Mittmansgruber | Verwüstung der Zellen | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 474 Seiten

Mittmansgruber Verwüstung der Zellen


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-903081-04-8
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 474 Seiten

ISBN: 978-3-903081-04-8
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Eine existenzielle Verfallsgeschichte ist immer auch eine körperliche Verfallsgeschichte. In zwei miteinander verknüpften Erzählsträngen berichtet Markus Mittmansgruber in seinem Debütroman Verwüstung der Zellen vom Niedergang einer Familie. Der Vater, gezeichnet von schwerer, degenerativer Krankheit, spricht seinen Nächsten unter Selbstmorddrohung das Recht auf weitere Besuche ab. Während die Mutter dieses Gebot bedingungslos zu akzeptieren scheint und sich zunehmend isoliert, wird der Sohn von Phantomgeräuschen und Angstgefühlen geplagt; er vermutet ein großes, unausgesprochenes Familiengeheimnis und macht sich auf die Suche …
Sprachlich prägnant und ungerührt zeigt Mittmansgruber nicht nur die familiären Verwerfungen der Protagonisten auf, sondern hinterfragt – vor allem durch die Einführung eines Wiedergängers, der als tatsächliche oder metaphorische Figur gelesen werden kann – Brüche und Verödungen in unserer heutigen Gesellschaft.

