Miralles / Doñate | Jenseits des Abgrunds | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Miralles / Doñate Jenseits des Abgrunds

Roman über den Sinn des Lebens
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-27126-8
Verlag: Diederichs
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman über den Sinn des Lebens

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-641-27126-8
Verlag: Diederichs
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Berührend und nach einer wahren Begebenheit

»Das Lied des Abgrunds zeigt uns genau den Weg, den wir verfolgen müssen, um mit der Sonne zu verschmelzen.«

Toni ist unterwegs, um die Asche seines verstorbenen Bruders Jonathan in den Bergen zu verstreuen. Auf der langen Fahrt dorthin gelangt er an eine steile Felsenklippe. Ganz in der Nähe lebt zurückgezogen Kosei-San, ein alter Japaner. Er weiß, dass viele, die dort stehen, verzweifelt sind und sich in die Tiefe stürzen wollen. Und so lädt er Toni zu einer Tasse Tee in seine Hütte ein. Toni folgt der Einladung des Alten, nicht ahnend, was ihn erwartet. Und so entspinnt sich ein wunderbarer Dialog über den Sinn des Lebens.

Eine berührende Geschichte über das Abenteuer des Lebens, basierend auf einer wahren Begebenheit.

Francesc Miralles (geb. 1968 in Barcelona) ist Journalist, Romanautor, Übersetzer und Musiker. Zahlreiche seiner Romane und Sachbücher sind internationale Bestseller.

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3.

DER MANN AN DER KLIPPE

Ein Krampf durchfuhr meinen ganzen Körper. Ich schrie auf und öffnete gleichzeitig die Augen. Ich spürte meine Beine nicht mehr, und von der gekrümmten Lage tat mir der Rücken weh. Mit ausgetrockneter Kehle suchte ich am Boden und auf dem Rücksitz meines Wagens nach einer Flasche Wasser, aber das Einzige, was ich fand, war die Urne, die das Morgenlicht reflektierte.

»Lach nicht, Jonathan, sonst verpass ich dir eine«, fuhr ich sie an. »Hast du dich etwa nie besoffen? Allein zu trinken, ist natürlich viel trauriger … Aber daran bist du schuld, du Idiot.«

Ich wälzte mich im Auto hin und her und hatte das Gefühl, jeden Augenblick würde mir der Kopf zerspringen.

In meinem Handy suchte ich nach dem Ort am Mount Moran, wo ich das, was von meinem Bruder übrig geblieben war, verstreuen sollte. Google Maps entnahm ich, dass fast zehn Stunden Fahrt vor mir lagen, und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es auch nur zehn Minuten am Steuer aushalten würde.

Ich öffnete das Wagenfenster, um von der Frühlingsluft einen klaren Kopf zu bekommen. Dann schloss ich wieder die Augen und versuchte, den Kater abzuschütteln.

In meinem Alter sollte ich nicht mehr im Auto übernachten, sagte ich mir. Wie oft hatten Jonathan und ich es getan, wenn wir im Sommer an den kalifornischen Stränden nach den idealen Wellen Ausschau hielten …

Damals war ich um die zwanzig und das Leben noch eine mühelose Sache. Am Wochenende jobbten wir in einer Bar für einen Hungerlohn, unterwegs aßen wir aus Konservendosen. Mit unserem Vater, der unsere Lebensweise nicht verstand, redeten wir nicht mehr.

Unsere Taschen waren leer, aber unsere Köpfe voller Träume, und wir waren immer zusammen, erinnerte ich mich wehmütig.

Zusammen gegen die Welt. Genau genommen gegen eine Chicano-Welt, die uns zu eng geworden war. Unsere Eltern trauerten fortwährend einem Zuhause nach, das wir nicht kannten. Wir verkehrten ja mit Leuten, die »nicht mal Spanisch redeten«, wie eine Tante beklagte, die starb, ohne je ein Wort Englisch gesprochen zu haben, obwohl sie ihr halbes Leben auf dieser Seite der Grenze verbracht hatte.

Jonathan und ich … Eine Zeit lang waren wir eher Freunde als Brüder, bis unsere Wege sich trennten. Und alles, was jetzt von uns blieb, waren eine Urne voller Asche und ein menschliches Wrack.

Ich gab mir einen Ruck, stieg aus dem Auto und warf einen Blick auf die Tankstelle und den noch geschlossenen Diner. Kein Lüftchen regte sich, alles war still. Ein Schild, das eine halbe Ewigkeit auf dem Buckel zu haben schien, pries Brombeerkuchen mit Sirup an.

