E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Minelli Wie es endet
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-906913-47-6
Verlag: Lector Books GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-906913-47-6
Verlag: Lector Books GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michèle Minelli, *1968 in Zu?rich, ist eine Schweizer Schriftstellerin und Drehbuchautorin. »Wie es endet« ist ihr zehnter Roman. Ihr Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet in Iselisberg TG.
Autoren/Hrsg.
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(Freitag)
Vanessa und Evie drängen vor mir in den Aufzug. Evie kichert, und Vanessa tippt ihr mahnend an die Schulter. Die Sporttasche in Vanessas Armbeuge schaukelt bedenklich, ich nehme sie ihr vorsichtshalber ab.
Die Grübchen in Vanessas Wangen.
Ihr Blick zu Evie hinunter.
Die beiden Türhälften gleiten auseinander. Mit betont bedeutungsloser Miene betreten wir die Empfangshalle. Weitläufiger Boden, künstlicher Duft nach Arven, vereinzelte Palmen, ein Flügel, eine leicht erhöhte Bar. Dort hinten. Die Rezeption ein hellblau beleuchtetes gewundenes Band.
Ich stelle mich in die kurze Reihe, drei Gäste vor uns: ein Mann mit dunkelblauem Sakko, das über seinem muskulösen Rücken spannt, eine Frau im Pelz und ein Mann mit großem Gepäck.
Drei junge Damen hinter der Rezeption. Die eine tippt die Daten des sportlichen Sakko-Herrn ein, die beiden anderen sind etwas abseits mit einem Telefonat beschäftigt, die braunhaarige spricht, und die jüngere hört mit großen Augen zu.
Ich mache einen Schritt zur Seite und lausche mit einem Ohr.
»Ach so. Ja klar, gern. Bereit? Also: Roy Harold Scherer …«
Mein Handy vibriert, ich wechsle die Sporttasche in die andere Hand; weg von der Vibration.
»… nein, nur mit einem R, Scherer. Issur Danielowitsch, was? Kennen Sie nicht? Na gut, dann wären da noch Sahabzade Irrfan Ali Khan …« Die Brünette, die eine große Brille trägt, unterdrückt einen Lacher.
Es geht einen Schritt voran. Vanessa führt Evie weg. Ich schaue den beiden nach. Vanessa, wie sie mit lässiger Arroganz durch die Lobby schlendert, die Lampen, die neben ihrem Licht dumpf aussehen, und Evie, die kleine Kerze, die der Mutter folgt.
Niemand kann sich so frei und selbstbewusst in einen Sessel plumpsen lassen wie Vanessa. Lässig hebt sie ihre Haare im Nacken an und lässt sie mit einem »Puh« fallen. Sie fließen ihr schwarz über den Rücken. Ich würde mein Gesicht jetzt gern genau dort hinlegen, wo kurz vorher noch ihre Finger waren, meine Wange in ihren Nacken schmiegen, der immer heiß ist und ein bisschen feucht, ganz egal, ob Winter oder Sommer, und der erregend riecht und vertraut.
Ihre Stimme, als Evie auf ihren Schoß springt.
Evies Kindermund, der sich bewegt, unentwegt.
Vanessas Gesicht der Decke zugewandt, ihr Kopf im Nacken, wie sie beide Arme auf die Lehnen legt.
Evies Staunen über die Schneeflocken, die draußen in der Dunkelheit hell aufleuchten, wenn sie die Lichtkegel der Zwergenfackelleuchten passieren.
Die größeren Fackelleuchten neben den jungen Tännchen, die den Weg markieren, den wir demnächst gehen werden.
Evies Finger, die genau dorthin zeigen, in die Dunkelheit, und dann Vanessas Blick zu mir, voll von Liebe und Vertrauen, immer noch. Wir schaffen das.
Immer noch.
Augenblicklich fällt alle Anspannung von mir ab.
