Moritz | Das Schloss der Erinnerungen | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm

Moritz Das Schloss der Erinnerungen


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-311-70366-2
Verlag: OKTOPUS bei Kampa
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 208 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm

ISBN: 978-3-311-70366-2
Verlag: OKTOPUS bei Kampa
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Schlösschen im Südwesten Frankreichs, mit Blick auf die Pyrenäen. Lange war es im Besitz angesehener Familien, doch als Jean Durand, der letzte Schlossherr, stirbt, verfällt das Anwesen zusehends. Jeans Witwe, Madame Germaine, ist gezwungen zu verkaufen, an ein Münchner Ehepaar, das das Schloss saniert und zu einer Tagungsstätte mit Chambres d'hôtes ausbaut. Germaine, die die neunzig längst überschritten hat, erhält lebenslanges Wohnrecht, umsorgt von den neuen Besitzern und dem Personal, das die alten Gemäuer im Sommer mit Leben erfüllt, an dem Germaine aber nicht teilnimmt. Seit Jahren schon verlässt sie ihr Zimmer nicht mehr. Morgens hört sie Radio Vatican, abends schaut sie sich Western mit John Wayne an. Die übrige Zeit verbringt sie damit, auf den Tod zu warten, ihren verschwommenen Erinnerungen nachzuspüren und sich die Frage zu stellen, welchen Sinn ihr Leben besaß - und noch besitzt. Bis zwei junge Frauen und ein im Schloss Station machender Schriftsteller sie aus der Reserve locken. Wird der Tod noch eine Weile warten müssen?

Rainer Moritz, 1958 in Heilbronn geboren, ist wohl das, was man breit aufgestellt nennt: Mit siebzehn ließ er sich zum Fußballschiedsrichter ausbilden; später wurde er mit einer Arbeit über Hermann Lenz promoviert, arbeitete als Cheflektor bei Reclam Leipzig und als Programmgeschäftsführer bei Hoffmann und Campe, ehe er 2005 die Leitung des Hamburger Literaturhauses übernahm. Damit nicht genug, tritt Moritz regelmäßig als Literaturkritiker in Erscheinung, übersetzt aus dem Französischen (unter anderem Françoise Sagan, Pierre Bost und Georges Simenon), kommentiert humorvoll das Weltgeschehen wöchentlich auf Bremen 2 - und schreibt Bücher.
Moritz Das Schloss der Erinnerungen jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


2


Vorsichtig legte sie den schwarzen Hebel um und drückte auf den grün leuchtenden Knopf. Ein Brummen ertönte, und Sekunden später floss ein schwarzer Strahl in eine Tasse, in die Tasse, aus der Jean jeden Nachmittag getrunken hatte. Gegen vier Uhr, wenn er sein Arbeitszimmer verließ und sich mit ihr unterhielt, nie länger als eine Viertelstunde.

Germaine konnte sich nicht sattsehen am Anblick des heißen Kaffees, der aus dieser Zaubermaschine strömte. Gleich nach ihrer ausgebliebenen Begegnung mit dem Tod hatte sie Anthony beauftragt, ihr in Orthez ein solches Gerät zu besorgen, einen leicht zu bedienenden Apparat, der in ihrem Zimmer keinen Platz wegnähme. Sie hatte Werbung dafür gesehen im Fernsehen, eine lachende ältere Dame, die die Tasten eines solchen Apparats bediente und ihr Glück nicht zu fassen schien. Wenige Handgriffe nur hatte es gebraucht, bis sie wusste, wohin sie diese merkwürdigen, glänzenden Kapseln zu stecken hatte. Seitdem füllte Anthony jeden Morgen den Wassertank auf, und nun gönnte sie sich täglich vier Tassen Kaffee, die sie zu festen Zeiten zubereitete. Selbst gekocht hatte sie in ihrem Leben nie, das gehörte sich nicht für eine Schlossherrin, und in Paris, als Jean und sie bei ihren Eltern wohnten, wohnen mussten, hatte sich Maman um alles gekümmert.

Dass man in ihrem Alter zur Kaffeetrinkerin werden konnte! Zeitlebens hatte sie Tee vorgezogen, nicht weil er ihr schmeckte, sondern weil es sich um ein elegantes Getränk handelte. Kaffee war in ihren Augen eine proletarische Angelegenheit, und als die Mühlbergers ins Haus kamen und ihr Kaffee vorzusetzen versuchten, hatte sie demonstrativ die Mundwinkel verzogen und nach ihrem Tee verlangt. Auf die parfümierten Teemischungen der Frères Dammann, die sie alle zwei Monate aus Paris kommen ließ, wollte sie während ihrer nachmittäglichen Plauderstunde im Salon nicht verzichten.

Und nun das.