Nach und nach spürte ich, wie mir das Blut wieder in den Kopf stieg und damit auch das, was Rose mir noch vor wenigen Stunden erzählt hatte. Der Mann am Abgrund … Sie hatte ihn zwar nicht so genannt, aber der Journalist in mir hatte ihm diesen Titel verpasst.

Während ich versuchte, mich an seinen Namen zu erinnern, fiel mir wieder ein, dass er in dieser höllischen Nacht durch meine kurzen, flüchtigen Träume gewandert war.

Ich konnte den Gedanken an ihn einfach nicht mehr abschütteln. Da war vor allem das Gespräch, das er mit Rose geführt hatte, nachdem er ihr »die rettende Hand« gereicht hatte. Er hatte ihr erzählt, er habe in der Nähe eines Ortes namens Luckyfield gewohnt und sich eines Tages von der Welt zurückgezogen, um als Einsiedler zu leben. Er hauste in einer Hütte in der Nähe einer Klippe. Von dort beobachtete er die Felsen.

In dieser Hütte bereitete er der Fremden, die er soeben gerettet hatte, eine Tasse Tee zu und wollte im Gegenzug etwas über ihr Leben erfahren … Das war der Deal, den er ihr vorgeschlagen hatte.

Mein journalistischer Instinkt sagte mir, dass er so etwas vermutlich nicht zum ersten Mal tat. Der Mann – an dessen Namen ich mich nicht erinnern konnte – hielt sich wohl genau aus diesem Grund an seinem Beobachtungsposten auf.

Aber warum? Fühlte er sich zum Helfer berufen? War er einsam? Oder hörte er sich nur gern die Geschichten anderer Leute an?

Vielleicht war er auch schlicht und einfach verrückt.

Wie so oft in solchen Fällen führte eine Frage zur nächsten. Nach und nach wuchsen Zweifel in mir und zugleich eine Gewissheit: Der Mann am Abgrund war ein ganz besonderer Mensch. Was hatte ihn dorthin geführt?

Auf dem leeren Rastplatz, an mein Auto gelehnt, verspürte ich einen Kitzel, der mich schon seit meinen Tagen als Journalist nicht mehr befallen hatte: Hier war eine Geschichte, eine gute Geschichte, und ich wollte sie erzählen.

Als ich wieder am Steuer saß und den Zündschlüssel umdrehte, fühlte ich mich besser. Der Motor des alten Ford dröhnte und ließ die Karosserie erbeben, während ich zurück auf die Landstraße fuhr, vorbei an sanften Hügeln, die aussahen wie prähistorische Bestien, die zu dieser frühen Stunde noch schliefen.

Je höher die Sonne über der beinahe unwirklichen Landschaft aufstieg, umso deutlicher sah ich fast vergessene Szenen aus meinem Leben vor mir. Sie erschienen mir so fern, als gehörten sie der Vergangenheit eines anderen Menschen an.

Dank meiner Leichtathletikrekorde im Laufen – Flüchten war immer meine Stärke gewesen – hatte ich ein Stipendium erhalten und mein Viertel und all meine Freunde verlassen. Und nie mehr einen Blick zurückgeworfen.

Damals nahm ich mir vor, mein Journalismus-Studium bis zum Ende durchzuziehen und mit einem brillanten Abschluss zurückzukehren, damit meine Eltern stolz auf mich sein konnten.

Obwohl die Anfänge schwierig waren, liebte ich meinen Beruf über alles. Ich glaubte noch daran, dass man die Welt verändern kann. Alles war schon im Begriff, sich zu verändern. Ich würde dazu beitragen, indem ich das aufdeckte, was andere verschleierten, ich würde die zu Wort kommen lassen, die keine Stimme besaßen …

Auf meinem ersten Posten bei einer Lokalzeitung lebte ich quasi in der Redaktion, arbeitete Seite an Seite mit meinen Kollegen bis in die frühen Morgenstunden, schlecht bezahlt und übernächtigt.

Ich unterbrach meine Übung in persönlicher Archäologie, um einen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Die Urne, die auf dem Rücksitz zitterte, schien mir zu sagen:

»Sieh nur, wer du mal warst und was aus dir geworden ist… Jetzt bist du ein fetter, geschniegelter, angepasster Journalist.«

»Das wäre ich nicht, wenn du mir nicht das Leben versaut hättest, Bruderherz«, entgegnete ich, bevor ich die Privatvorführung meiner Erinnerungen fortsetzte, die mir von Mal zu Mal jämmerlicher erschienen.

