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E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Mirow Joshua Jackelby
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-522-61205-0
Verlag: Thienemann-Esslinger
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Abenteuerroman im viktorianischen London
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-522-61205-0
Verlag: Thienemann-Esslinger
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Benedict Mirow wurde 1974 in München geboren. Der Ethnologe und Regisseur schreibt, dreht und produziert seit vielen Jahren Dokumentarfilme aus den Bereichen Kunst und Kultur und erstellt Filmporträts über Künstler wie Daniel Hope, Lang Lang oder Paulo Coelho. Er konnte mit seinen Filmen zahlreiche internationale Preise gewinnen, wie u.a. einen Diapason d'Or, einen International Classical Music Award und einen KLASSIK ECHO; am Erfolg des OSCAR® Gewinners Nirgendwo in Afrika von Caroline Link war er als Ethnologischer Berater maßgeblich beteiligt. Nach Zeiten in Afrika und Wien lebt und arbeitet Benedict Mirow nun mit seiner Tochter und zwei Katzen in München und schreibt phantastische Romane für Kinder.
Weitere Infos & Material
DIENSTAG, 18. MÄRZ 1851
Extrablatt! Extrablatt!
Queen Viktoria eröffnet die Weltausstellung im Crystal Palace!
Extrablatt! Extrablatt der Times!
Nur zwei Pence, meine Dame!
Die neuesten Nachrichten für nur zwei Pence!
Danke, Mylady!
5:53 p. m. – Das Bündel in der Themse
Erschöpft setzte sich Joshua auf den steinernen Wasserspeier mit der verwitterten Dämonenfratze und ließ die Beine baumeln. Dünne Rauchschwaden zeichneten feine Nebelbänder in den goldenen Lichtstreif über der Stadt. Auf den Dächern glitzerten die Regentropfen der letzten Stunden und die Sonne stand so tief, dass sie schon fast die Türme der Westminster Abbey zu berühren schien. Die Themse, tief unter ihm, floss still dem Abend entgegen. Die Arbeiter aus den Docks und den Fabriken strömten nach Hause oder in die Kneipen, die Kutschen wurden weniger und nur vereinzelt zogen die Tagelöhner noch ihre Karren durch die engen Gassen. Die Gemüseverkäufer deckten ihre Stände zu und die Blumenmädchen, mit ihren Körben voller bunter Krokusse und zarten Himmelschlüsselblumen, machten sich müde auf den Heimweg, raus, irgendwo in die Vororte der großen Stadt.
Josh mochte die kurzen Momente, in denen sich die Skyline von London in ihrer ganzen Pracht zeigte. Wenn der leuchtende Feuerball nach einem Tag voller Nieselregen oft nur für wenige Minuten unter den blau-grauen Regenwolken durchtauchte und alles in sein wärmendes Licht hüllte. Bevor er sich hinter dem Horizont versteckte und seinen Platz räumte für die Dunkelheit und Kälte der Nacht.
Josh lächelte, als er in der Ferne das schrille Pfeifen der Dampflock hörte und nur wenig später eine dunkle Rauchwolke anzeigte, wo der 6-Uhr-Zug die Waterloo Station verließ und den Schienen nach Southampton folgte. Bis zum Meer. Damit war der Tag offiziell beendet. Zumindest für ihn. Es war nicht oft, dass Josh es schaffte, auf das Dach des alten Speicherhauses am Fluss zu steigen und der Sonne beim Verschwinden zuzusehen. Aber wenn es klappte, genoss er die Tatsache, dass er hier oben alleine war.
Hier oben konnte er für einen Moment Luft holen. Weil sie nicht nach Schmutz roch oder Unrat, aber auch weil er keine Angst zu haben brauchte. Weil es niemanden gab, der ihn mit einem Knüppel verjagen wollte, bloß weil er versuchte, seine Zeitungen zu verkaufen. Weil ihm niemand seine hart verdienten Pence wegnehmen wollte. Die Einsamkeit über der Stadt tat ihm gut.
