E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Milne Das Geheimnis des roten Hauses
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-03820-880-8
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-03820-880-8
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
A. A. Milne, 1882 in London geboren und 1956 in Hartfield, Sussex, verstorben, wurde als britischer Humorist für seine Geschichten rund um Christopher Robin und Winnie Puuh bekannt. Milne arbeitete für verschiedene Zeitschriften und diente zwischenzeitlich im Ersten Weltkrieg, wurde jedoch aufgrund von Krankheit aus dem Dienst entlassen. Neben dem Kriminalroman Das Geheimnis des roten Hauses (1922) zählen Mr. Pim Passes By (1921), Michael and Mary (1930) sowie für Kinder Make-Believe (1918) zu seinen Werken. Sein größter literarischer Erfolg ergab sich aber aus dem, was er für seinen Sohn Christopher Robin verfasste: Gedichtsammlungen ebenso wie Winnie Puuh. Bei Milnes Trauerfeier wurde das legendäre Lied »How sweet to be a cloud« von Winnie Puuh gesungen.
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1 Mrs Stevens bekommt einen Schreck
Das rote Haus hielt in der schläfrigen Hitze des Sommernachmittags Siesta. Das Summen von Bienen über den Blumenrabatten, das Gurren von Tauben in den Ulmen, aus der Ferne das Surren eines Rasenmähers.
Es war die Stunde, in der selbst diejenigen, die dazu da waren, den anderen zu dienen, einen Moment für sich selbst hatten. Im Zimmer der Köchin, die Mr Mark Abletts Junggesellenhaushalt vorstand, machte Audrey Stevens, das hübsche Stubenmädchen, sich den Sonntagshut zurecht und plauderte mit der Tante.
»Für Joe?«, fragte Mrs Stevens mit Blick auf den Hut.
Audrey nickte. Sie nahm die Nadel aus dem Mund und steckte sie in den Hut.
»Er mag Rosa«, sagte sie.
»Ich auch«, sagte die Tante.
»Aber Rosa ist nicht jedermanns Geschmack«, sagte Audrey, streckte den Arm aus und betrachtete den Hut. »Schick, oder?«
»Dir steht er. Und in deinem Alter hätte er mir auch gestanden. Jetzt wäre er allerdings etwas zu auffällig, aber ich könnte ihn immer noch besser tragen als manche andere. Ich habe noch nie so getan, als wäre ich was anderes, als ich bin. Wenn ich fünfundfünfzig bin, bin ich eben fünfundfünfzig.«
»Du bist aber doch achtundfünfzig, oder?«
»Das war doch nur ein Beispiel«, sagte Mrs Stevens mit viel Würde.
Audrey nahm ihr Nähzeug zur Hand, betrachtete einen Moment kritisch ihre Fingernägel und begann zu nähen. »Komisch, die Sache mit Mr Marks Bruder«, sagte sie. »Ich finde es nicht normal, wenn man seinen Bruder fünfzehn Jahre nicht sieht.« Sie lachte etwas befangen. »Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich fünfzehn Jahre von Joe getrennt wäre.«
»Ich habe es dir doch schon heute Morgen gesagt, Audrey«, sagte die Tante. »Ich bin jetzt ganze fünf Jahre hier in Stellung und habe nie ein Wort von einem Bruder gehört. Bei meiner Seele, seit ich hier bin, hat es keinen Bruder gegeben.«
»Also, mich hat doch fast der Schlag gerührt, als er heute beim Frühstück plötzlich von ihm zu sprechen begann. Ich weiß natürlich nicht, was er vorher gesagt hat, aber als ich ’reinkam – wegen der heißen Milch, glaube ich? Oder dem Toast? –, sprachen sie alle von diesem Bruder, und Mr Mark – du kennst ja seine Art – drehte sich zu mir um und sagte:
›Mein Bruder besucht mich heute Nachmittag. Ich erwarte ihn gegen drei. Führen Sie ihn ins Studio.‹
›Ja, Sir‹, sagte ich ganz ruhig, aber ich war selten in meinem Leben so erstaunt, denn woher soll ich denn wissen, dass er plötzlich einen Bruder hat?