Von den Kontakten, die ich damals in meinem Alltag knüpfte, profitierte ich nicht nur bei der Jagd auf Neuigkeiten, ich hatte es zudem mit einflussreichen Leuten zu tun, die mir Türen öffneten.

Drei Jahre später war ich Leiter der Wirtschaftsabteilung einer Zeitung aus San Francisco. Mehr als ein Vorstadt-Chicano als ich mir hätte träumen lassen! Doch der Preis, den ich dafür bezahlte, war hoch: Ich hatte kein Privatleben mehr, ich existierte nur noch für die Arbeit.

Wenn ich nicht da schon ein Idiot war, fing ich langsam an, einer zu werden. Ein Jahr lang besuchte ich meine Eltern kein einziges Mal. Von Zeit zu Zeit ging ich noch am Wochenende mit Jonathan zum Surfen, aber auch das hörte schließlich auf.

Nach und nach, still und leise, tat sich eine Kluft zwischen uns auf. Wir lebten in völlig unterschiedlichen Welten. Ich wurde stets von hohen Tieren eingeladen, die mich fürstlich bewirteten, damit ich über ihre Firmen und Produkte schrieb. In Jonathans Augen, der für aussichtslose Dinge kämpfte, hatte ich mich für ein Linsengericht verkauft. Er hing weiter mit seinen systemkritischen Kommilitonen von der Kunsthochschule herum, ein ewiger Student.

Schließlich schafften wir es nicht mehr, miteinander zu reden. Wir hatten nichts mehr gemeinsam. Also trafen wir uns auch nicht mehr.

Ich glaube, im Prolog zu den Blumen des Bösen schreibt Baudelaire, dass wir »jeden Tag eine Stufe in die Hölle hinabsteigen«, und genau das tat ich, als ich mich zu meinem großen Sprung entschloss: Freunde boten mir an, gemeinsam mit ihnen eine Werbeagentur zu gründen. Mit ihrem Geld und meinen Kontakten würden wir einen Riesenerfolg haben!

Schon als Journalist hatte ich kaum Zeit gehabt, jetzt, als Leiter einer Agentur, noch weniger. Zu Beginn war die Agentur ein so kümmerliches Geschöpf, dass sie meine ganze Aufmerksamkeit und Fürsorge verlangte. Damit rechtfertigte ich mich gegenüber meinem Bruder, wenn ich mir seine Vorwürfe anhören musste, dass wir uns nie mehr sähen und unsere Eltern mich vermissten.

Irgendwann hörte er auf, mich anzurufen, und ich, ihm zu erklären, die Firma habe sich inzwischen so stark vergrößert, dass die vielen Verpflichtungen mir den Schlaf raubten. Um diese zu bewältigen, gab es nur ein Mittel: noch mehr Arbeitsstunden. Außerdem Partys, auf denen ich nach neuen Kunden Ausschau hielt, um die Bestie zu füttern. Wochenenden auf dem Land, Golfpartien … all das gehörte zu meiner Arbeit.

Bis ich diesen verdammten Anruf erhielt.

»Weißt du was?«, fragte ich, wieder an den Geist meines Bruders gewandt. »Als ich mich selbst hörte, nachdem ich von deinem Tod erfahren hatte, wie ich mich bei meinem Team dafür entschuldigte, ein paar Tage abwesend zu sein, und wie ich später mit dem Bestattungsunternehmer alle Formalitäten besprach, da habe ich meine eigene Stimme nicht wiedererkannt. Ein Rest-Toni von früher sagte zu mir: ›Das bist nicht du. Du kannst unmöglich dieser Mensch geworden...


Miralles, Francesc
Francesc Miralles (geb. 1968 in Barcelona) ist Journalist, Romanautor, Übersetzer und Musiker. Zahlreiche seiner Romane und Sachbücher sind internationale Bestseller.

Doñate, Ángeles
Ángeles Doñate ist in Barcelona geboren und aufgewachsen und studierte Publizistik. Ihr erster Roman „Der schönste Grund, Briefe zu schreiben“ erschien 2017. Er wurde ein internationaler Erfolg und in mehr als zehn Sprachen übersetzt.



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