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E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Moritz Grenzgänger

Irgendwo dazwischen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7431-5495-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Irgendwo dazwischen

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-7431-5495-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Bruderherz.« Mein Schwesterchen schüttelte mir überschwänglich meine Hand, als ich gerade zur Tür herein kam und sie die erste Person war, die mich in meinem Elternhaus in Empfang nahm. »Nun gehst du ja auch stramm auf die Dreißig zu, was?« Mit diesen unbedarft geäußerten Worten wurde Jan im blühenden Alter von 28 Lenzen in seine allererste Midlife-Crisis gestürzt! Denn Jan ist schwul und das Leben offenbar mit dreißig bereits vorbei. Das zumindest versuchte die vereinigte schwule Postille dem geneigten oder auch nicht geneigten Leser zu vermitteln und fand sich im Tenor einer jeden Kontaktanzeige wieder. Wir befinden uns Anfang der neunziger Jahre. Jans Coming-out liegt zehn Jahre zurück. Eine lange Zeit für einen Kleinstadtjungen inmitten der Provinz, so ganz ohne Szene, Privatfernsehen und lange vor dem Internet. Aber es ist obendrein die Zeit des Auf- und Umbruchs, der Grenzöffnung, Wiedervereinigung und der Veränderung - auch für Jan. Doch der fühlt sich noch immer irgendwo dazwischen.

Geboren 1962 in Wolfsburg, verlebte der Autor seine ersten 40 Lebensjahre im kleinen Harzstädtchen Goslar, bevor er sich im norddeutschen Peine niederließ. Bereits während der Schulzeit widmete er sich intensiv dem Schreiben, verfasste zunächst Kurzgeschichten, Erzählungen und Drehbücher. Letztere verfilmte er teilweise auch selbst als Autorenfilmer. Für seine Arbeiten im künstlerischen Bereich erhielt er 1987 den Förderpreis der Stadt Goslar.
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Autoren/Hrsg.


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Kapitel 1


Goslar – Kreiensen


Abfahrt 10:25 – Ankunft 11:10

Bahnhofsfreuden

Hatte ich erwähnt, dass ich Regen hasse? Vor allem diesen Nieselregen, der, verbunden mit einer unangenehmen Kälte, wie Sandpapier die Brillengläser langsam in milchiges Mattglas zu verwandeln wusste. Der Bus hatte mich von meinem zu Hause bis zum Bahnhofsvorplatz gebracht. Doch die paar hundert Meter die ich benötigte, ihn zu überqueren, bevor ich in den Schutz des Bahnhofgebäudes eintreten konnte, reichten durchaus, mir sowohl die Brille als auch die Laune zu verregnen. Halb blind tapste ich durch die Tür zu den Fahrkartenschaltern. Gerade noch erkennend, dass die Glastür nicht offen stand, konnte ich vermeiden, mir den Kopf einzurennen. Ungeschickt – ich war mit einer kleinen Reisetasche und etwas Zuglektüre beladen – und leise fluchend, drückte ich die schwergängige Türe vor mir auf. Wieso eigentlich war zur Hauptverkehrszeit an einem Samstagvormittag die Tür zu den Schaltern geschlossen? Und überhaupt, im Grunde empfand ich es geradezu als eine Frechheit, im frisch renovierten Bahnhof nicht wenigstens automatische Schiebetüren einzubauen. Wozu nahezu jedes neue Kaufhaus in der Lage war, hatte doch wohl auch der Goslarer Bahnhof verdient, oder etwa nicht?

