E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Möhring Drachen töten
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7469-4109-7
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-7469-4109-7
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
»Alle Geschichten sagen die Wahrheit, aber keine ist wahr. Die Geschichte ist immer der schillernde Drache, der seinen Schatz nicht preisgeben will. Er will selbst als die Wahrheit angebetet werden. Aber man muss ihn töten.«
Autoren/Hrsg.
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2»Ich dachte gestern abend, ich muss unbedingt mit dir reden. Ich dachte irgendwie, jetzt fange ich völlig zu spinnen an. Und dann warst du nicht da ...«
Schweigen in der Leitung.
»Und hinzu kommt ... Gott, ich bin wirklich mit meinem Latein am Ende ... weil ... also heute nachmittag kriege ich einen Anruf von Tim – du weißt schon, dieser ... Dings – und er erklärt mir rundheraus, als ob er einen vorbereiteten Text abliest, dass er es sich anders überlegt hat, er will sich doch nicht konfirmieren lassen, er bläst die Sache ab. Er hätte jetzt die ›weltanschaulichen Differenzen‹ begriffen, die ihn vom Christentum trennen. Ich war völlig baff, weil ... gut, er hat die ganze letzte Zeit schon quergeschossen, aber er war damit auch ein belebendes Element für die Gruppe, eine echte Herausforderung, auch für mich, vor allem für mich, und ich wusste erst mal gar nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste gar nichts mehr in dem Moment.«
Hanne machte verstehende Geräusche. Das konnte ein langes Gespräch werden. Als es um halb zehn geklingelt hatte, wusste sie gleich, wer es war. Jonathan schlief schon eine Weile, und sie hatte die Zeit sich zu sammeln gehabt, die sie am Abend ihres langen Tages brauchte und die er ihr tunlichst nicht nehmen wollte. Er hatte gewartet, nicht zu lange, damit sie nicht schon auf dem Weg ins Bett war, und nachdem er sich nach Jonathan und ihr und, nicht zu vergessen, ihren Eltern erkundigt und sich eine Weile ihre Feriengeschichten angehört hatte, platzte er damit heraus, was er auf dem Herzen hatte, übergangslos. So war er. Entweder er brachte gar nichts heraus, oder er kam direkt zur Sache. Umwege lagen ihm nicht. Dass er unter Druck stand, ließ sich nicht überhören.
Er fing an, von diesem Tim zu erzählen. Was mit dem Jungen passierte, ließ ihm keine Ruhe, und obwohl Tims rechtsradikale Sprüche ihn genau auf die Art provozierten, wie es offensichtlich beabsichtigt war, fühlte er sich auf irgendeine verquere Weise mit ihm verwandt und, herrje, für ihn verantwortlich. Er hatte sich vorgestellt, einen Einfluss auf den Jungen ausüben, ihn irgendwie in die Spur bringen zu können, aber dann –
»Dann ruft er an und bricht den Kontakt ab und macht völlig dicht, und ich kann nur irgendwas schwafeln von wegen, er soll es sich noch mal überlegen, sich nicht vorschnell Wege verbauen, Brücken abbrechen, ich wäre jederzeit für ihn da, wenn er Hilfe bräuchte, aber das ist natürlich alles an ihm abgeprallt, er hat den souveränen Entscheider gespielt, der alles im Griff hat und ganz gewiss keinen Rat oder Hilfe von mir braucht, von einem Pfarrer«, er spuckte das Wort förmlich aus, »und als er sagt, es gibt da für ihn nichts mehr zu reden, es ist beschlossen, und er muss jetzt los, da kann ich nur hilflos wiederholen: jederzeit blabla, und er sagt, klar, also tschüs, und legt auf.«
Nach einigem Hin- und Herüberlegen hatte er Tims Mutter angerufen und die, wie es klang, in irgendeinem geschäftlichen Umfeld erwischt. Sie hörte sich seine besorgte Erklärung an, doch dann blockte sie genauso ab wie ihr Sohn. Mit kühler Höflichkeit gab sie ihm zu verstehen, dass ihr an einer Einmischung seinerseits nichts gelegen war. Er wisse ja, dass weder sie noch ihr Mann in der Kirche waren, und Tims Entscheidung vor zwei Jahren, sich doch noch taufen und konfirmieren zu lassen, nachdem er im Jahr davor gar nicht daran gedacht hatte, war für ihr Gefühl auch schon in erster Linie aus Opposition erfolgt. Sie als Eltern verständen und akzeptierten seine vielleicht nicht immer ganz glücklichen Bemühungen, für sich eine Perspektive zu finden, was ihm als Sohn von Auswärtigen sicher auch schwerer falle als anderen, aber den wechselnden Inhalten könnten sie nun also wirklich kein großes Gewicht beimessen, dem christlichen so wenig wie dem gerade aktuellen nationalistischen. Der Junge probierte einfach Posen aus. Zum Glück litten seine schulischen Leistungen nicht. Das Dümmste aus ihrer Sicht wäre, auf Tims Provokationen einzugehen, sie inhaltlich ernst zu nehmen. Dass er jetzt kurz vor der Konfirmation einen Rückzieher machte und in dem Moment, wo er Farbe bekennen musste, seinen Oppositionsdrang doch lieber anders auslebte, sagte ihrer Meinung nach alles. Und ihre Sache sei es, mit Verlaub, gewiss nicht, ihn zum christlichen Glauben zurückzuführen. Tim sei schon immer launisch gewesen, mit großen Pendelschlägen in seinen Stimmungen, doch sie vertraue darauf, dass er sich mit den Jahren auf ein normales Maß einpendeln werde. Auf Wiederhören.