Josh wohnte im Bahnhof, wie die anderen Zeitungsjungen. Sie nannten sich die Waterloo Boys, nach dem großen Gebäude, das erst vor wenigen Jahren eröffnet wurde. Der Bahnhof war ihre Heimat. Hier verkauften sie den Reisenden Zeitungen für zwei Pence und hatten niemanden, außer sich selbst. Die meisten schliefen, wo immer sie gerade Platz fanden. Die Mutigen legten sich auf den breiten Eisenträgern der weiten Dachkonstruktion zur Ruhe. Bis sie vom schrillen Pfeifen des ersten Zuges geweckt wurden und sie in der Druckerei flussaufwärts die neuesten Ausgaben der »London Times« abholten. Für einen Penny, um sie im Lauf des Tages für wenig mehr nur an die Reisenden zu verkaufen.
Das Geschäft war hart. Wenn sie nicht alle Zeitungen loswurden, zahlten sie drauf. Was auch Josh viel zu oft passierte. Und abends waren sie manchmal so müde, dass sie sich früh in ihre Jacken wickelten und versuchten, etwas Erholung zu finden. Die meisten legten sich auf die Holzbänke im Wartesaal oder die leeren Gepäckablagen an den Bahnsteigen. Oder auf den Boden. Auf ein Stück Stoff. In einen leeren Koffer. Auf die Zeitungen von gestern.
Nicht so Josh. Gemeinsam mit seinen Freunden hatte er vor noch gar nicht allzu langer Zeit eine kleine Nische entdeckt, abseits der Ticketschalter, beim Kohlelager. Die niemand kannte außer ihnen, weshalb sie sich dort ihr Lager gebaut hatten. Ihr eigenes Reich – versteckt hinter Stapeln alter Zeitungen. Sie schliefen auf groben Packdecken, eine kleine Öllampe spendete Licht und mit der Hilfe von allerhand Fundgegenständen hatten sie es sich hier gemütlich gemacht. Ein großer Koffer diente ihnen als Tisch, ihre Hocker waren Bücher, die von müden Reisenden vergessen worden waren. Und in einem Kinderwagen aus Weidenkorb bewahrten sie ihr Essen auf, eingeschlagen in mit Bienenwachs behandelte Tücher. Käse, etwas Brot, all das, was die Reisenden zwischen den Bänken und unter den Sitzen liegen ließen. Sie hatten nicht viel, aber wenn einer von ihnen etwas fand, teilte er es mit seinen Freunden. Und trotzdem schliefen sie oft genug hungrig ein. Darauf vertrauend, dass der nächste Tag besser werden würde als der vergangene.
Manchmal aber, wenn es sich ergab, schlief Joshua in einem richtigen Bett. Eine kleine, aber trockene Liege in einem winzigen Raum hinter der Wäschekammer. Beim Doktor, drüben, in Soho, der ihn dort schlafen ließ, wenn er seine Hilfe brauchte. Wenn er, Joshua, die Patienten, die nach den medizinischen Eingriffen unter der neuartigen Narkose des Arztes wie betrunken torkelten, nach Hause begleitete. Oder weil es spät war oder so kalt, dass das Hausmädchen Mitleid mit ihm hatte, und ihm erlaubte, sich nach dem Dienst für den Doktor an dem warmen und trockenen Platz niederzulegen. Damit er nicht durch die dunkle Stadt, nach Lambeth, über den Fluss, zurück zur Waterloo Station laufen musste.
Der Doktor steckte ihm ab und an ein paar Pence zu, als Dank für seine Mühen. Es war nicht viel, aber er legte es zur Seite, wie all das Geld, das ihm übrig blieb. Für seinen Traum. Den Traum von einem Pferd. Einem richtigen, großen Pferd. Schwarz sollte es sein. Oder zumindest dunkelbraun! Wild und stark. Ihn tragen, mit donnernden Hufen, durch die Stadt, über das Land, ihn und die eiligen Briefe, die er austragen würde. Ein Bote wollte er werden. Ein Bote der Königin Viktoria, im Dienste des Buckingham Palace.
