Mischkulnig | Schwestern der Angst | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

Mischkulnig Schwestern der Angst

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-7099-7479-7
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

ISBN: 978-3-7099-7479-7
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als Kinder sind Marie und Renate unzertrennlich. In einer Familie, die geprägt ist von Verlust und Misstrauen, schafft Renate für ihre Schwester eine eigene Welt aus der Sehnsucht nach Unversehrtheit und Glück. Doch dann, Jahre später, tritt Paul in das Leben der Mädchen und spaltet ihre vermeintliche Einheit. Von beiden umworben, entscheidet er sich für Marie - und plötzlich kippt die liebende Fürsorge Renates in Hass und subtil tobenden Zorn. Je tiefer der Graben zwischen den Frauen wird, umso gefährlicher verzerrt sich Renates Blick auf die Welt. Sie heftet sich dem Paar an die Fersen, verfolgt ihre Schwester, überwacht sie zuerst aus der Distanz, rückt dann aber unaufhaltsam näher - bis zur letzten Konsequenz. In kunstvoller Sprache und mit ungeschminktem Blick nimmt Mischkulnig die Perspektive Renates ein, eine Perspektive, in der sich Wirklichkeit und Paranoia überlagern.

Lydia Mischkulnig, geboren 1963 in Klagenfurt, lebt und arbeitet in Wien. Mehrfach ausgezeichnet, u.a. Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1996), Manuskripte-Preis(2002), Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien (2007), Österreichischer Förderpreis für Literatur (2009), Joseph-Roth-Stipendium (2009). Bei Haymon erschienen: 'Hollywood im Winter'. Roman (1996), 'Macht euch keine Sorgen'. Neun Heimsuchungen (2009) und 'Schwestern der Angst'. Roman (2010).
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


I


Die Firma, bei der ich arbeitete, produziert Trickfilme für einen Konzern. Ein Projekt bewarb Medikamente, mit denen sich die Intelligenz steigern lässt. Das menschliche Gehirn ist eine Goldgrube. Digitale Effekte können seine Leistungen erklären. Die Vorarbeiten zum Trickfilm führten Regisseur, Assistenten und sogar mich in die Tiefen der menschlichen Psyche.

Die pharmazeutische Abteilung des Konzerns hatte dazu Fachzeitschriften geschickt. Ich schmökerte schon eine Weile darin, obwohl ich selbst nur für die Werbefilme banaler Nahrungsmittel zuständig war. Wie durch magische Kraft angezogen, blätterte ich immer schneller. Glückshormone tummeln sich im Synapsenspalt und treiben uns zur Höchstleistung an. Irgendetwas lockte mich. Mein Gehirn war durch das Wort „Glück“ stimuliert. Ich befeuchtete die Spitze des Zeigefingers, um die Blätter besser in den Griff zu bekommen. Dann ertappte ich die Seite, nach der ich suchte, die Substanz, diesen besonderen Botenstoff, der mich bis aufs Äußerste reizte, der gemischte Gefühle auf höchstpersönlicher Ebene erregte und mich süchtig machte. Keine leistungssteigernde Droge, keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern ein simples Interview. Ein Festredner und eine Festrednerin waren abgebildet, unter den Porträts standen die Namen.

Ich erkannte Marie sofort, obwohl ich sie seit Jahren nicht mehr aus der Nähe zu Gesicht bekommen hatte. Sie trug eine Brille. Ich las den Bericht über Serotonin mit angehaltenem Atem. Marie hielt offenbar Vorträge auf Englisch und Französisch. Sie war Professorin und wurde als Koryphäe unter den forschenden Ärzten des Konzerns bezeichnet. Der Mann an ihrer Seite war der, den ich für mich erwählt habe, Paul.

