Moritz | Vielleicht die letzte Liebe | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Moritz Vielleicht die letzte Liebe


1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-311-70499-7
Verlag: OKTOPUS bei Kampa
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-311-70499-7
Verlag: OKTOPUS bei Kampa
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Bernard Vautrot hat genug. Von den Krisen der Welt, von Klimawandel und Krieg. Seine Frau ist vor einiger Zeit gestorben, mit seinem Sohn besteht loser Kontakt. Jahrelang hat Bernard einen Weinladen am Montmartre geführt, doch auch die Lust an seinem Beruf ist ihm vergangen. Mit Anfang sechzig will er nicht mehr mitmachen, ohne Groll. Sich klar werden über sein Leben, das möchte er. Bernard verlässt sein altes Viertel und zieht in den Osten von Paris. Nun lebt er direkt am berühmten Friedhof Père-Lachaise. Tag für Tag – manchmal auch in der Nacht – streift er durch den Gräberpark, weist Touristen den Weg zu Oscar Wilde oder Édith Piaf und denkt darüber nach, was es heißt, seine letzte Ruhe zu finden. Bis er Aurélie trifft, eine junge Fotografin, die mit ihrer Kamera den Père-Lachaise erobert und Bernard an seinem Rückzug zweifeln lässt. Vielleicht ist das letzte Wort ja noch nicht gesprochen …

Eine Geschichte über einen Ort, wo das Leben endet, und die nichtsdestominder vom Leben in seinen buntesten Farben erzählt.

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3


Zwei Männer, um die dreißig, stürzen auf ihn zu und wedeln mit einem eingerissenen Friedhofsplan. Kurz nach neun, noch ist es ruhig. Der Ansturm setzt später ein, der Ansturm derjenigen, die von weither anreisen, um den Père-Lachaise abzugehen und ein Prominentengrab nach dem anderen abzuhaken. Zuhause würden sie nie freiwillig einen Friedhof betreten, doch ein Paris-Trip ohne Eiffelturm, Sacré-Cœur und Père-Lachaise ist undenkbar für sie.

Amerikaner, keine Frage, kurze Hosen, Sweatshirts mit -Aufschrift, Sandalen, eine Nummer zu groß. Bernard lächelt ihnen aufmunternd zu, inzwischen kann er die Nationalitäten der Besucher leicht auseinanderhalten. Vielleicht sollte er bei einem Fernsehquiz als Experte auftreten.

Bernard kommt mit dem Englischen klar. Schon in der Cave de la Butte ließ es sich nicht vermeiden, die Sprache zu wechseln, wenn Engländer, Amerikaner oder Australier nach dem teuersten Champagner verlangten. Oder nach einem Rotwein, für sie musste es immer ein Bordeaux, am besten ein Mouton Rothschild sein. Sein Englisch holpert trotzdem vor sich hin, er gibt sich keine Mühe, seiner Aussprache den Akzent auszutreiben. Wozu auch? Er ist Franzose.

Oscar Wilde, ruft der Jüngere der beiden aus, Oscar Wilde, ?, und lässt seinen Zeigefinger auf dem Friedhofsplan kreisen. Ohne Orientierung, als hätte er einen Strickmusterbogen vor sich. Bernard tätschelt seinen Unterarm und zeigt Richtung Norden. Ganz falsch seien sie hier, nicht in der neunten Division liege Wilde, sondern in der neunundachtzigsten. Er nimmt einen Bleistift aus der Jackentasche und zeichnet mit dünnen Strichen auf, welchen Weg es einzuschlagen gilt. Was schwerfällt, so zerfetzt, löcherig und mit obskuren Flecken durchsetzt der Plan ist, den die Amerikaner wohl schon seit Jahren benutzen und den sie gleich wieder hektisch zusammenfalten. Sie bedanken sich überschwänglich und biegen mit einem in die Avenue latérale du Sud ein. Immer geradeaus, ruft Bernard ihnen hinterher, immer geradeaus.

Was es nur auf sich hat mit diesem Grab, denkt er. Eine der Attraktionen des Friedhofs, vor den Lippenstiftabdrücken der Verehrer Wildes inzwischen mit Glasscheiben geschützt, was würdelos aussieht. Eine Art Sphinx mit Flügeln, deren mächtige Genitalien vor Jahren auf rätselhafte Weise verschwanden. In einem Geheimfach, das allein der Direktor öffnen dürfe, seien sie aufbewahrt, sagen die einen; andere behaupten, dass ein schwules belgisches Paar sie abgeschlagen habe und als Briefbeschwerer verwende. Bernard kennt die Geschichte vieler Gräber, aber es kommen jeden Tag neue hinzu, und seine anfängliche Furcht, irgendwann alle zu kennen, ist verflogen. Auf diesem Friedhof steht nichts still, alles wächst und verändert sich jeden Tag. Der Stoff wird ihm nie ausgehen.

Bernard freut sich an der morgendlichen Ruhe. Kurz nach acht betritt er den Friedhof, mal über diesen, mal über jenen Eingang. Das pompöse Hauptportal am Boulevard de Ménilmontant meidet er. Entweder nimmt er die Porte des Amandiers an der Metrostation Père-Lachaise, oder er wählt die Porte du Repos, nur wenige Schritte von dem Haus entfernt, wo er seit gut drei Jahren lebt.