Genau wie der Junge mit der roten Uniform und der verschlossenen Ledertasche, eng an seinen Körper gepresst, der eines Tages vor den Augen von Josh aus dem Palast der Königin geprescht war. Tief gebückt über sein Pferd, das ihn im gestreckten Galopp und mit trommelnden Hufen über das Kopfsteinpflaster davongetragen hatte.
Er seufzte. Ob er je wieder reiten würde? Er liebte Pferde, ihren Geruch, ihre Stärke. Und doch spürte er einen Kloß im Hals, als er daran dachte. Er schüttelte sich und wischte die Traurigkeit hastig beiseite.
Vor ihm, auf dem Rücken des Wasserspeiers, lagen seine heutigen Einnahmen, Münzen, die in den letzten Strahlen der Sonne rot aufblitzten. 21 Pence. Das war alles, was ihm nach einem langen Tag geblieben war. Geld, von dem er morgen früh wieder Zeitungen besorgen musste, um sie an die Reisenden weiterzuverkaufen. Wenn er Glück hatte, würde er ein paar Münzen in die Tabakdose hinter dem kleinen Koffer in ihrer Nische stecken können. Wenn die Menschen ihm nur genug Zeitungen abnehmen würden. Wenn es ihm nur gelingen würde, die wohlhabenden Männer und Frauen davon zu überzeugen, dass in der London Times so viel Wichtiges, Spannendes, Unterhaltsames oder Schreckliches stand, dass sie die aktuelle Ausgabe unbedingt kaufen und lesen mussten!
Er holte tief Luft und wollte eben die Münzen wieder einsammeln, als ihn ein seltsames Geräusch innehalten ließ.
Ganz schwach nur hatte er es gehört.
Ein Winseln. Ein Wimmern.
Weinte da ein ... Kind?
Da. Noch einmal.
Nein. Das war kein Mensch.
Beunruhigt schielte er nach unten. Tief unter ihm lag der Themsestrand in der Dämmerung. Es war Ebbe und der Fluss hatte die schmierigen, schwarzen Steine freigegeben, an denen man an so manchem Morgen die Leichen der letzten Nacht finden konnte.
Die Betrunkenen.
Die Kranken.
Die Mordopfer.
Die Verzweifelten.
Der Mann aber, den er nun unten am Kiesstrand beobachtete, lebte. Josh konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil die Sonne nun schon so tief stand, dass die Häuser auf der anderen Seite des Flusses den Themsestrand bereits in ihre Schatten tauchten. Aber Joshua sah, dass der Mann einen Sack aus grobem Tuch trug, und dass darin etwas zappelte. Der Mann blieb stehen, ganz nah am Wasser, und schlug wie beiläufig das Bündel auf die schwarzen Steine. Und wieder hörte Josh das Geräusch: ein kleines, schmerzerfülltes Heulen. Ein gedämpftes Weinen. Dann holte der Mann Schwung und warf den Sack in hohem Bogen in den träge dahinströmenden Fluss.
Drehte sich um und stapfte davon.
Teilnahmslos.
Nein.
Zufrieden.
Josh zögerte keine Sekunde. Sein Herz hatte sich schmerzhaft verkrampft, als er das angsterfüllte Klagen der verzweifelten Kreatur gehörte hatte. Er raffte seine Münzen zusammen, sprang auf und rannte auf dem Dach den Sims entlang, folgte der Strömung des Flusses. Dabei versuchte er, den Stoffsack nicht aus den Augen zu verlieren. Er konnte es nicht genau erkennen, aber in dem Sack, der auf den Wellen tanzte, schien es heftig zu strampeln. Er musste aus festem Leinen sein, sonst hätte er sich schon längst vollgesaugt. Mit ein bisschen Glück würde es noch etwas dauern, bis er vom Fluss verschluckt wurde. Mit allem, was er in sich trug. Josh lief, so...