E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Möckelmann Transit Istanbul–Palästina
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8062-4578-3
Verlag: wbg Theiss
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Juden auf der Flucht aus Südosteuropa
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-8062-4578-3
Verlag: wbg Theiss
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reiner Möckelmann war langjähriger Diplomat in Ankara, Belgrad, Istanbul, Moskau und Wien. Er ist Autor einer Monografie über die Exiljahre von Ernst Reuter in der Türkei, einer ausgesprochen hochgelobten Biografie zu Franz von Papen sowie einer Biografie über die Bismarck-Enkelin und Widerstandskämpferin Hannah von Bredow.
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Einleitung 9
I Deutsches Reich und Südosteuropa
1 Das Schlusseljahr 1938 19
2 Geforderter Exodus: Transferabkommen und illegale Einwanderung 27
3 Erzwungene und freiwillige Ubernahme der "NS-Judenpolitik" in Sudosteuropa 35
II Schaltstelle und Drehscheibe
Istanbul
4 Neutrale Turkei und "Judenpolitik" 89
5 Politischer Rahmen fur Hilfs- und Rettungsaktivitaten 99
6 Jewish Agency und Hilfskomitee
der judischen Gemeinde in Istanbul 111
7 Schwimmendes Getto vor Istanbul: Die Tragodie der Struma-Fluchtlinge 117
8 Austausch von Juden gegen Palastinadeutsche in Istanbul und die Folgen 133
9 JA-Rettungskomitee in Istanbul und britische Palastinapolitik nach 1942 144
10 Kinder- und Jugendtransporte
nach Palastina 160
11 Organisationszentrale Istanbul 182
12 Freikauf von Juden aus Sudosteuropa 202
13 Der Kampf um das Uberleben der ungarischen Juden 230
14 Herausforderungen gegen Ende des Krieges 246
III Erinnerungskultur und Gedenkpolitik
15 Deutschland: Die "Meistererzahlung"
des Franz von Papen 271
16 Turkei: Der Mythos einer Retter-Nation 278
17 Sudosteuropa: Umgang mit Erinnerung in den postsozialistischen Staaten 288
Nachwort 301
Dank 309
Kurzbiografien 310
Anmerkungen 317
Abkurzungsverzeichnis 343
Archive und Quellen 344
Literaturverzeichnis 346
Personenregister 364
Bildnachweis 368
EINLEITUNG
Am 5. Januar 1943 verließ ein Zug mit 50 ungarisch-jüdischen Kindern und Jugendlichen Budapest, die Hauptstadt des mit dem Deutschen Reich verbündeten, aber noch unbesetzten Ungarn. Die Bahnfahrt führte zunächst in das türkische Istanbul und dann ins britische Mandatsgebiet Palästina, in die Stadt Haifa. Istanbul war seit 1940 Zwischenstation für die verfolgten Juden Südosteuropas auf dem Weg nach Palästina. Die Vertretung der Jewish Agency (JA) in Jerusalem unternahm in den Kriegsjahren alles erdenklich Mögliche, um die verfolgten Juden, insbesondere Kinder, aus den deutsch besetzten Ländern zu retten – zunächst ab 1939 aus Polen, ab 1940 auch aus Frankreich und dem Balkan, ab 1941 aus dem Westen der Sowjetunion (in den Grenzen des Hitler-Stalin-Paktes).
Die JA war Ansprechpartnerin für die britische Mandatsverwaltung in Palästina und laut Völkerbundmandat die offizielle Vertretung der Juden vor Ort. Die Dependance in Istanbul bildete eine Brücke zwischen den südosteuropäischen jüdischen Gemeinden und Jerusalem, für das Istanbul auch ein Fenster zum deutsch dominierten Balkan wurde.
Vor diesem Hintergrund ist es Ziel der vorliegenden Arbeit, die im deutschen Sprachraum wenig bekannte Rolle der Türkei als Schaltstelle zwischen Südosteuropa und Palästina sowie als Drehscheibe für Austauschaktionen von Palästinadeutschen mit europäischen Juden zwischen 1940 und 1945 zu untersuchen.
