Auf der Suche nach dem Gerechtigkeitsgen
Von Pamela Dörhöfer
Wenn wir sehen, wie ein Mensch sich verletzt, leiden wir mit, wir können nachempfinden, welchen Schmerz der andere fühlt. Sehen wir in einem Film eine traurige Szene, den herzzerreißenden Abschied zweier Liebender oder den Tod des Helden, so berührt uns das trotz des Wissens um die Fiktion; bei sensiblen Gemütern fließen sogar die Tränen. Und – wer kennt es nicht: Lachen kann ebenso ansteckend sein wie Gähnen.
Menschen spüren Mitgefühl, schon kleine Kinder sind dazu in der Lage: Die Empathie scheint Homo sapiens in die Wiege gelegt. Bahnt uns diese Fähigkeit automatisch den Weg zu moralischen Wesen, ist uns Gerechtigkeitssinn angeboren? So einfach ist das nicht, sagt Simon Eickhoff, Professor für Kognitive Neurowissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und dem Forschungszentrum Jülich. „Empathie, Moral, Gerechtigkeit – sie alle haben etwas miteinander zu tun, sind aber doch verschiedene Dinge.“
Wobei der Hirnforscher den Begriff der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit menschlichen Anlagen etwas problematisch findet: „Gerechtigkeit ist abstrakt und normenbedingt, sie ist letztendlich Auslegungssache.“ Fairness als Teil dessen, was man unter Gerechtigkeit verstehen kann, hätten Menschen aber sehr früh gelernt; sie habe ihnen den einzigartigen Fortschritt in der Evolution mit geebnet: „Fairness bedeutet, sich eine Beute zu teilen, die man zusammen erlegt hat. Das unterscheidet den Homo sapiens selbst von seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen. Dort nehmen sich die Stärksten die besten Brocken. Die Rangniedrigsten können sehen, wo sie bleiben.“
Zu gewissen Formen von Mitgefühl sind unsere nächsten Verwandten jedoch wahrscheinlich fähig. Die dafür vermutlich hauptverantwortlichen Nervenzellen, die Spiegelneuronen, wurden 1992 sogar erstmals bei Makaken beschrieben. Im Gehirn von Primaten (zu denen die Menschen gehören) reagieren diese Nervenzellen sowohl bei eigenen Handlungen als auch dann, wenn man jemand bei derselben Handlung beobachtet. Sie „spiegeln“ somit Beobachtungen im eigenen neuronalen System, sie liefern einen „einzigartigen Zugang zum Innenleben anderer“, erklärt Simon Eickhoff. Diese speziellen Nervenzellen reagieren dabei so, als wäre man an einem Geschehen aktiv beteiligt und würde nicht nur zusehen.
Spiegelneuronen sind nach aktuellem Stand der Wissenschaft von Geburt an im menschlichen Gehirn angelegt; bereits Säuglinge sind in der Lage, Handlungen ihrer Eltern zu erkennen, zu imitieren und somit an deren Gefühlswelt teilzuhaben. Damit sie sich weiterentwickeln, brauchen die Spiegelneuronen Bezugspersonen. Aktuell geht die Forschung davon aus, dass sie zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr voll ausgebildet sind.
Auch mehr als 20 Jahre nach ihrer Entdeckung gibt es indes noch immer viele offene Fragen zur Funktion dieser Zellen. „Es gab eine Phase, da mussten sie für alles herhalten: für Imitation und Intuition, das Lesen und Lernen bis hin zum Gerechtigkeitsempfinden. Inzwischen wird ihre Rolle aber zurückhaltender interpretiert“, sagt Simon Eickhoff. Der Hirnforscher geht nicht davon aus, dass die Fähigkeit zum Nachempfinden zugleich auch moralisch gerechtes Handeln bewirkt. Das müsste sonst auch für die Menschenaffen gelten. „Die Spiegelneuronen sind wahrscheinlich ein wichtiger Bestandteil unseres sozialen Gehirns, aber eben nur ein Baustein.“
Was aber sonst versetzt Menschen letztlich in die Lage, fair und unfair, moralisch und unmoralisch oder eben auch gerecht und ungerecht zu unterscheiden? Wenn wir Situationen beurteilen und unser eigenes Handeln darauf abstellen, gehe das nicht allein und vermutlich auch nicht in erster Linie auf die Spiegelneuronen zurück, sagt Eickhoff. Es hat vor allem auch mit einer Fähigkeit zu tun, die Wissenschaftler als „Theory of Mind“ bezeichnen. Diese beschreibt die menschliche Gabe, sich in einen anderen hineinzuversetzen, dessen Perspektive einzunehmen. „Man kann nachvollziehen, was man sieht, kann einschätzen, was jemand denkt, welche Absichten er hat. Das ist eine wichtige Abgrenzung zur Empathie, die gefühlsmäßiges Nachempfinden ermöglicht“, sagt Eickhoff.
„Theory of Mind“ bedeutet auch, die Ansichten anderer von den eigenen unterscheiden zu können. Diese Fähigkeiten entwickeln Kinder etwa ab dem vierten Lebensjahr, sie bilden sich im Laufe des Lebens immer stärker aus. Hirnschädigungen und bestimmte psychische Erkrankungen können diese Funktionen stören. Während die Spiegelneuronen einen „schnellen, intuitiven, aber unpräziseren Zugang“ zur Welt der Gefühle, Intentionen und Gedanken anderer ermöglichten, eröffne ihn die „Theory of Mind“ „langsamer, abstrakter, aber genauer“, erklärt Simon Eickhoff.
