E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Millman Mit friedvollem Herzen und dem Geist eines Kriegers
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-30600-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf der Suche nach dem guten Leben. Die wahre Geschichte des friedvollen Kriegers
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-641-30600-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein ebenso spannendes wie inspirierendes Leseerlebnis für alle, die mit friedvollem Herzen und dem Geist eines Kriegers ihre wahre Bestimmung entdecken und leben wollen.
Dan Millman, in jungen Jahren einer der besten Kunstturner Amerikas, später Coach von Spitzensportlern, unterrichtet seit nunmehr fast vierzig Jahren verschiedenste Formen des körperlich-geistigen Trainings. Seine Werke über die Lebenshaltung des friedvollen Kriegers sind zu wahren Kultbüchern geworden und haben eine Auflage von mehreren Millionen in neunundzwanzig Ländern erreicht.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Prägende Momente
Es gibt Zeiten, in denen dein einziges
verfügbares Transportmittel
ein Vertrauensvorschuss ist.
MARGARET SHEPHERD
Vorfrühling 1964. London, 10:15 Uhr GMT.
World Trampoline Championship in der Royal Albert Hall – und ich bin dabei. Nachdem ich die ersten beiden Doppelsaltos mit Drehung im Zehnsprung-Programm absolviert habe, ist die Luft raus. Mein letzter Sprung floppt total. Sekundenbruchteile scheinen sich in Ewigkeiten zu dehnen. Wie soll ich da jetzt rauskommen?
Nun, angesichts der Tatsache, dass ich frühmorgens von Kalifornien her eingeflogen war, mit nur vier Stunden unruhigem Schlaf, kam mein Versagen nicht ganz überraschend. Dieser eingefrorene Moment, hoch oben in der Hallenluft, hatte eine geradezu traumhafte Qualität. Ja, warum denn jetzt nicht träumen? Zu Hause war es doch gerade 02:15 Uhr.
Als ich wenig zuvor die Wettkampfetage der Royal Albert Hall betreten hatte, konnte ich mir das kontrollierte Chaos auf der Ebene darunter anschauen: Athleten aus vierzehn Ländern, die sich auf vier Trampolinen aufwärmten. Ich sah Gary Erwin, den amtierenden Meister der National Collegiate Athletic Association (NCAA), im sogenannten Taucher-Stil brillieren. Ihn hatte ich bereits im Fernsehen gesehen. Dann erregte Wayne Miller meine Aufmerksamkeit. Er zeigte ein Element, das er selbst erfunden hatte und das deshalb seinen Namen trug. Ich selbst hatte es nie hingekriegt. Immerhin war ich der aktuelle Landesmeister der US Gymnastics Federation (USGF). Deshalb hatte man mich auch eingeladen.
Gary, Wayne und ihre Trainer (die, wie ich erfuhr, auch in der Jury sitzen würden) waren schon Tage zuvor angereist, wegen der Zeitumstellung. Und ich selbst? War gerade mal achtzehn Jahre alt, litt unter Jetlag und fühlte mich mutterseelenallein.
Niemand, der gesehen hatte, wie ich ein paar grundlegende Aufwärmsequenzen machte, hätte auf mich gewettet. Ich musste nicht auf Gottvertrauen, sondern auf Selbstvertrauen bauen. Es spielt keine Rolle, wer die Aufwärmübungen gewinnt, sagte ich mir.
Erst als ich für meine Endrunde auf dem Trampolin stand, wurde mir klar, dass ich alles andere als allein war. Ich ließ meinen Blick über das erwartungsvolle Publikum schweifen, das mucksmäuschenstill verharrte, und über die Jury. Dann blinzelte ich hoch zum Sprecherpult und erkannte nicht nur George Nissen, den Erfinder des Trampolins und Veranstalter der Meisterschaften, sondern zu meiner Verwunderung und Freude auch Xavier Leonard, meinen früheren Klassenlehrer und ersten Trampolintrainer. Er strahlte stolz zu mir herüber!