›Mein Bruder aus Australien‹, sagte er. Das hätte ich fast vergessen. ›Aus Australien.‹«
»Er kann ja in Australien gewesen sein«, sagte die Tante. »Beschwören könnte ich es natürlich nicht, denn ich war ja nie in Australien. Aber eins weiß ich hundertprozentig: In den fünf Jahren, in denen ich nun schon hier bin, war er nie hier.«
»Aber Tante, er war ja seit fünfzehn Jahren nicht mehr in England. Ich habe gehört, wie es Mr Mark zu Mr Cayley gesagt hat. ›Fünfzehn Jahre nicht mehr‹, hat er gesagt, weil Mr Cayley ihn gefragt hat, wann er das letzte Mal in England war. Mr Cayley wusste, dass Mr Mark einen Bruder hat, denn ich habe gehört, wie er es Mr Beverley erzählt hat, aber er wusste nicht, dass der Bruder fünfzehn Jahre nicht mehr in England war. Deshalb hat er ja Mr Mark gefragt.«
»Also fünfzehn Jahre – dazu kann ich nichts sagen, Audrey. Ich kann nur sagen, was ich weiß. An Pfingsten waren es fünf Jahre, und ich kann einen heiligen Eid leisten, dass er in diesen fünf Jahren keinen Fuß in dieses Haus gesetzt hat. Und, wenn er in Australien war, wie du sagst, dann wird er schon seinen Grund gehabt haben.«
»Was für einen Grund?«, fragte Audrey.
»Das geht uns nichts an, Audrey. Aber da ich nun seit dem Tod deiner armen Mutter deine zweite Mutter bin, sage ich dir Folgendes: Wenn ein Gentleman nach Australien geht, hat er seinen Grund. Und wenn er fünfzehn Jahre bleibt, wie Mr Mark sagt – und die letzten fünf Jahre kann ich bestätigen –, dann hat er erst recht seinen Grund. Aber ein anständiges Mädchen fragt nicht danach.«
»Ich vermute, dass er was angestellt hat«, sagte Audrey leichthin. »Sie haben beim Frühstück gesagt, dass er ein ziemlich leichtfertiger Kerl war. Schulden und so. Ich bin bloß froh, dass Joe nicht so ist. Er hat fünfzehn Pfund auf seinem Postsparbuch. Habe ich dir das schon erzählt?«
Aber mehr wurde über Joe Turner an diesem Nachmittag nicht gesagt, denn es klingelte, und Audrey – jetzt wieder Stubenmädchen Stevens – sprang auf und rückte vor dem Spiegel schnell das Häubchen zurecht.
»Das war an der Haustür«, sagte sie. »Der Bruder. ›Führen Sie ihn in mein Studio‹, hat Mr Mark gesagt. Wahrscheinlich sollen ihn die anderen Herrschaften nicht sehen. Aber sie sind ja sowieso beim Golf. Ich bin gespannt, ob er bleibt. Vielleicht hat er aus Australien einen Haufen Gold mitgebracht, und ich erfahre, wie es dort ist, denn wenn es dort Gold gibt, und Joe und ich …«
»Mach endlich die Tür auf, Audrey.«
»Ich geh ja schon, meine Liebe.«
Jedem, der eben in der Augustsonne die Auffahrt entlanggekommen war, bot die Halle mit der offenen Eingangstür willkommene Kühle. Deckenbalken, gekalkte Wände, Fenster mit Butzenscheiben, kornblumenblaue Vorhänge. Zur Rechten und zur Linken führten Türen zu den Wohnräumen, aber einem gegenüber, wenn man hereinkam, lag eine Reihe von Fenstern, die auf eine Rasenfläche hinausführten. Zwischen den offenen Fenstern bewegte sich ein leiser Luftzug. Die breite Treppe mit den flachen Stufen ging rechts in die Höhe und führte zu einer Galerie, an der die Schlafzimmer lagen.
Als Audrey durch die Halle ging, schrak sie zusammen. Mr Cayley saß in einem Sessel neben einem der vorderen Fenster und las. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Warum sollte er nicht hier sitzen, wo es in der Halle doch viel angenehmer war als auf dem Golfplatz? Aber irgendwie lag an diesem Nachmittag eine Stille über dem Haus, als ob sich alle Gäste draußen aufhielten oder wenigstens droben in ihren Zimmern.
