Moll Das Evangelium nach Homer
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86506-830-9
Verlag: Brendow
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Simpsons und die Theologie
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-86506-830-9
Verlag: Brendow
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Dr. Sebastian Moll (Jahrgang 1980) lebt als freier Autor in Bingen am Rhein. Die Idee zu diesem Buch gab ihm seine gleichnamige Vorlesung an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz, an der er sechs Jahre als Dozent tätig war.
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Kapitel II
DAS PROBLEM DER THEODIZEE
Reverend Lovejoy
Als Springfield von einem Hurrikan heimgesucht wird, was der Stadt seit 1978, als das Stadtarchiv auf mysteriöse Weise weggeweht wurde, noch nie passiert ist, verschanzt sich die Familie Simpson in ihrem Keller. Die verängstigte Marge wendet sich an Gott mit der Bitte, ihre Familie vor dem Sturm zu bewahren, und verspricht im Gegenzug, ihre missionarische Tätigkeit auszubauen. Als kurz darauf der Hurrikan tatsächlich abklingt, ruft Homer jubelnd aus: „Er ist darauf reingefallen! Gut gemacht, Marge!“ Nachdem die gesamte Familie aus dem Keller herausgetreten ist und sich an dem sonnigen Wetter und ihrem unversehrten Haus erfreut, bekennt Marge zufrieden: „Da sieht man mal wieder, dass sich alles zum Guten wendet, wenn man nur den rechten Glauben hat.“ Beinahe im selben Moment schwenkt das Bild auf das Haus der Familie Flanders, das vollständig in Trümmern liegt. „Alles ist hin – diddeli-ding“, lauten Neds Worte zum Ende des ersten Aktes.
Wie üblich zeigt Homer wenig Mitgefühl für seinen Nachbarn („Ruft an, wenn ihr was braucht“), weshalb die Familie Flanders Zuflucht in der Kirche suchen muss, wo sie mit dem Eingangsschild „Gott heißt seine Opfer willkommen“ begrüßt wird. Ned ist allerdings nicht einfach nur erschüttert angesichts seines materiellen Verlustes, er gerät auch in eine handfeste Glaubenskrise, da er einfach nicht verstehen kann, dass ausgerechnet ihm, einem vorbildlichen Christenmenschen, solch ein Unglück widerfährt. In seiner Verzweiflung wendet er sich an Reverend Lovejoy, der, wie sooft, leider keine große theologische Hilfe darstellt. Als Ned sein Schicksal mit dem Hiobs vergleicht, erwidert Lovejoy gewohnt einfühlsam, dass dieser Vergleich hinke, da Hiob Rechtshänder gewesen sei. Woher Lovejoy solch konkrete Informationen über die feinmotorischen Vorlieben alttestamentlicher Charaktere bezieht, bleibt vorläufig unklar. Auf Neds Frage, ob Gott ihn strafen wolle, erwidert der Reverend nur: „Kurze Antwort: „ja“ mit einem „wenn“, lange Antwort: „nein“ mit einem „aber“.“ Warnhinweis: Diese Antwort sollten Sie insbesondere dann nicht verwenden, wenn Ihre Frau Sie fragt, ob sie in ihrem neuen Kleid dick aussieht!
Das theologische Problem, vor das sich Ned Flanders in dieser Folge gestellt sieht, wird als Theodizee bezeichnet, womit die Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt gemeint ist. Das Theodizee-Problem beschäftigt religiöse Menschen seit ewigen Zeiten. Es entsteht im Wesentlichen dadurch, dass wir die folgenden drei Überzeugungen über Gott und uns selbst haben: 1. Gott ist allmächtig. 2. Gott ist gütig. 3. Wir können Gottes Wirken erkennen und nachvollziehen. Wenn alle diese Überzeugungen gleichzeitig aufrechterhalten werden, stellt sich früher oder später unweigerlich die Frage: „Wieso verhindert ein allmächtiger und guter Gott das Übel in der Welt nicht?“ Daher bestehen sämtliche Lösungsversuche, welche die Theologiegeschichte für das Theodizee-Problem zu bieten hat, stets daraus, dass einer der drei genannten Grundsätze aufgegeben wird.
Die erste Möglichkeit besteht also darin, die Allmacht Gottes zu bestreiten. Was auf den ersten Blick etwas verwunderlich klingen mag, ist eine durchaus verbreitete Vorstellung, derzufolge die Freiheit des Menschen der Allmacht Gottes gegenübersteht. Wenn der Mensch sich frei zwischen Gut und Böse entscheiden kann, dann hat Gott keine Gewalt über ihn, dann ist seine Allmacht gebrochen, und man hat eine Erklärung für das Böse in der Welt. In gewisser Weise wird diese Sicht der Dinge bereits in der biblischen Schöpfungsgeschichte dargestellt. Die Schlange lockt Adam und Eva mit dem Versprechen: „An dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ Durch das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis hat der Mensch die Fähigkeit erworben, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, und entsprechend auch die Freiheit, sich für das Böse zu entscheiden. Damit hat er sich gewissermaßen von Gott emanzipiert.