Die Stimme der Rezeptionistin fragt die Frau im Pelz, was sie Gutes für sie tun könne, eine Massage buchen, einen Besuch im Hamam vielleicht? Der Mann vor mir riecht nach langer Reise und nach zu viel Aftershave. Ungeduldig wechselt er sein Standbein. Die Frau im Pelz will nichts, und der Mann macht einen Schritt vor, ich genieße den Abstand, der entsteht.
Als drüben die Braunhaarige »Ennio Morricone« sagt, drückt sich die Jüngere neben ihr, vielleicht eine Auszubildende, die Hand vor den Mund. »Der Komponist, ja, genau der. Und dann, wie alle Jahre: Grace Patricia Kelly, nein, nicht die Kelly Family … ja, Monaco. … Wie meinen Sie?« Beide, die Braune mit der Brille und die Jüngere schauen sich an, die Braune nickt befriedigt, und wie ich den Eindruck habe, jetzt auch ein bisschen genervt, ihre Augenbrauen wandern in die Höhe. Als hätte sie nichts anderes erwartet, verabschiedet sie sich höflich und legt auf.
Ihr Blick trifft mich unvorbereitet.
»Bitte«, sagt sie, und als ich zögere, winkt sie mich zu sich hinüber.
Zwischen ihren Vorderzähnen blitzt ein Edelstein. Mit professionell abgestimmten Bewegungen nimmt sie meine Kreditkarte entgegen, vergleicht sie mit der Reservierung und tippt ein paar Daten ein.
»Willkommen im Blue Mountain Resort, Herr Schoenaerts. Schön, Sie zu unseren Gästen zählen zu dürfen. Chalet Stardust ist für Sie vorbereitet. Sagen Sie, was können wir Gutes für Sie tun?« Ihr Blick ist konzentriert.
Wie geht es Ihnen? Können wir reden?
»Ennio Morricone?«
Sie stutzt; dann: »Ah, das!« Sie lacht amüsiert. »Die von der Journalistenschule sollten sich mal neue Rechercheaufgaben für ihre Studierenden ausdenken.«
Sie wartet auf etwas, vielleicht auf mein wissendes Nicken, aber ich verstehe nicht.
»Ich kenne das aus eigener Erfahrung, ich habe diese Schule auch einmal besucht«, sagt sie. »Dort zwang man uns zu telefonischen Live-Recherchen, bei denen wir sogenannte unmögliche Dinge herausfinden sollten, egal wie. Besitzerinnen von Postfächern auf dem Postamt zum Beispiel. Privatvermögen. Die Größe eines Swimmingpools einer Poplegende. Oder eben wie hier: einer Rezeptionsangestellten in einem Luxusresort die Gästeliste aus dem Kreuz leiern.« Wieder lacht sie, und ihr Diamant blitzt feucht auf.
Schräg hinter mir nehme ich eine Bewegung wahr, Vanessa und Evie sind aufgestanden.
»Dann lese ich denen die bürgerlichen Namen von verstorbenen Stars runter. Irgendwann merken sie’s.« Sie hält kurz inne, dann sagt sie sehr rasch: »Spätestens, wenn ich bei Charles Spencer Chaplin ankomme oder bei Norma Jean Baker.«
Die Jüngere neben ihr schaut erschrocken von mir zu ihr, als sich die Sporttasche an meinem Arm bewegt. Das Gesicht der Brünetten wird wieder professionell, konzentriert.
»Keine Sorge, Herr Schoenaerts, wir geben die Daten unserer Gäste nicht heraus. Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«
»Hackfleisch? Roh?«
Erneut wirft die Jüngere der Älteren einen fragenden Blick zu.
Die nickt ihr zu und flüstert: »Schreib’s auf.« Und zu mir gewandt: »Tatar?«
»Tatar. Jeden Abend um sechs.«
Die Jüngere schreibt.