Hanne hörte ihren Mann am andern Ende schnauben. Er setzte an, über die Mutter zu schimpfen, ihren dämlichen sächsischen Tonfall, brach ab. Die Frau war ihm egal. Diese ganzen jungen Menschen in der Konfirmandengruppe, er hatte ihnen für sein Gefühl so wenig zu geben, so wenig, vielleicht hätte ja jemand anders sie erreichen und einen Samen in sie setzen können, der zu seiner Zeit aufging und gute Frucht trug, aber er nicht, er hatte schlicht keinen Draht zu ihnen, kam nicht an sie heran, war nicht der Typ, der andere, die nicht selbst motiviert waren, künstlich motivieren konnte. Aber Tim, diesen einen, den hätte er erreichen können, erreichen müssen, um ihn hätte er kämpfen müssen, um diese in den Schmutz gefallene, aber im Innersten reine Seele, das wäre seine seelsorgerische Aufgabe gewesen, aber er hatte, wie so oft, den Kopf nur von sich selbst voll gehabt, hatte es verschlafen, hatte nicht gewusst wie, nicht genug nachgedacht, es auf die lange Bank geschoben, hatte versagt.
In das Schweigen hinein atmete Hanne die angehaltene Luft aus. Sie unterdrückte den Impuls, die Kinder vor seinen ewigen ungerechten Verurteilungen in Schutz zu nehmen – und ihn selbst auch! Immer musste er sich und andere heruntermachen. Sie atmete ein, wollte ihm sagen, er dürfe es nicht so eng sehen, der Bub sei doch nicht aus der Welt, vielleicht habe er ihm ja den Samen eingepflanzt, ohne es zu merken, und bleibe für ihn ein inneres Gegenüber, ein lebendiger Widerspruch, an dem er sich im Leben weiter abarbeiten konnte, doch Michael kam ihr zuvor. »Ich hätte dich gebraucht«, sagte er. »Die ganze Zeit schon. Du fehlst mir. Ich fehle mir selbst ohne dich. Ich bin ohne dich nur ein halber Mensch ... Ischa. Das habe ich vielleicht noch nie so stark gefühlt wie in den letzten Wochen.« Da aber war sie nicht da. Aber die vierzehn Tage mit Jonathan und ihren Eltern im Ferienhaus in Südspanien waren lange verabredet gewesen, und sie hatte den Urlaub dringend gebraucht, das wisse er doch. Er ließ sie nicht ausreden. Natürlich wusste er das. Er gönnte es ihr, wirklich. Er hatte es nicht als Vorwurf gemeint. Er meinte nur ... Sie sah ihn die Achseln zucken. Er erzählte ihr von der Konfirmandenfreizeit und dem grausamen Theater um den Turmbau zu Babel. Manchmal frage er sich, ob er in dieser Kirche richtig am Platz war, diesem geistlosen Apparat. Wobei das Theater natürlich erst richtig grausam wurde dadurch, dass er offenbar außerstande war, in so einer Situation zu improvisieren und trotz schwachsinniger Vorgaben einfach mit den Kindern Spaß zu haben und das Beste daraus zu machen. Und was Tim betraf, der Einfluss war da eher andersherum gelaufen, schien ihm; die ganzen Zweifel seiner Jugend waren wieder in ihm hochgekommen. Bei seinem letzten Auftritt gestern im Konfirmandenunterricht hatte Tim ein Sweatshirt unter der Jacke getragen, mit einem Markennamen – CLONSDAPLE, wie er später herausgekriegt hatte – von dem absichtlich nur das NSDAP zu sehen war, und dabei – Hanne hörte ihn grinsen, sah das typische Schiefwerden des Mundes und des ganzen Oberkörpers, das sie früher so geliebt hatte, immer noch liebte – dabei war ihm so ein Punk-T-Shirt damals ’95 bei den Chaostagen eingefallen: vorn drauf COPACABANA, COP und ANA in schwarzer Schrift, aber das ACAB in der Mitte mit Rot farblich abgesetzt, und natürlich wusste jeder, vor allem die Polizei, dass das in der Szene die gängige Abkürzung für »All Cops Are Bastards« war. Ein leises Lachen. »Die gleichen Spielchen wie wir damals«, sagte er.
»Na ja, ›wie wir‹ kannst du nun wirklich nicht sagen«, wandte sie ein. »Mit Punks und Gewalt und Chaos hattest du nie was zu tun. Deine Sache war immer schon etwas anderes.«
Er schwieg eine Weile. »Etwas anderes, hm?«, sagte er schließlich. »Und was? Womit hätte ich denn deiner Meinung nach was zu tun? Mit Konfirmanden anscheinend nicht. Meine Predigten waren auch schon mal besser. Bist du sicher, dass es das überhaupt gibt – meine ›Sache‹?«
Er erwartete keine Antwort. »Was ist los mit dir?«, fragte Hanne. »Es kann doch nicht nur die Sache mit dem Buben sein, die dich so aus dem Lot bringt.«
Er zögerte. »Es war verrückt«, sagte er. »Verrückt.« Er hatte gestern abend in der Konfer urplötzlich das Gefühl gehabt, in einen Abgrund...