Meine Laune besserte sich erst recht nicht, als ich die Schlange vor dem Schalter sah. Man beachte bitte meine Wortwahl: vor Schalter. Es gab in diesem kleinen Raum drei dieser Fahrschein-Verkaufstheken, von denen natürlich nur eine besetzt war. Glücklicherweise hatte ich mir genügend Zeit genommen und bereits mehr als eine halbe Stunde vor Abfahrt meines Zuges den Bahnhof aufgesucht. Allerdings war ich mir nach einer Viertelstunde Wartezeit, die einem gefühlten halben Vormittag gleichkam, nicht mehr ganz so sicher, ob der Erwerb meiner Fahrkarte tatsächlich noch rechtzeitig zur Zugabfahrt über die Bühne gehen würde. Zwei Kunden vor mir nutzten die Zugauskunft offenbar zur grundlegenden Planung ihres nächsten Sommerurlaubes – oder warum ließen sie sich die Zugverbindungen für den Zeitraum von drei Wochen ausdrucken? Zeile um Zeile nagelte der Nadeldrucker mit dem melodischen Zirpen einer Kreissäge die Informationen auf das Papier und spuckte im Minutentakt ein Blatt nach dem anderen heraus. Ein Teenager bezahlte seine Schülermonatskarte mehr oder minder in Groschen und Pfennigstücken, die der Beamte hinter seinem Tresen in einer Seelenruhe entgegen nahm, die mich fast schon dazu reizte, der Rotzgöre ihren Brustbeutel um die Ohren zu schlagen oder den Bengel am besten gleich damit zu erwürgen. Doch das war alles noch nichts gegen die Oma direkt vor mir.

Nachdem sich die Warteschlange von anfangs sieben Kunden auf nunmehr besagte Oma reduziert hatte – der Spielraum bis zur Abfahrt meines Zuges jedoch ebenfalls auf nur noch wenige Minuten – war ich bereits guter Hoffnung, vielleicht noch rechtzeitig meinen Fahrschein zu erhalten. Doch weit gefehlt. Oma konnte sich nicht entscheiden, ob der Intercityzuschlag für die Fahrt zu ihrer Tochter tatsächlich sein Geld wert sein würde. Unter Umständen, so ihre Überlegung, sollte sie lieber ein wenig am Fahrgeld sparen, um die preiswertere, wenn auch langsamere Verbindung mittels Bummelzüge vorzuziehen. Gleichwohl wollte sie sich ebenfalls den Fahrplan ausdrucken lassen. Was man schwarz auf weiß vor sich liegen habe, könne man bekanntlich besser beurteilen. Außerdem traue sie diesen Dingern nicht über den Weg und zeigte bei ihren Worten verächtlich auf den grün-schwarzen Bildschirm, dem der Mann hinter dem Tresen seine Informationen entnahm. Und so stichelte der Nadeldrucker wieder aufs Neue munter darauf los und versetzte meinen strapazierten Nerven nun endgültig den Todesstoß.

Es mochte durchaus sein, dass meine Stimme bereits ein wenig gereizt geklungen haben mochte, obwohl ich krampfhaft darum bemüht war, ruhig und freundlich zu bleiben. Allerdings wurde meinem dezenten Hinweis auf meinen in Kürze abfahrenden Zug nicht wirklich den ihm gebührenden Tribut gezollt.

»Junger Mann ... ich bin 83 Jahre«, erhob Oma die etwas zittrige Stimme und blickte sich wie in Zeitlupe zu mir um, nur um mich für einen endlosen Augenblick lang mit einem stechenden Blick zu fixieren.

Ich wartete darauf, was ihren ersten Worten noch folgen würde ... doch es folgte nichts. Stattdessen wandte sich die alte Dame wieder von mir ab und dem Beamten zu. Es erschloss sich mir nicht in aller Deutlichkeit, was Oma mir mit dem Hinweis auf ihr Alter wirklich hatte mitteilen wollen. Also wagte ich es, noch einmal nachzufassen. Offenbar schien es Oma nicht im Mindesten zu interessieren, dass ich seit einer halben Stunde darauf wartete, meine Fahrkarte zu bekommen für einen Zug, der in nun kaum fünf Minuten abfahren würde, wo doch Omas IC erst nächsten Monat den Bahnsteig verlassen würde.

»Ich bin 83 Jahre«, wiederholte Oma, ließ diesmal aber den jungen Mann gleich unter den Tisch fallen. Dabei blickte mir die alte Dame ein weiteres Mal in die Augen, dieses Mal mit einem Ausdruck tiefster Verachtung und gab mir eindringlich zu verstehen, dass sie die ungehörige Unterbrechung ihrer Audienz mit dem Fahrkartenverkäufer keinesfalls zu tolerieren gedachte. »In meiner Jugend besaßen wir noch Anstand und Respekt vor dem Alter«, erklärte sie mir in einem belehrenden Tonfall. »Ein solch unangemessenes Verhalten wäre damals ganz und gar undenkbar gewesen.«

Ein kurzer Blick auf meine Armbanduhr und mir riss endgültig der Geduldsfaden. »Wollen sie noch 84 Jahre alt werden?«, zischte ich ihr giftig entgegen.

