gewagt, anderweitig darüber zu verfügen.
"Ex'lenz befehlen?" fragte der "Notar" mit menschenfreundlichem Aufleuchten in den grauen Augen, als sich der Herr kaiserliche Leibarzt gesetzt hatte, "oh? heute eine Flasche Melniker, rot? Ausstich 1914?"
Mit affenartiger Behendigkeit stellte der Pikkolo die Flasche Melniker 1914, die er auf den schon vorher geflüsterten Befehl des "Notars" geholt und hinterm Rücken verborgen gehalten hatte, auf den Tisch, worauf beide nach einer tiefen Verbeugung in den Labyrinthen des "Grünen Frosches" verschwanden.
Der Raum, in dem der Herr kaiserliche Leibarzt am Kopfende eines weiß gedeckten Tisches Platz genommen hatte, bestand aus einer langgestreckten Stube mit je links und rechts einem portierenbedeckten Durchlaß in die benachbarten Zimmer und einem großen Spiegel an der Eingangstür, in dem man beobachten konnte, was nebenan vorging.
Die große Anzahl von Ölgemälden an den Wänden, hohe Häupter aller Jahrgänge und Altersklassen darstellend, bekundete die über jeden Zweifel erhabene loyale Gesinnung des Wirtes, des Herrn Bzdinka – mit dem Tone auf "Bzd" – und strafte gleichzeitig die unverschämten Behauptungen gewisser Lästermäuler, er sei in seiner Jugend Seeräuber gewesen, Lügen.
Der "Grüne Frosch" hatte eine gewisse historische Vergangenheit, denn in ihm, hieß es, sei im Jahre 1848 die Revolution ausgebrochen – ob infolge des saueren Weines, den der damalige Wirt ausschenkte, oder aus anderen Gründen, bildete Abend für Abend den Gesprächsstoff an den verschiedenen Stammtischen.
Um so höher war das Verdienst des Herrn Wenzel Bzdinka anzuschlagen, der nicht nur durch seine vorzüglichen Getränke, sondern auch durch sein würdevolles Äußeres und den hohen sittlichen Ernst, von dem er selbst in den vorgerücktesten Nachtstunden niemals abließ, es verstanden hatte, den üblen Ruf des Lokals derartig gründlich zu beseitigen, daß sogar verheiratete Frauen – mit ihren Gatten natürlich – darin bisweilen zu speisen pflegten. – Wenigstens in den vorderen Räumen. – –
Der Herr kaiserliche Leibarzt saß gedankenverloren bei seiner Flasche Melniker, in deren Bauche ein rubinroter Funken glomm, hervorgerufen durch den Schein der elektrischen Stehlampe auf dem Tisch.
Sooft er aufblickte, sah er in dem Spiegel an der Türe einen zweiten kaiserlichen Leibarzt sitzen, und jedesmal, wenn er es tat, kam ihm der Einfall, wie höchst wunderbar es eigentlich sei, daß sein Spiegelbild mit der linken Hand trank, wenn er selber dazu die rechte gebrauchte, und daß jener Doppelgänger, würfe er ihm seinen Siegelring zu, diesen nur am rechten Goldfinger tragen könnte.
"Es geht da eine seltsame Umkehrung vor", sagte sich der Herr Leibarzt, "die wahrhaft schreckenerregend auf uns wirken müßte, wenn wir eben nicht von Jugend an gewöhnt wären, etwas Selbstverständliches in ihr zu sehen. – Hm. Wo im Raume mag nur diese Umkehrung stattfinden? – Ja, ja, natürlich: in einem einzigen mathematischen Punkt, genaugenommen. – Merkwürdig genug, daß in einem so winzigen Punkt so ungeheuer viel mehr geschehen kann als im ausgedehntesten Raume selbst!"
Ein unbestimmtes Bangigkeitsgefühl, er könne, wenn er der Sache weiter nachginge und das in ihr enthaltene Gesetz auch auf andere Fragen ausdehne, zu der peinlichen Schlußfolgerung kommen, der Mensch sei überhaupt unfähig, irgend etwas aus bewußtem Willen heraus zu unternehmen – sei vielmehr nur die hilflose Maschine eines rätselhaften Punktes in seinem Inneren –, ließ ihn von weiterem Grübeln abstehen.
Um jedoch nicht neuerdings in Versuchung zu kommen, drehte er kurz entschlossen die Lampe ab und machte dadurch sein Spiegelbild ein für allemal unsichtbar.
Sofort erschienen statt dessen auf der reflektierenden Fläche Teile der benachbarten Zimmer – bald das linke, bald das rechte, je nachdem der Herr kaiserliche Leibarzt sich zur Seite bog.
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