Dass die „Theory of Mind“ stärker als die Empathie an moralischen Einschätzungen beteiligt ist, haben mehrere Studien ergeben. Dabei wurden die Teilnehmer mit verschiedenen Situationen konfrontiert und anschließend gefragt: Darf man das, ist das richtig, wie sollte sich die Person entscheiden? „Es zeigte sich, dass die Hirnaktivität sich bei diesen Prozessen sehr stark mit der Aktivität überlappt, die man bei der ,Theory of Mind‘ findet – und sehr viel weniger mit dem Geschehen, das bei Empathie zu beobachten ist“, sagt der Düsseldorfer Wissenschaftler. Vieles deute darauf hin, dass Moral eher ein rationales, kognitives Konstrukt sei. Dieser Annahme stehe indes entgegen, dass Patienten mit Demenz, deren rationale Urteilsfindung stark beeinträchtigt ist, in ihrem Handeln trotzdem oft moralischen Grundsätzen folgen können. Letztlich, so der Hirnforscher, sei noch offen, in welcher Weise bei moralischem – oder auch als gerecht empfundenem – Handeln „Theory of Mind“ und Empathie zusammenspielten.
Bekannt ist, dass an diesen Prozessen mehrere Hirnregionen beteiligt sind. Ein spezielles Areal, das für Mitgefühl, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und moralisches Handeln zuständig wäre, existiert nicht. Jedoch, so Eickhoff, gebe es einige „Hotspots“ sozialer Kognition, die bei der Interaktion mit anderen Menschen eine wichtige Rolle spielen. Der dorsomediale präfrontale Kortex ist einer davon, ein Teil des an der Stirnseite sitzenden Frontallappens der Großhirnrinde. Dort würden unter anderem Urteile gefällt, Entscheidungen vorbereitet, andere Menschen bewertet: „Zum Beispiel, wie vertrauenswürdig oder attraktiv man jemand findet“.
Die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen wiederum ist im temporoparietalen Übergang angesiedelt, einer seitlichen Region nahe der Schläfe. Aber auch jene Areale, in denen das autobiografische Gedächtnis sitzt, trügen ihren Teil dazu bei, wie Menschen Situationen einschätzen und als Reaktion darauf selbst handeln.
Jeglichen Versuchen, moralische Urteile im Gehirn zu lokalisieren und zu verfolgen, seien allerdings Grenzen gesetzt, räumt der Neurowissenschaftler ein: So lasse sich echte Empathie oder moralisches Handeln im Experiment nur schwer untersuchen. „Die Teilnehmer wissen, dass es ein Test ist, dass sie sich nicht tatsächlich in der Situation befinden. Was passiert, hat für sie nicht wirklich eine Bedeutung. Das ist etwas völlig anderes, als wenn es sie selbst betreffen würde. Das ist ein Problem aller Studien im Bereich der sozialen Neurowissenschaften.“ Wenn es um Themen wie Fairness oder Moral gehe, sei es deshalb eine Möglichkeit, die Probanden um echtes Geld spielen zu lassen: „Das schafft dann eine größere Relevanz.“
Versuchsanordnungen, in denen das Verhalten der Teilnehmer in einer Art Rollenspiel untersucht wird, seien hingegen mit größter Vorsicht zu genießen, sagt Eickhoff und verweist auf das berühmte Stanford Prison Experiment von 1971, bei dem die Probanden in Wächter und Gefangene eingeteilt wurden. Weil die Situation eskalierte, musste es abgebrochen werden. Aus dem teils sadistischen Verhalten einiger Männer, die sich in der Machtposition der Wächter befanden, Rückschlüsse auf allgemein menschliche Eigenschaften zu ziehen, hält der Düsseldorfer Wissenschaftler für unzulässig: „Es kann sein, dass die Teilnehmer Stereotype auslebten, von denen sie glaubten, dass sie erwartet würden. Oder dass der Versuchsleiter das Experiment unbewusst beeinflusst hat. Letztendlich ist es auch möglich, dass sich von vornherein Probanden mit schwierigen Persönlichkeitszügen gemeldet haben.“
Hielte man es für wissenschaftlich seriös, so würde das Stanford Prison Experiment wenig Schmeichelhaftes über menschliches Miteinander offenbaren. Mitgefühl, Moral, Fairness – das alles könnte das Recht des Stärkeren dann sehr schnell verdrängen. Dass auch die menschliche Evolution alleine auf das Ziel der natürlichen Auslese der Stärksten ausgerichtet sei, haben viele Forscher im Gefolge von Charles Darwin lange geglaubt. Die Mehrheit der Wissenschaftler teilt heute diese Sicht nicht mehr.
Fakt ist: Die weitaus meisten Menschen kennen Mitgefühl und Fairness und treffen moralische Urteile, wie auch immer diese individuell ausfallen mögen. Viele Forscher gehen zudem davon aus, dass es natürliche Schranken gibt, anderen Menschen Gewalt anzutun. Doch ob uns das alles angeboren ist? Selbst wenn davon auszugehen ist, dass „Theory of Mind“ und Spiegelneuronen die Grundlagen liefern und auch beteiligte Hirnregionen bekannt sind: „Es lässt sich nicht klar beantworten“, sagt Simon Eickhoff.
Denn unser Gehirn kommt keineswegs „fertig“ auf die Welt: Wir werden vom Tag unserer Geburt an durch Bezugspersonen geprägt und sind auf deren Zuwendung angewiesen. Das, was wir von frühester Kindheit an erleben, jede...