Die Betonung der Freiheit des Menschen ist die in unserer Zeit womöglich beliebteste Erklärung für das Übel in der Welt. Sie hat es sogar auf die modernen europäischen Bühnen geschafft. In Eric-Emmanuel Schmitts Theaterstück „Der Besucher“, für das der Autor im Jahr 1993 mit dem Theaterpreis Molière ausgezeichnet wurde, erhält Sigmund Freud Besuch von einem Fremden, der sich im Laufe des Gesprächs als Gott zu erkennen gibt. Der anregende Dialog zwischen dem überzeugten Atheisten Freud und seinem unerwarteten Besucher ist umrahmt von der Besetzung Wiens durch die Nationalsozialisten, die auch Freuds Tochter Anna in Gewahrsam nehmen. Als Freud seinen Besucher anklagend fragt, warum er dem Terror der Nazis nicht Einhalt gebiete, kommt es zu folgendem Schlagabtausch der beiden:
Der Unbekannte | Ich habe den Menschen frei erschaffen. |
Freud | Frei zum Bösen? |
Der Unbekannte | Frei zum Guten und zum Bösen, sonst wäre es keine Freiheit. |
[…] |
Freud | Los! Schreiten Sie ein! Beenden Sie diesen Albtraum, schnell! |
Der Unbekannte | Ich kann nicht! Ich kann nicht! |
Freud | Du bist allmächtig! |
Der Unbekannte | Falsch! In dem Moment, als ich die Menschen frei machte, habe ich die Allmacht und die Allwissenheit verloren. |
Die Freiheit des Menschen für das Übel in der Welt verantwortlich zu machen und somit Gott gleichsam zu entlasten, mag attraktiv wirken, bringt aber gewisse Probleme mit sich. Wenn Gott wusste, dass der Mensch die Freiheit auch zum Bösen verwenden kann, warum hat er ihm die Freiheit dann geschenkt? Schätzt Gott die Freiheit so hoch ein, dass ihm freie Menschen, die Böses tun, lieber sind als solche, die kein Böses kennen? In der Schöpfungsgeschichte wird dieses Problem dadurch umgangen, dass Gott die Erkenntnis, und somit die Freiheit des Menschen, eindeutig zu unterbinden sucht. Natürlich könnte man hier wieder die Frage aufwerfen, warum Gott den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen überhaupt in den Garten Eden gepflanzt hat.
Aber es gibt noch ein weiteres Problem, denn nicht alles Übel auf der Welt ist auf menschliche Entscheidungen zurückzuführen. Die Zerstörung des Hauses der Familie Flanders durch einen Hurrikan beispielsweise hat nichts mit menschlicher Bosheit zu tun, hierfür liefert die Freiheit des Menschen also keinerlei Erklärung. Aber auch für diesen Fall liegen Argumente bereit. Es ist oft vorgebracht worden, dass Schmerz oder Krankheit Eigenschaften wie Mitgefühl und Hilfsbereitschaft hervorrufen, dass also letztlich durch das Schlechte Gutes entstehen kann. Tatsächlich erleben wir genau diesen Fall ja in besagter Folge, denn die Bewohner von Springfield finden sich sogleich zusammen, um für Ned und seine Familie ein neues Haus zu bauen. Trotzdem hat diese Argumentation einen kaum zu übersehenden Schwachpunkt, denn es muss die Frage erlaubt sein, inwieweit durch die Entstehung dieser positiven Gemütsregungen die Welt wirklich besser wird. Schließlich existieren sie ja, wie bereits beschrieben, lediglich zur Bekämpfung des bestehenden Bösen. Um es auf den konkreten Fall der Familie Flanders zu übertragen: Wäre es nicht besser gewesen, die Flanders hätten ihr Haus gar nicht erst verloren?
Als zweite Variante zur Lösung des Theodizee-Problems hätten wir die Bestreitung der Güte Gottes. Diese Erklärung besticht durch ihre verführerische Einfachheit. Wenn Gott nicht gut ist, dann ist es auch kein Wunder, dass die Welt nicht gut ist. Insbesondere in den Anfängen des Christentums finden wir diese Theorie vertreten, am vehementesten wohl von dem Theologen Marcion, der in der Mitte des zweiten Jahrhunderts in Rom wirkte. Dieser im wahrsten Sinne des Wortes unorthodoxe Denker folgerte aus der Schlechtigkeit der Welt, dass auch ihr Schöpfer schlecht sein müsse, wie es Jesus in seinen Worten vom schlechten Baum und den schlechten Früchten beschrieben habe. Da Marcion aber gleichzeitig von der Güte und Vollkommenheit Christi überzeugt ist, kommt er zu dem Schluss, dass in der Bibel von zwei verschiedenen Gottheiten die Rede ist, vom guten Gott des Neuen Testaments, der sich in Jesus Christus offenbart hat, und vom bösen Gott des Alten Testaments, der für die Schöpfung der Welt verantwortlich ist. Zu Recht hat die Kirche die Gedanken Marcions abgelehnt und ihn als Ketzer gebrandmarkt. Dennoch fanden dualistische Ideen im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder neue Anhänger, so etwa innerhalb der mittelalterlichen...