Ich erhob mich von meinem Schreibtisch und ging in die Betriebsküche, trank Wasser, um das aufgebrachte Gemüt zu kühlen. Dann ging ich ins Büro meiner Chefin. Sie war nicht an ihrem Platz. Ich öffnete die Lade des Schreibtisches und zog die Lupe hervor, mit der sie das Kleingedruckte auf Rechnungen studiert. Ich legte die Lupe auf die Gesichter der Festredner und beugte mich, den Fokus auf die Münder richtend, hinunter. Im Bildtext wurden Marie und Paul als Paar bezeichnet, doch von Ehe war nicht die Rede. Sie glichen einander nicht durch die gemeinsam verlebte Zeit, sondern durch die Dünnlippigkeit. Marie hatte einst sinnliche Lippen gehabt und Paul auch, soweit ich mich erinnerte. Immerhin besaß er noch sein energisches Kinn. Ich entdeckte in den Zügen bitteren Ernst. Beide Sprecher waren durch engagierte Strenge gezeichnet. Die Lupe verrutschte und die Buchstaben verdeutlichten: Marie war nicht nur Ärztin, sie wurde dazu auch noch als modebewusste und attraktive Wissenschaftlerin vermarktet.

Gewiss, ich war eifersüchtig und aggressiv wegen Paul gewesen, aber dass sie so nachtragend sein würde, meine Marie, hätte ich nicht vermutet. Im Interview stand kein Hinweis auf mich. Wie konnte meine Schwester so gemein sein und mich aus ihrer Karriere löschen, indem sie meine Identität verschwieg. Man fragte sie im Interview, weshalb sie sich mit Neurophysiologie befasse. Und was für ein Gefasel über das Geheimnis der Seele des Menschen gab Marie hier zum Besten? Peinlich. Wir wussten es beide besser: Ich war der Anlass für ihre besondere Hingabe an dieses Fach. Sie verstieß in weiteren Sätzen nicht nur gegen mich, sondern auch gegen meine Würde als Frau, denn alle Ermutigungen, die sie in ihrem Leben erfahren hätte, verdanke sie ausschließlich dem Zufall und Pauls Förderung, sagte sie. Ihre Familienverhältnisse beschrieb sie als eng und erstickend. Meine Sorge um sie handelte sie als „Unterdrückung durch gewisse Familienmitglieder“ ab. Das konnten unmöglich die Worte meiner Marie sein. Paul sprach aus ihrem Mund. Er stand ja zwischen uns, er hat uns entzweit.

Das Telefon klingelte, die Chefin riss mich aus meiner Betrachtung. Sie brauchte mich für einen anderen Werbefilm, Tierfutter, der am nächsten Tag gedreht werden würde. Kostüme und Requisiten mussten noch besorgt werden. Ich war zuständig für diese Nebensache, zog mich warm an. Draußen schneite es, pünktlich zur Adventszeit.

Als Marie auf die Welt kam, sie sich mir als Familie schenkte, steckte ich mich zu ihr unter die Decke, um sie zu wärmen in jener kalten Jahreszeit. Im Bett schwor ich, sie nie zu verlassen. Die kalten, nackten Wände im Haus hauchten uns an. Marie schlang ihre Ärmchen um meinen Hals und ich drückte das zarte Körperchen an mich. Marie roch nach Vanille, Puder und Creme. Sie trug einen flauschigen, blau gestreiften Pyjama. Dieses Design gilt als Klassiker und garantiert anscheinend bis heute Umsatz. Marie nuckelte an ihrem Schnuller und grunzte zufrieden, wenn sie zum Einschlafen meine Stimme hörte. Ganz nah an ihrer süßen, wohlgeformten, anscheinend mütterlicherseits vererbten Form der Ohrmuschel erzählte ich von dem Dorf, in dem ich aufgewachsen war. Dort lebten nur alte Leute, Omas und Opas mit ihren Enkeln. Die Mütter arbeiteten als Putzfrauen im Ausland. Wir Enkelkinder waren eine kleine elternlose Gesellschaft. Im Bett mit Marie und angesichts der Ruhe, die das Kleinkind im Schlaf verbreitete, empfand ich ein intensives Wohlgefühl, in mir erwachende Liebe für jemand Anvertrauten, als hätte meine Mutter ihren Wahn, ich wäre ihr mobiles Eigentum, durch Marie wieder gutgemacht. Ich war nun auch Besitzer von jemandem.

Was erwartete sich dieses Baby von einem Mann? Noch dazu einem wie Paul. Er war ein perverses Schwein. Ich musste aufpassen, nicht im Büro auszuflippen. Ich wusste, dass ich unter dem Verlust von Marie sehr litt und dazu neigte, meine Enttäuschung in Wut umzumünzen und diese auf einen Menschen zu übertragen. Vielleicht war Paul nicht der Sündenbock, zu dem ich ihn machte. Ich hatte mich damit abgefunden, Maries Unabhängigkeit zu akzeptieren, doch das war nichts gegen den jetzigen Schmerz, sie an ihn verloren zu haben.