Das letzte Mal hatte sie ihr Zimmer vor acht Jahren verlassen. Eines Morgens war ihr aufgegangen, dass es keine Notwendigkeit mehr gab, einen Fuß über ihre Zimmerschwelle zu setzen. Sie hatte Madame Mühlberger, die sie damals noch nicht mit ihrem Vornamen Luise anredete, ihren Entschluss mitgeteilt, keine Widerrede geduldet. Die Angestellten der Schlossküche oder Luise selbst brachten ihr seitdem die Mahlzeiten aufs Zimmer. Sie nahm wenig, ja fast nichts zu sich, doch sie legte Wert darauf, dass keine Nachlässigkeit aufkam, man ihr die kaum gesalzenen Gerichte mit Stil servierte und die silberne Servierglocke vor ihren Augen gelüftet wurde.

Sie brauche Bewegung, und sei es nur hinüber zum Gemüsegarten, ein Ausruhen auf den Gartenstühlen würde ihr guttun. Als wüsste Madame Mühlberger, was ihrem Befinden zuträglich wäre. Alle Beschwörungen hatte sie mit einer Handbewegung beiseitegewischt. Nein. Mehr war dazu nicht zu sagen.

Sie empfing keine offiziellen Besuche. Lediglich eine Hilfe sah jeden Morgen nach ihr, eine Portugiesin, die sie der Einfachheit halber Clara nannte. Neuerdings kam da noch eine andere Frau, Sandrine, die sie aufforderte, ihre Beine und Arme in alle Himmelsrichtungen zu strecken, und dazu alberne Lieder sang. Und einmal die Woche schaute ihr Verwalter, Monsieur Quiniou, vorbei, der ihr den neuesten Klatsch aus der Umgebung erzählte und sie von der Sicherheit ihrer Geldanlagen überzeugte. Viel zu verwalten gab es nicht mehr.

Ebenso regelmäßig machte ihr Leibarzt seine Aufwartung, Docteur Vercel aus Sauveterre, der sie seit Jahrzehnten betreute und nicht daran zu denken schien, seine Praxis aufzugeben. Zum Glück, dachte Germaine jedes Mal, wenn er umständlich Mantel und Hut ablegte und sich so tief verbeugte, dass sie Angst bekam, er könnte sich aus dieser Demutshaltung nicht mehr befreien … Einem anderen Arzt hätte sie ihren Körper, dieses magere, verfallene, runzlige Etwas nicht gezeigt.

Clara half ihr bei der Morgentoilette. Eine gute halbe Stunde brauchte es, bis sie angekleidet und ihr Haar gerichtet war. Mit geschickten Handgriffen toupierte sie die dünnen, weißen Strähnen. Ist die Kopfhaut wirklich nicht zu sehen, Clara? Sie durfte nicht durchscheinen. Wie schütter ihr Haar inzwischen geworden war. Freude hatte sie daran nie gehabt. Irgendwo unter den Stößen, die sich auf allen Tischen und Sesseln ansammelten, lag die Zeichnung dieser polnischen Malerin … Kazimiera … der Nachname fiel ihr nicht ein. Mitten im Krieg, in Rom, hatte sie ihr Modell gesessen, dieser Polin, die Papst Pius Dutzende Male porträtiert hatte.

Das Bild besaß nichts Natürliches, sie lächelte gequält, erinnerte sich gut daran, wie sie stundenlang posiert hatte, ihrem Vater zuliebe. Keine zwanzig war sie damals gewesen, ihr dunkles Haar aufgebauscht in kunstvoll drapierten Rollen, als hätte man vergessen, die Lockenwickler herauszunehmen. Die Polin hatte ihr einen ausladenden Hut mit langen Schleifen in die Hand gedrückt und sie aufgefordert, mit den Bändern zu spielen: ungezwungen, ganz ungezwungen. Sie mochte diese Zeichnung nicht. Manchmal wäre es ihr lieber gewesen, alle Gemälde, alle Fotografien von ihr wären verloren gegangen, verbrannt. Nie erkannte sie sich darauf wieder, und nie hatte sie Gefallen daran gefunden, sich malen zu lassen. Ganz anders als ihre Schwiegermutter Marie und als Tante Madeleine, die sich schon als junge Mädchen zu inszenieren wussten. Ja, Madeleine vor allem, um die sich alles drehen musste, die jeden Nachmittag die Garderobe wechselte und Hof hielt, ohne sich für einen ihrer Verehrer zu entscheiden. Sie hingegen …

Rom damals, ja … Sie vertrieb die Erinnerungen daran, obwohl ihr Leben fast nur aus Erinnerungen bestand, aus Bildern und Gesprächen, die in ihrem Kopf verschwammen, sich miteinander vermengten, wie die Jahrzehnte, wie die Landschaften, wie die Straßen in Paris, wo sie so lange gelebt hatte. Manchmal wollte sie nichts mehr wissen von dem, was vor einem halben Jahrhundert geschehen war. Auch die Gegenwart interessierte sie immer weniger. Warum Neues erleben? Es genügte, auf den Tod zu warten.