Die aufbrausende Tirade von Beschimpfungen gedachte ich nicht mehr über mich ergehen zu lassen. Während Oma noch Zeter und Mordio hinter mir her brüllte, stürmte ich bereits durch die Bahnhofshalle in Richtung Bahnsteig. Jetzt blieb mir nicht einmal mehr die Zeit, ein Ticket für die erste Reiseetappe direkt am Automaten zu ziehen. Ein kurzer Blick im Vorbeilaufen bestätigte meine bereits aufkeimende Befürchtung: Wo wartete der Zug auf den Pfiff des Schaffners wenn nicht am entferntesten Bahnsteig, ganz auf der anderen Seite der breiten Gleisanlage.

Also hetzte ich aus dem Bahnhofsgebäude hinaus, den Bahnsteig Nummer eins entlang und auf die Unterführung zu, während ich aus den Augenwinkeln heraus bereits den Zug – meinen Zug – auf Bahnsteig Fünf hatten einfahren sehen. Im gekachelten Gang unter den Gleisen hindurch, es roch wie immer nach Pisse und Klosteinen, wich ich den mir entgegenkommenden Reisenden aus, die bereits den Zug verlassen hatten, in den ich mich bemühte noch einzusteigen. Meine Zunge wischte bereits hechelnd den Staub vom Boden auf, als ich die Stufen zum letzten Bahnsteig hinauf stürmte. Völlig außer Atem riss ich die mir nächstgelegene Tür des Zuges auf und enterte den Waggon. Als ich mich auf einen freien Sitzplatz des halb leeren Wagens fallen ließ, setzte sich der Zug bereits mit einem heftigen Ruckeln in Bewegung. Achtlos knallte ich meine Reisetasche auf den Sitz neben mir. Ich rang noch immer nach Luft und heftige Stiche durchzogen schmerzhaft meine Lungen. Dabei befand ich mich zurzeit in einer meiner rauchfreien Perioden und hatte seit fast sechs Jahren keinen Glimmstängel mehr angerührt.

Wie auch immer, als sich mein Atemholen allmählich nicht mehr wie das Röcheln eines asthmatischen Greises anhörte, lag der Goslarer Bahnhof bereits weit hinter mir und meine Reise hatte begonnen. Ich lehnte mich in den muffigen Veloursbezug meines Sitzes zurück und ließ die Landschaft an meinen Augen vorüberziehen. Die Räder ratterten über die Gleise, die Sprungfedern unter meinem Hintern quietschten, während ich schwankte wie auf einem uralten, durchgesessenen Sofa. Aufgrund der Anstrengungen zu Beginn meines kleinen Abenteuers, setzte eine leichte Müdigkeit ein, die sich sogleich gefällig in mir breitmachte.

Die Gegend, durch die der Zug brauste, wurde mir zunehmend unbekannter. Nein, ich bin kein sehr reisefreudiger Mensch. Bin ich nie gewesen. Und trotz meiner 28 Lenze nannte ich keinen Führerschein mein Eigen. Schon gar kein Auto. Bereits als Kind durchstreifte ich die nähere und weitere Umgebung entweder zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Was weiter entfernt lag, um auf diese Weise erreichbar zu sein, interessierte mich nicht wirklich, lebte ich doch in meiner eher introvertierten Welt ohne den Sinn für das große Abenteuer oder aufkeimenden Forscherdrang. Sehr zum Leidwesen meiner Eltern, die dieser Eigenschaft nicht wirklich etwas Positives abgewinnen konnten, sondern sie eher mit mangelndem Ehrgeiz gleichzusetzen gedachten.

Somit drang der Zug langsam in von mir unentdecktes Gebiet vor, das sich von der Ansicht her nicht wesentlich von dem unterschied, was ich kannte. Schließlich war meine Reise erst ein paar Dutzend Kilometer alt. Ein rechtes Reisefieber wollte auf diese Weise nicht in mir aufkommen. Stattdessen glitten meine Gedanken automatisch und unwillkürlich ab und kehrten zum Ausgangspunkt meiner Reise zurück, der gerade mal ein halbes Jahr zurücklag.

Midlife-Crisis mit...



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