Dank enger Kontakte in die Türkei und nach Israel sowie aufgrund zahlreicher Dokumente war es möglich, sich auf die konkrete Rolle von Mitarbeitern der JA in Istanbul, von einheimischen und amerikanischjüdischen Hilfskomitees sowie von Diplomaten der neutralen und alliierten Staaten in der Türkei zu konzentrieren. Außerdem sollen die Vertreter des Vatikans, des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) sowie die deutschen Wissenschaftsemigranten in den Blick genommen werden.
Grundlegende Forschungsergebnisse zur legalen und illegalen Einwanderung aus Südosteuropa nach Palästina während des Holocaust finden sich bereits früh in Werken mehrerer israelischer Historiker und Historikerinnen; etwa in den mehrbändigen Abhandlungen der Historikerinnen Dalia Ofer und Dina Porat aus dem Jahr 1990.1 In seinem zweibändigen Werk Arrows in the Dark konzentriert sich der israelische Holocaustforscher Tuvia Friling 2005 auf die Entscheidungsträger in Palästina und deren Rettungsaktivitäten.2 In späteren Aufsätzen gehen Dalia Ofer und Tuvia Friling speziell auf das Zusammenwirken der JA in Jerusalem mit ihrer Außenstelle in Istanbul bei Hilfs- und Rettungsaktionen ein.3 Deren Erfolg stellt der israelische Historiker Schlomo Aronson im Jahre 2004 grundsätzlich infrage.4 Unter dem Vorzeichen der illegalen Immigration beschreibt der israelische Diplomat und Politiker Ehud Avriel aus persönlichem Erleben schon 1976 die Rolle der JA-Delegation in Istanbul.5
Die Rolle der Türkei bei der Rettung europäischer Juden hingegen nimmt erstmals 1993 der seinerzeit in der Türkei lebende US-Historiker Stanford J. Shaw umfänglich in den Blick; allerdings auf der Basis selektiv zugänglich gemachter türkischer Dokumente.6 1999 erschien von dem türkischen Historiker Rifat N. Bali sein erstes Buch zum Thema Judenverfolgung. Bilai Simsir, türkischer Diplomat und Historiker, publizierte 2010 zwei Bände über die türkischen Juden sowie zu den über die Türkei flüchtenden Juden – Letzterer, ebenso wie Shaw, mit der Tendenz einer übermäßigen Einschätzung des türkischen Beitrags an der jüdischen Migration.7 Die deutsche Historikerin Corry Guttstadt veröffentlichte im Jahre 2008 eine umfassende Arbeit über die wechselvolle Geschichte der Juden im Osmanischen Reich und in der Türkei während des Holocaust.8 Sie widerlegt darin viele Aussagen Shaws und hebt eine restriktive Politik Ankaras gegenüber türkischen Juden inner- und außerhalb der Türkei sowie gegenüber jüdischen Flüchtlingen hervor. Der türkisch-amerikanische Historiker Izzet Bahar vertiefte in den Jahren 2015 und 2016 das Thema der Rettung türkischer Juden in Europa.9 Speziell zum Transit von Juden durch die Türkei nach Palästina publizierten in jüngerer Zeit der türkische Historiker Hakan Güngör und der türkische Journalist Yakup Barokas. Güngör hebt wie zuvor Shaw und Simsir den offiziellen türkischen Beitrag hervor, ohne auf ausländische Quellen zurückzugreifen. Barokas stützt sein Buch ohne Angabe weiterer Quellen auf transkribierte mündliche Interviews.10 Ein Porträt des Hilfs-, Rettungs- und Spionagezentrums Istanbul während des Zweiten Weltkriegs zeichneten die US-Politologen Barry Rubin und Charles King in den Jahren 1991 bzw. 2014.11
Früh, im Jahre 1964, untersuchte der deutsche Militärhistoriker Jürgen Rohwer dramatische Ereignisse wie den Untergang des Flüchtlingsschiffs Struma, der größten zivilen Schiffskatastrophe des Zweiten Weltkriegs mit knapp 800 Opfern. Die Tragödie ereilte überwiegend rumänische Juden, die unter unmenschlichen Bedingungen auf dem Weg nach Palästina mehr als zwei Monate vor Istanbul festgehalten wurden. Mit wenigen Ausnahmen wurden sie im Februar 1942 Opfer des Schiffsuntergangs durch Torpedobeschuss im Schwarzen Meer. Bis in die jüngere Vergangenheit schilderten Historikerinnen und Historiker, Literaten und Journalisten mehrerer Länder die Ereignisse.12 Dem aufopferungsvollen Einsatz Einzelner in Istanbul sowie der Aufarbeitung der Tragödie in der Türkei wurde bislang wenig Raum gegeben.