Audrey wurde rot. »Verzeihen Sie, Sir«, sagte sie zu Mr Cayley, dem Cousin Mr Marks. »Ich habe Sie erst gar nicht gesehen.«
Cayley sah von seinem Buch auf und lächelte. Ein charmantes Lächeln auf dem breiten, hässlichen Gesicht. Ein echter Gentleman, dieser Mr Cayley, dachte Audrey. Was Mr Mark wohl ohne ihn täte? Wenn beispielsweise dieser Bruder nach Australien zurückverfrachtet werden müsste, würde Mr Cayley den Großteil davon erledigen.
Und als sie den Besucher vor sich sah, dachte sie: Das ist also Mr Robert.
Später sagte sie zu ihrer Tante, dass sie ihn jederzeit als Mr Marks Bruder erkannt hätte. Dabei war sie in Wirklichkeit sehr erstaunt gewesen. Mr Mark war ein äußerst gepflegter Mann mit seinem Spitzbart. Sein schneller, stechend scharfer Blick ging in Gesellschaft unaufhörlich von einem zum anderen, gierig darauf aus, ein Lächeln auf eine gute Bemerkung seinerseits zu erhaschen. Nein, Mr Mark war mit diesem groben, schlechtgekleideten Mann, der sie mit zusammengekniffenen Augen anstarrte, nicht zu vergleichen.
»Ich möchte Mr Mark Ablett sprechen«, sagte er unfreundlich. Es klang fast wie eine Drohung.
Audrey riss sich zusammen und setzte ein Lächeln auf. Sie hatte für jeden ein Lächeln.
»Er erwartet Sie, Sir. Würden Sie bitte mitkommen?«
»So? Dann wissen Sie also, wer ich bin?«
»Ja. Mr Robert Ablett, oder?«
»Genau. Er erwartet mich also, was? Freut sich sogar, was?«
»Würden Sie bitte mitkommen, Sir?«, sagte Audrey steif. Sie ging zur zweiten Tür links und machte sie auf.
»Mr Robert …«, begann sie und brach ab. Das Zimmer war leer. Sie drehte sich um. »Wenn Sie bitte Platz nehmen wollen, Sir. Ich hole Mr Mark. Er muss im Haus sein, denn er hat mir gesagt, dass Sie heute Nachmittag kommen, Sir.«
»So.« Er sah sich um. »Und was soll das für ein Zimmer sein?«
»Es ist das Studio, Sir.«
»Das Studio?«
»Ja, Sir. Hier arbeitet Mr Mark.«
»Er arbeitet? Das ist völlig neu. Ich habe nicht gewusst, dass er je in seinem Leben einen Finger gerührt hat.«
»Mr Mark schreibt, Sir«, sagte Audrey würdevoll. Die Tatsache, dass Mr Mark schrieb, erfüllte alle Dienstboten mit Stolz, auch wenn sie sonst nichts darüber wussten.
»Ich bin wohl für den Salon nicht fein genug angezogen, was?«
»Ich werde Mr Mark sagen, dass Sie hier sind, Sir.« Audrey machte die Tür hinter sich zu.
Na, jetzt hatte sie der Tante aber allerhand zu erzählen! Sofort wiederholte sie im Geist alles, was er zu ihr gesagt hatte und sie zu ihm – ganz im Stillen. »Sobald ich ihn sah, dachte ich …« Tja, da hätte sie fast der Schlag gerührt. Der Schlag drohte Audrey ständig zu rühren.
Aber erst einmal musste sie Mr Mark suchen. Sie warf einen Blick in die Bibliothek. Niemand. Sie kam in die Halle zurück und blieb vor Mr Cayley stehen.
»Bitte, Sir«, sagte sie in respektvollem Ton, »wissen Sie zufällig, wo Mr Mark ist? Mr Robert ist da.«
»Was?«, sagte Cayley und sah von seinem Buch auf. »Wer?«
Audrey wiederholte ihre Frage.
»Keine Ahnung. Ist er nicht in seinem Studio? Er ist nach dem Essen zum Tempel hinaufgegangen. Seitdem habe ich ihn nicht...