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Kapitel 1
der körper ist einmal zu oft und zu laut von innen gegen die wohnungstür gelaufen. nachbar jürgen hatte die unregelmäßigen dumpfen stöße gegen das holz satt. er drückt jetzt mehrmals den klingelknopf, drinnen schrillt es, beim letzten mal einige sekunden durchgehend. er bekommt weder eine antwort noch wird ihm geöffnet. er holt den vermieter aus dessen wohnung im obersten stockwerk. der vermieter begleitet jürgen mit einem zweitschlüssel, dieser klackert beim drehen im schloss. als sich dann nach der öffnung der tür die eigenen zähne tief in den hals von jürgen bohren und der körper das lebende fleisch zu kauen und das blut zu schlucken beginnt, stellt sich für einen kurzen moment so etwas wie eine ahnung ein, ein trüber, entfernter schatten: dass ich tot bin, gestorben, und gleichzeitig noch am leben irgendwie. und der schatten verschwindet wieder und streicht bei seinem verschwinden die kategorien der situation durch und weicht ihren schrägstrichabstand auf: lebendig/tot. der körper benimmt sich, als ob er wochenlang in der wohnung gelegen oder dort auf und ab gegangen wäre, vielleicht auch monate. die haut ist steif wie pergament und backpapierfarben geworden, an einigen stellen bläulich, mit purpurnen flecken. die hinteren backenzähne sind verloren gegangen. haare sind ausgefallen, vor allem auf der rechten schädelseite. die fingernägel stehen wie krallen über die kuppen. und ein knöchel ist gebrochen, der rechte: der körper zieht den geknickten, nutzlos gewordenen fuß nach. die linke hand ist nicht mehr vollständig, mittelfinger und zeigefinger sind stummel, entweder hat sich ein tier daran zu schaffen gemacht oder der eigene kauapparat hat selbst daran genagt. der verwesungsgrad der muskeln hält sich in grenzen. von den inneren organen ist nicht mehr viel übrig, teile der innereien sind flüssig oder breiartig, sie schwappen weich und widerstandslos innen gegen die hautwände, der zwölffingerdarm zum beispiel. larven eines speckkäfers haben in einer offenen wunde am rechten oberschenkel platz genommen. öffnungen sind von schmeiß–, fleisch- oder buckelfliegen besiedelt, die ihre kreise ziehen, bei den ohren und in nächster nähe zur ausgetrockneten nasenschleimhaut. aber sie summen nicht nur dort, sondern auch abseits des körpers, weiter hinten im raum, über dem tisch, wo ein azurblau getöntes, halbleeres mineralwasserglas steht. der vermieter ist wieder fort, ein stockwerk höher geflüchtet, in seine wohnung. die tür hat er dreimal laut verriegelt. jürgen liegt ausgestreckt auf der fußmatte, ihre borsten beginnen sich zu verfärben, der eigene kiefer mahlt und frisst ohne unterbrechung an ihm. er weidet ihn aus. irgendwann lässt die gier nach. das eigene weiße t-shirt mit einer schwarz-weißen kate moss darauf und die verwaschene jeans sind mit dreck, staub, trockenem kot, trockenem und neuem, frischem, fremdem, noch nassem blut beschmiert, unterschiedlich dicke schichten in unterschiedlich schillernden rottönen, an manchen stellen schuppen diese bereits, wie sich auch die pergamenthaut an manchen stellen schält. nackte fußsohlen. die beine bewegen sich über die treppe nach unten, 2. stock, 1. stock, mezzanin, erdgeschoss, richtung hauseingang. die grüne tür ist halb offen, sie hängt an einer erhabenen bodenfliese fest. ein hindurch und hinaus auf den gehsteig ist möglich. die arme sind nutzlose verlängerungen, sie verhalten sich unkoordiniert und ohne beziehung zum restlichen Organismus, baumeln spannungslos. niemand ist unterwegs, kein lärm, ein neutraler tag. dahinschlurfen auf dem asphalt, dahin, da hin, die worte „richtung“ oder „ziel“ haben alle bedeutungen verloren, so wie „jahreszeiten“ oder „ich“. „ich“ trifft keine entscheidung, ob links oder rechts. es ist weit unter einer glasglocke und von dort aus nur träumend dabei, ohne einzugreifen, stumm, unbeteiligt, zuschauer, weniger als passiv, nicht einmal auf dem beifahrersitz, sondern außerhalb, hinter dem fenster, ohne zu beobachten, in der ferne, ein autopilot, eine körper-maschine, das „ich“ ohne ich, schlafwandelnd in materie, aufgegangen in ihr, eine leerstelle, ein wiedergänger, oder ein verdichteter punkt, ein massepunkt: •. erste person singular, ein massepunkt. •. erster fall, zweiter, dritter, vierter fall. jeder fall. ein massepunkt, der in sich versunken ist, der wütet, aber ohne das dazugehörige gefühl. alles, was der fall ist, ein massepunkt. er hat sich vorgeschoben, ein mond, der • hat das „ich“ ersetzt. fremde wahrnehmungen, die einem anderen gehören, der sich ihrer ebenso nicht sicher ist. stille atmosphäre, die hauptstadt. eine breitere straße öffnet sich vor dem •, stadtgürtel, dreispurig. körper, ganze figuren oder nur halb vorhandene, manche ohne beine, aufrecht gehend, gebückt gehend, kriechend, hinkend, robbend. die gestalten bewegen sich ohne system oder muster über und entlang und an den seiten der straße. sie touchieren sich, ohne sich zu berühren. die weißen bodenmarkierungen und die schilder mit den verkehrszeichen und den straßennamen leuchten dem • aus einer anderen zeit entgegen. gesprochen wird nichts. die zunge haben die maden weggeschleppt. für • ist jeder buchstabe eine unmöglichkeit. kein wort in rachen und kopf und über den trockenen lippen. an sprechen ist nicht mehr zu denken. an denken auch nicht. „Ich würde gern mein Gehirn tapezieren können“, sagte er zu ihr. „So von innen. Die Wände und die langen grauen Gänge. Mit schalldichter weißer Tapete. Weißt schon, ohne Schnörkel. Und erst recht ohne diese grässlichen Blumenmotive. Oder mit leeren Eierkartons … ja, das könnte ich mir auch gut vorstellen. Wie in den improvisierten Amateurtonstudios.“ Sie lagen auf dem Bett, sein Kopf auf ihrem Bauch, ein großes T. Sie waren vor wenigen Minuten vom Kino nach Hause gekommen, eine Nachmittagsvorstellung. Am Ende des Films hatte sich der Hauptdarsteller eine Kugel in den Kopf geschossen. Guter Film. Kein Happy End. Mit seinen Versponnenheiten und Gedankenspielereien konnte er sie zum Lachen bringen, das wusste er. Wenn er so vor sich hin fantasierte. Da waren sie sich ähnlich, im Fantasieren, sie neigte auch dazu. Sie studierten beide Philosophie als Hauptfach, in einer Vorlesung hatten sie sich kennen gelernt. „Zum Begriff der Monade: Von Plotin bis Freud“. Sie waren im Hörsaal 32 nebeneinandergesessen, beide Linkshänder. Das Mitschreiben ihrer linken Hände hatte genügt, um während der eineinhalb Stunden flüsternd ins Gespräch zu kommen. Dieses Mal lachte sie nicht. „Warum?“, fragte sie. „Keine Ahnung“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, weil ich ab und zu glaube, der Lärm da drinnen, der ist so unglaublich laut, den hört man sicher auch draußen. Geht ja gar nicht anders bei dieser Lautstärke. Aber ich will niemandem auf die Nerven gehen. Verstehst du? Ich will niemanden stören.“ Pause. Draußen klingelte die Straßenbahn einen Fußgänger oder ein lästiges Auto zur Seite. „Ich möchte nach Afrika“, sagte sie. „Nach Mosambik. Oder nach Laos. Oder am liebsten, am liebsten wär mir Brasilien, Manaus, zum Amazonas. Fitzcarraldo, du weißt schon. Burden of Dreams und so.“ „Spielt der nicht in Peru? Fitzcarraldo, meine ich. Doch, ja, der spielt in Peru, in Isqui… Iquitos. Da bin ich mir …“ „Dort gibt es eine Stelle, an der sich der Rio Negro und der Rio Solimões vermischen, schwarzes und weißes Wasser. Klingt schön, oder? Im August, spätestens. Das geht dann auch vom Wetter her einigermaßen, soweit ich weiß. Was denkst du? Sag mal.“ Längere Pause. „Warum?“, fragte er und spürte, dass sie sich bewegte, dass sie ihren Oberkörper leicht aufrichtete. „Mal weg. Raus aus der Routine. Tapetenwechsel.“ Sie lachte und wurde gleich wieder ernst. „Das wird uns gut tun“, sagte sie. „Mal was anderes sehen. Und Zeit für uns. In der wir uns beide noch besser kennenlernen können.“ „Wir kennen uns jetzt über zwei Jahre“, sagte er. „Das ist schon eine ganze Zeit, finde ich. Oder nicht?“ „Ja, sicher“, sagte sie, „aber ich meine so richtig kennenlernen, anders kennenlernen, unter anderen Bedingungen. Und ich möchte mich selbst auch besser kennenlernen. Die eigenen Grenzen austesten, verstehst du? Im Regenwald kann man das. Verzichten, die Einfachheit, weißt du? Die Zivilisation und das ganze System mal hinter mir lassen und mal mitkriegen, wie Menschen woanders leben und überleben. Zum Beispiel in den Favelas von Rio. Die Einheimischen am Rio Urubu. Oder … oder wir fliegen nach Papua-Neuguinea, zu den...


Markus Mittmansgruber, geboren 1981 in Linz, studierte Philosophie an der Universität Wien. Veröffentlichungen in diversen Literaturzeitschriften (u.a. Kolik, Die Rampe, Podium). Er arbeitet seit 2006 als freier Mitarbeiter bei einem Wissenschaftsverlag in Wien. Teilnehmer der Autorenwerkstatt 2015 am Literarischen Colloquium Berlin.
„Verwüstung der Zellen" ist sein Debütroman.

Titel bei Luftschacht: Verwüstung der Zellen (2016)



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