Über die Drehscheibe Istanbul gelangten von Ende 1941 bis Mitte 1944 mehrere Transporte mit europäischen Juden im Austausch gegen Palästinadeutsche in ihre „Heimstatt“. Den folgenreichen zweiten Austausch schildert der deutsche Journalist Klaus Hillenbrand im Jahre 2010.13 Durch Aussagen polnischer Teilnehmer gelangten nämlich Mitte November 1942 die ersten authentischen Nachrichten über den Warschauer-Getto-Aufstand und über Vernichtungsaktionen im Konzentrationslager Treblinka nach Palästina. Die alarmierenden Zeugnisse hatten weitreichende Folgen, denn sie trugen maßgeblich dazu bei, dass zwölf Regierungen in der Alliierten Erklärung zur Vernichtung der Juden vom 17. Dezember 1942 erstmals die Weltöffentlichkeit auf die mörderische Politik des Deutschen Reichs aufmerksam machten.
Eine Vielzahl weiterer jüngerer Dokumente ermöglicht zusätzliche Einblicke in die umfangreichen Aktivitäten des Hilfs- und Rettungskomitees in Istanbul. Dies gilt insbesondere für drei Kinder- und Jugendtransporte vom Balkan über Istanbul nach Palästina im Frühjahr 1943. Auf Grundlage zahlreicher Schriftwechsel und Zeitzeugenaussagen beschrieb 2009 die kroatische Journalistin Ženi Lebl in diesem Zusammenhang die Rettungsbemühungen um kroatisch-jüdische Kinder und Jugendliche. Die bislang noch nicht ausgewertete Arbeit verdeutlicht anhand des intensiven Informationsaustauschs zwischen Zagreb und Istanbul das Ringen an beiden Orten um die Ausreise und Rettung einer letztlich enttäuschend geringen Zahl von jugendlichen kroatischen Juden.14 Größere Rettungsvorhaben zugunsten von jüdischen Kindern aus Südosteuropa scheiterten regelmäßig an der „Judenpolitik“ des Deutschen Reichs. Ab dem Jahre 1942 stand diese ganz im Zeichen der „Endlösung“.
Opfer der deutschen „Judenpolitik“ wurde auch der Transnistrien-Plan des rumänischen Staatschefs Ion Antonescu, ebenso wie der Slowakei-Plan und der Europa-Plan der jüdischen „Arbeitsgruppe“ in Bratislava. Die Pläne aus den Jahren 1942 und 1943 sahen Lösegeldzahlungen an die rumänische Regierung bzw. an SS-Vertreter in der Slowakei vor. Um größere Zahlungen zum „Freikauf “ von Juden ging es ein Jahr später in Budapest nach der deutschen Besetzung im März 1944 in den Verhandlungen zwischen Vertretern des jüdischen Hilfs- und Rettungskomitees und der SS.
Ausführlich behandelt der israelische Holocaustforscher Yehuda Bauer die Istanbul-Mission „Blut gegen Ware“ in seinem Buch Freikauf von Juden?15 Jüngere Dokumente erlauben es, die wichtige Rolle des Istanbuler JA-Rettungskomitees in diesem von den Nationalsozialisten vorgeschlagenen Tauschgeschäft zu belegen. Gleiches gilt für das sogenannte Horthy-Angebot vom Sommer 1944 zur Ausreise von Kindern sowie Inhabern von Einwanderungs-Zertifikaten aus Ungarn nach Palästina. Trotz großer Anstrengungen blieben beide ungarischen Rettungsvorhaben erfolglos.
Im Mittelpunkt der folgenden Darstellung stehen die zahlreichen Helfer, welche sich in der Türkei in jüdischen Hilfs- und Rettungsorganisationen, im Roten Kreuz, in Botschaften und Konsulaten sowie als Einzelpersonen für die verfolgten Juden in Südosteuropa, ihren Austausch und Transit durch die Türkei nach Palästina einsetzten.
In den entscheidenden fünf...