»Heute Abend auch schon?«, fragt mich die Brünette, während ihr Zeigefinger kurz ihre Armbanduhr berührt.
»Nein, heute nicht«, und bevor sie weiterfragen kann, füge ich an: »Das wär’s. Wir haben alles.«
»Fein. Ihr Gepäck dürfte bereits im Chalet Stardust sein. Unser Concierge begleitet Sie dann hinauf, Herr Schoenaerts.«
»Nicht nötig. Wir kennen den Weg, danke.«
Ich nicke Vanessa zu, sie greift Evies Hand, tritt zu mir hin, und zu dritt gehen wir nach draußen.
Hinter meinem Rücken höre ich, wie die Jüngere zur Älteren sagt: »Mensch, das war er also, nicht wahr? Der Mann von der … Tanner?«
Die Frische der Luft schlägt mir ins Gesicht. Wir waren elf Stunden mit unserem Wagen unterwegs, der jetzt in der Tiefgarage des Hotels am Strom hängt und tauenden Schnee von sich tropfen lässt.
Vanessa neben mir sagt genießerisch: »Aah. Es ist ein Traum.«
Dass die Luft in den Bergen so kalt, so dünn und so schneidend ist, vergesse ich immer wieder. Aber Vanessa hakt sich freudvoll bei mir ein, und ich umarme sie innig.
»Nein, Evie, warte, bis wir in unserem Chalet sind.«
Nur widerwillig lässt unsere Tochter den Henkel der Sporttasche los. Um uns zur Eile anzutreiben – die lange Fahrt war eine einzige Strapaze für sie –, rennt sie nun leise schimpfend voraus.
Der Schnee unter unseren Füßen knirscht, als Vanessa und ich von Lichtkegel zu Lichtkegel gehen, als wär’s der Weg zum Altar. Über uns die Sterne.
Die Sterne.
Evie, das Blumenmädchen, voraus. Bei der Weggabelung schaut sie über ihre Schulter.
»Links hoch, das Letzte ganz oben neben den schiefen Bäumen.«
Evie stöhnt und galoppiert weiter.
Die sechs Aufrechten. Diesen Namen hat Vanessa den Bäumen gegeben, die windschief, zerzaust, aber doch ehern am oberen Ende des Weges stehen, zwischen zwei Stämmen jeweils eine steil aufgerichtete Riesenfackel. Ich weiß nicht, was für Bäume das sind, ich habe vergessen nachzufragen. Ihre Rinde ist grob, markant, ihre Gestalt verbogen, aber hartnäckig, sie haben etwas Erhabenes bei aller Schrägheit. Als ob sie ausharren würden, egal, was da kommt.
Vanessas Körper strahlt Wärme ab. Ich will sie immer so bei mir haben, genau so. Neben mir. Flankiert von diesen lebensstarken Bäumen.
»Du bringst jeden Raum ins Gleichgewicht.«
»Von was für einem Raum sprichst du?«
Ich antworte nicht.
»Thierry, Evie wartet.«
Widerwillig lasse ich Vanessa aus meiner Umarmung, aber auch ihr Blick auf die Sporttasche gibt ihr recht, es rüttelt schon mächtig in ihr, also setze ich meine Beine wieder in Bewegung und gehe mit meiner Frau die letzten Meter hoch bis vor unser Chalet.
Oben angekommen, greifen fünf kleine Finger nach meiner Hand. Ich stelle die Sporttasche ab, damit ich die andere Hand frei habe, um aufzuschließen. Die Sporttasche lebt jetzt, die Katze muss raus.
Evies schwerer Schnaufer, als ich die Tür aufstoße.
Der Moment, in dem sie meine Hand loslässt und ein neues Reich betritt.
Unser Chalet ist ein zweistöckiges Holzhaus, das vollständig aus Naturmaterialien gefertigt ist. Keine chemischen Stoffe. Kein Leim, keine Nägel. Nur Holzdübel durchdringen die massiven...