Sie biss in ihre Baguettescheibe wie jeden Morgen, weiches Brot, das den Zähnen keinen Widerstand bot, dünn bestrichen mit Erdbeerkonfitüre und neuerdings mit einer Marmelade aus Kiwis. Die würden in der Gegend angebaut, behauptete Luise. Was schwer zu glauben war. Kiwis hatte es früher nicht gegeben, und hier schon gar nicht.

Clara sah ihr beim Essen zu, schien damit beauftragt zu sein, ihre Nahrungsaufnahme zu beaufsichtigen. Germaine machte es ihr nicht leicht, kaute betont langsam, tat so, als sei es unmöglich, eine zweite Scheibe Brot zu sich zu nehmen, und seufzte auf, was Clara Angst machte. Sie wirkte jedes Mal erleichtert, wenn sie abräumen und sich verabschieden konnte. Ihr abgehacktes Französisch, vermischt mit béarnaiser und baskischen Brocken war Germaine zuwider. Sie gab sich längst keine Mühe mehr, dieses Kauderwelsch zu korrigieren. Was Clara sagte, war nicht wichtig. Hauptsache, sie erzählte irgendwelche Geschichten aus Sauveterre oder Salies, ließ Namen fallen, die mitunter eine vage Erinnerung an irgendetwas wachriefen.

Froh, wieder allein zu sein, ordnete sie ihre Papiere, wie sie es nannte, wissend, dass es sich um eine Beschäftigung handelte, die nie abgeschlossen wäre. Seit Jeans Tod hatte sie es aufgegeben, für Ordnung zu sorgen. Die Berge von Briefen, Fotografien, Notizen und Büchern waren ihr Leben. Als die Mühlbergers sich für das Schloss zu interessieren begannen, ging es ihr nicht um Geld allein. Alles, so hatte sie ihrem Verwalter eingeschärft, müsse an seinem Platz bleiben, nichts dürfe weggeworfen werden – solange sie lebte. Alle paar Wochen bat sie Quiniou darum, sich unauffällig in den Räumen umzusehen und ihr Missstände mitzuteilen. Zu ihrer Überraschung meldete er selten Anstößiges, die Mühlbergers gaben sich offenbar alle Mühe, ihren vorletzten Willen zu respektieren. Anständige Deutsche – erstaunlich.

Sie griff nach ihrem Stock, tapste zu ihrem Radiogerät, das von zwei Vasen eingerahmt war, von leeren Vasen. Blumen wollte sie nicht um sich haben, der Blütenstaub würde sich auf ihre Bronchien legen, sie langsam ersticken … Ihre Lieblingssender waren voreingestellt, Luise hatte sie mit einem roten und grünen Punkt markiert. Am Vormittag hörte sie Radio Vatikan, während sie gegen Nachmittag zu Radio Notre Dame wechselte. Sie schloss die Augen, faltete die Hände, wenn die Choräle erklangen und gebetet wurde, für den Papst in ihrem Rom, wenngleich ihr dessen Auffassungen zu modern erschienen … und der Herr wird ihn bewahren und beim Leben erhalten und es ihm lassen wohlgehen auf Erden und ihn nicht preisgeben dem Willen seiner Feinde … Regelmäßig unterbrach Radio Notre Dame seine Sendungen, um eine helle Frauenstimme den Wahlspruch des Senders, oder wie man das nannte, aufsagen zu lassen: Das Leben bekommt einen Sinn …

Germaine schüttelte jedes Mal bedächtig den Kopf. Was sollte das bedeuten? Der Sinn des Lebens, was war das? Als junge Frau hatte sie geglaubt, dass sie darüber spätestens im Alter genau Bescheid wüsste. Nun war sie eine sehr alte Frau, eine Greisin, deren Gesicht, wie sie fand, gespenstische Züge annahm, und immer noch fühlte sie eine Unsicherheit, die von Jahr zu Jahr wuchs. Hatte ihr Leben je einen Sinn gehabt? Was hielt ihr Leben zusammen? Diese Gedanken bedrängten sie, wenn sie sich ihnen zu lange hingab, so übertrug sie Gott die Aufgabe, Sinn zu stiften. Wenn sie lauthals betete und die Hände zur Zimmerdecke reckte, verlor sie für eine Weile ihre Zweifel.

Je ungestümer sie Gott anrief, desto größer ihre...


Moritz, Rainer
Rainer Moritz, 1958 in Heilbronn geboren, ist wohl das, was man breit aufgestellt nennt: Mit siebzehn ließ er sich zum Fußballschiedsrichter ausbilden; später wurde er mit einer Arbeit über Hermann Lenz promoviert, arbeitete als Cheflektor bei Reclam Leipzig und als Programmgeschäftsführer bei Hoffmann und Campe, ehe er 2005 die Leitung des Hamburger Literaturhauses übernahm. Damit nicht genug, tritt Moritz regelmäßig als Literaturkritiker in Erscheinung, übersetzt aus dem Französischen (unter anderem Françoise Sagan, Pierre Bost und Georges Simenon), kommentiert humorvoll das Weltgeschehen wöchentlich auf Bremen 2 – und schreibt Bücher.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.