Ein Schauer war mir über den Rücken gelaufen.
Und jetzt, hoch droben in der Luft, wo die Decke der mächtigen Halle fast bedrohlich nahe zu kommen scheint, da steht alles auf dem Spiel: Ich muss weitermachen, ganz einfach weitermachen – etwas tun, irgendetwas! Und ich tue es. Nicht mein Bewusstsein entscheidet darüber, sondern mein Körper: Und siehe, meine Bewegungen geschehen von ganz allein, ein komplizierter Ablauf folgt auf den anderen.
»Zen-Springen« würde ich es heute nennen, was ich da erlebte. Vollendung in Bewegung durch Nicht-Denken (Mushin), wie die Samurai-Krieger es nannten. Ein Zustand der Vertiefung, den heutige Psychologen als Flow oder Gipfelerfahrung bezeichnen.
Sportarten wie Tennis, Golf, Baseball und Schwimmen erfordern von Spitzenkönnern immense athletische Fähigkeiten, aber es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass jemand beim Training zu Tode kommt. Sportarten wie Trampolinspringen und Turnen, Free-Solo-Klettern, Big-Wave-Surfen, Base-Jumping dagegen sind etwas anderes. Sie erfordern nicht nur extreme körperliche Herausforderungen, sondern auch den Geist eines Kriegers, weil wortwörtlich alles auf dem Spiel steht – jederzeit. Ein einziger Moment der Unaufmerksamkeit, ein einziger Ausrutscher, und es kann für immer vorbei sein.
Vor Jahren hatte ich mir mit einem Freund ein riskantes Herausforderungsspiel auf dem Trampolin geliefert, bei dem ich einen Salto rückwärts nach dem anderen machte, bis mein Freund einen besonders schwierigen Bewegungsablauf aufrief, nämlich einen doppelten Salto rückwärts mit doppelter Drehung. Sein Kommando schien meinen Verstand sofort stillzulegen und richtete sich direkt an mein Körperbewusstsein. Jedenfalls führte ich den Ablauf wie von selbst aus, ohne willentliche Anstrengung. Es fühlte sich beängstigend und aufregend zugleich an, auf diese Weise über die eigenen Grenzen hinauszugehen. Nie aber hätte ich mir träumen lassen, welch tiefe Bedeutung diese spielerische Unbeschwertheit gewinnen kann, bis jener eingefrorene Moment in der Royal Albert Hall sich förmlich in Luft auflöste.
Keine Vergangenheit, keine Zukunft, kein Selbst. Nur kinästhetisches Bewusstsein, während mein Körper Sprünge und Wendungen wie am Fließband vollführt: ein Doppelsalto mit voller Drehung, eine weitere Mehrfachdrehung ...
Da ich mir unterdessen gar nicht mehr sicher war, wie viele Durchgänge ich schon absolviert hatte, musste ich mich auf das unterschwellige Zählen verlassen, in dem ich jahrelange Übung hatte. Ich schloss mit einem Eindreiviertel-Salto rückwärts und einem Doppelsalto rückwärts aus der Bauchlage – und landete schließlich sicher auf den Füßen. Das war‘s. Ich blickte auf und streckte die Arme nach oben, wie alle Turner es zum Abschluss tun, und genoss den Applaus.
Als ich zu meinem Platz zurückkehrte, spürte ich, dass mir viele Hände auf Schulter und Rücken klopften. Jetzt erst drang die Realität durch: Ich habe die Trampolin-Weltmeisterschaft gewonnen. Nur vage kann ich mich heute erinnern, Gary und Wayne die Hand geschüttelt zu haben, als ich das Siegertreppchen bestieg. Musik ertönte, während George Nissen mir einen silbernen Pokal überreichte. Blitzlichter zuckten, Kameras klickten.