Ich konnte mich schon ganz gut beherrschen und Impulse zur Kontaktaufnahme weitestgehend unterdrücken. Aber damit war es vorbei, als ich sie in der Zeitung sah. Marie war also wieder aufgetaucht aus meinen Tiefen. Auch wenn ich sie nicht mehr belästigte, meine Gedanken waren ein Gefängnis für mich.

Die Chefin hatte mir den Auftrag erteilt, ein Kleid für unsere Schauspielerin zu besorgen, ein klassisches Modell, nichts Ausgefallenes. Sie herrschte mich an. Kein Wunder, dass ich nicht wusste, wo mir der Kopf stand, dass ich Fehler machte und der Versuchung nicht widerstehen konnte, meine Schwester aufzuspüren, wenn sie so berühmt war, dass sie mich in der Fachliteratur zu Trickfilmen für pharmazeutische Produkte heimsuchte. Ich fühlte mich schwer wie der Stein, der meiner Schwester vom Herzen gefallen zu sein schien.

So stand ich also im Kaufhaus und suchte das richtige Kostüm für unsere kleine Darstellerin. Ein blaues Kleid mit weißen Tupfen. Die Kinderabteilung lag im dritten Stock. Die Fenster zeigten Richtung Norden. Die gegenüberliegende Hausfassade war etwas mehr als dreißig Meter entfernt. So nahe durfte ich ihr gar nicht kommen. Wenn ich ans Fenster trat, überschritt ich bereits eine Grenze.

Ich suchte nach der passenden Kleidergröße für die Darstellerin. Eine Verkäuferin beriet mich, ging mit dem Entwurf der Kostümbildnerin ins Lager, um vergleichbare Modelle zu holen. Sie war jung, aber freundlich.

Ich lenkte mich ab, suchte in den Körben nach Sonderangeboten und fand ein paar blaue Kleider mit Punkten. Das Fenster war verhängt. Ich fischte weiter in den Stoffen herum. Die Verkäuferin kam wieder und zeigte die Ware aus dem Lager. Ich behauptete, dass dieses Kleid nicht schick wäre, und hielt ihr mein Fundstück hin.

Das sehe ja aus wie ein Sträflingsgewand, sagte sie.

Ich war überrascht, Punkte erinnern doch nicht an Gitterstäbe. Und dann erschrak ich. Wie konnte denn das passieren, dass ich plötzlich einen blau gestreiften Pyjama in der Hand hielt und dabei doch das blau getupfte Kleid ausgesucht zu haben glaubte. Ich schüttelte den Kopf und stammelte etwas von schlechtem Licht. Ich vertuschte meine Verwirrung, befühlte den Stoff, prüfte das Material, gab vor, dass ich ja zusätzlich auch einen Pyjama für ein Mädchen suche.

Der Pyjama sei aber viel zu klein, meinte die Verkäuferin, der sei für ein Baby. Ein Mädchen sei kein Zwerg.

Die Verkäuferin legte das Modell auf den Haufen Wäsche zurück. Die Etiketten drückten sich durch den weichen Stoff. Der Pyjama war gestreift und mit Rüschen um den Kragen verziert. Wie ein Zeichen aus der Vergangenheit, solange ich nicht endgültig mit ihr abrechne. Unbändige Freude erfüllte mich, als läge Glück in diesem Haufen vor mir. Ich war versucht hinzugreifen, spürte ein Kitzeln in der Hand wie von Seidenpapier, als ich die Rüschen berührte und das Gefühl hatte, Geschenke auszupacken. Mir wurde heiß und übel gleichzeitig, Schwindel befiel mich, und deshalb wirkte ich wohl unwirsch, als ich die Verkäuferin aufforderte, mir das...


Lydia Mischkulnig, geboren 1963 in Klagenfurt, lebt und arbeitet in Wien. Mehrfach ausgezeichnet, u.a. Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1996), Manuskripte-Preis(2002), Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien (2007), Österreichischer Förderpreis für Literatur (2009), Joseph-Roth-Stipendium (2009). Bei Haymon erschienen: "Hollywood im Winter". Roman (1996), "Macht euch keine Sorgen". Neun Heimsuchungen (2009) und "Schwestern der Angst". Roman (2010).



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