Als ich mit dem Taxi zurück nach Heathrow fuhr, um meinen Heimflug anzutreten, fiel mir auf, dass der Fahrer rein gar nichts von dem Wettkampf wusste, ebenso wenig wie die Massen von Londonern und Touristen, die durch ihr eigenes Leben eilten. Auch in der Sportgeschichte war dieser Tag nicht mehr als eine Fußnote. Für mich selbst war das anders. Nichts weniger als mein Sinn für die Möglichkeiten des Lebens hatte sich verändert. Nein, ich würde nie selbst eine sportliche Legende werden, aber schon nach achtzehn Lebensjahren hatte ich eine innere Erfahrung gemacht, die mir nie mehr genommen werden konnte.
Mit einem Seufzer der Erleichterung machte ich es mir auf meinem Sitz bequem, als der Flieger abhob. Obwohl zutiefst erschöpft, konnte und wollte ich nicht schlafen. Stattdessen driftete ich ab in einen Fluss der Erinnerungen an all das, was mich an diesen Punkt gebracht hatte ...
Anfänge
Als Kleinkind lebte ich in einer Mietwohnung am Silver Lake Boulevard, einer belebten Durchgangsstraße in Los Angeles, die der Familienüberlieferung zufolge fast der Ort meines Hinscheidens geworden wäre, als ich in den schnell fließenden Verkehr hinauswatschelte, um einen Ball zu holen, der auf die Straße gehüpft war. Mein Vater, der mich kurz aus den Augen gelassen und mir damit meinen kleinen Ausflug ermöglicht hatte, riss mich von der Bordsteinkante zurück und verpasste mir die einzige Tracht Prügel meiner Kindheit.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass ich früh Risiken eingegangen bin: Auf einem Strandausflug mit der Familie stürzte ich mich in die heranrollenden Wellen. Ich ging zu Boden, geriet unter Wasser und erblickte erst einen blauen Himmel mit kleinen Wölkchen und dann sonnenbeschienene Muscheln, die auf dem sandigen Boden funkelten, bevor die starken Arme meines Vaters mich, plappernd, aus der Brandung hoben.
Als ich sechs Jahre alt war, zogen wir in unser eigenes Haus in einem Viertel mit Einwanderern aus Japan und Lateinamerika, deren Kinder meine Schulkameraden wurden. Ich spielte vor allem mit Steve Yusa, der neun Jahre alt war, so alt wie meine Schwester DeDe, und ganz schön pfiffig. Was immer ich von Steve gelernt habe, gab ich an meine jüngeren Freunde aus der Nachbarschaft weiter, an Timmy und Tootie. Schon damals spielte ich die Doppelrolle: Schüler und Lehrer.
Eines Nachmittags begleitete ich Steve und seine älteren Freunde, die ein im Bau befindliches Haus erkunden wollten, um von der Dachschalung in luftiger Höhe die Aussicht zu genießen. Sechs Meter tiefer war ein großer Sandhaufen aufgeschüttet: Sofort-Abenteuer.
Steve sprang als Erster, dann seine Freunde. »Du bist dran, Danny«, rief er zu mir hoch.
Ich näherte mich dem Rand und machte dann mit klopfendem Herzen einen Schritt zurück. »Los!«, schrie Steve.
»Ich kann nicht, es ist zu hoch!«
»Komm schon!«, entgegnete er. Dann sagte Steve etwas, woran ich mich für den Rest meines Lebens erinnere: »Hör auf zu denken, spring einfach!« Also bin ich gesprungen. Dieser Moment des Mutes brachte mir ein paar schwerelose Flugsekunden ein, gefolgt von einer sanften Landung, bei der ich bis zu den Knien im Sandhaufen versank. Wir verbrachten die nächste Stunde damit, immer wieder hochzuklettern und vom Dach zu springen. So kam ich auf den Geschmack, was draufgängerische Stunts betrifft, und fand es spannend, am Rand der Angst zu spielen.
Schon bald landete ich wieder auf dem Boden der Tatsachen. Früh im Kindergarten angemeldet und stets das jüngste Kind in meiner Klasse, war ich...