Er kommt als Untermieter seiner Schwester zurecht. Das große Zimmer, die wenigen Dinge, die er aus seinem früheren Leben mitgenommen hat, genügen ihm. Catherine reist umher, bleibt tagelang bei ihrem aktuellen Freund, der ein sündhaft teures Loft am Parc Monceau bewohnt. Ich lasse nichts aus, mein eigenwilliger Bruder, wozu lebt man, und gut, dass du dich um die Katze kümmerst. Dass ihre Wohnung in der Rue du Repos liegt, mit Blick auf die Friedhofsmauern, hat ihm von Anfang an gut gefallen. Dann hab ich es nicht weit, Catherine.

Außer ihr kennt er bis heute kaum jemanden hier, die Gemüsehändlerin, den Patron in dem portugiesischen Restaurant am Boulevard de Charonne, mit dem er, wenn er Hühnchen oder Thunfisch bestellt, ein paar Worte wechselt, nie Persönliches. Manchmal sehnt er sich zurück in sein Stammlokal am Montmartre, das Sagittaire in der Rue Lamarck, wo er fast jeden Freitag aß, mit Mireille und später ohne Mireille. Touristen kehren da selten ein, sie verlassen die Metrostation und biegen nach rechts ab. Links, wo das Sagittaire liegt, gibt es nichts zu entdecken und zu fotografieren.

Benoît, der immer in Schwarz gekleidete Wirt, begrüßte ihn mit Handschlag, irgendwann waren sie sogar zu Geschäftspartnern geworden, und Bernard belieferte ihn mit soliden Weinen, einem Sauvignon aus dem Loiretal oder einem Côtes du Rhône Villages, der teurer schmeckte, als sein Einkaufspreis vermuten ließ. Einmal im Monat trafen sie sich bei ihm zum Abendessen in größerer Runde, darunter ein Freund, der wie er ohne Abschluss Önologie in Colmar studiert hatte und seitdem einen Cateringservice betrieb. Das lag lange zurück, wie alles.

Sobald die Friedhofstore aufgeschoben werden, steht Bernard oft schon bereit. Argwöhnisch hat man ihn anfangs gemustert, diesen lässig gekleideten Mann, über dessen Schulter ein leichter Rucksack hängt, ein Mann, der tagein, tagaus seiner Wege geht. Wenn er nicht gleich über Nacht bleibt, was die Wärter inzwischen wissen und, obwohl die Friedhofsordnung das nicht erlaubt, nicht kommentieren. Sie müssten ihn zur Rechenschaft ziehen, auf das Verbotene seines Tuns hinweisen. Jean-Luc und Alain haben ihn als Erste angesprochen, um sich davon zu überzeugen, dass sie es nicht mit einem Querulanten, einem Herumtreiber zu tun hatten. Mittlerweile kennen ihn alle, selbst der junge Direktor, der sich als Monsieur le Conservateur ansprechen lässt, nickt ihm freundlich zu. Als sei er sein Angestellter.

Bernard dreht wie immer seine erste Runde, eine große, gut zwei Stunden dauernde Runde entlang der Friedhofsmauern und malt sich die Biographien der Toten aus. Wie viele Selbstmörder hier wohl liegen … Er denkt an den Wärter, der sich – wie Alain in variierenden Ausschmückungen erzählt – auf dem Père-Lachaise umgebracht haben soll. Mit einer Pistole, einer Browning, vor über einem halben Jahrhundert. Georges Thomas, ein Mann von fünfzig Jahren, habe, ohne ein Wort zu verlieren, seinen Posten beiläufig verlassen und sich in einer der Kapellen, deren bemalte Glasfenster dabei zersplitterten, das Leben genommen. Ein Schuss in die Schläfe. Er sei zu Boden gestürzt und mit blutendem Kopf gegen einen Steinsockel geprallt. Aufsehen hatte die Tat erregt, persönliche Probleme hätten ihn dazu getrieben, mutmaßte man seinerzeit. Persönliche Probleme … eine merkwürdige, nichtssagende Formel. Sich auf einem Friedhof zu töten, das kommt Bernard unpassend vor, anmaßend beinahe gegenüber denjenigen, deren Gebeine unter der Erde nach Ruhe suchen.

Bernard geht weiter, nach wenigen Minuten hören seine Gedanken zu kreisen auf. Er liebt die Stille auf seinen Gängen zwischen den mittags oft belebten Avenuen und den kleinen, fast uneinsehbaren Pfaden, der Lärm, der außerhalb der Mauern herrscht, existiert nicht mehr, als hätte er nie existiert. Er ist bei sich, biegt ohne Ziel in eine x-beliebige Division ein, seine Nachmittagsroute stets verändernd. Er hebt ein Schokoladenpapier auf, lässt sich von einer Katze anstarren und zückt sein Notizbuch, das fünfte, das er in den Jahren mit seiner feinen, winzigen Schrift gefüllt hat.

Langweilig ist ihm nie. Er führt Selbstgespräche, erzählt sich leise, was er sieht. Da sind die Vergessenen, deren Gräber niemand mehr besucht oder mit einem Strauß Blumen bedenkt. Verblichen die Inschriften, die Lebensdaten schwer lesbar. Und wenn die Konzession erlischt, werden die Gräber aufgelassen, schlägt der Tod endgültig zu.

Ja, er weiß, wo Colette, Molière, Chopin oder Proust liegen. Weiß über sie Bescheid. Schließlich steht er als Auskunftsperson zur Verfügung. Mit seinen Halbschuhen, seiner Kordhose und der ärmellosen, wattierten Weste wirkt er so, als würde er zum Père-Lachaise gehören. Bewusst angestrebt hat er das nie, er bevorzugt praktische Bekleidung.

Als junger Mann schon hat er in fremden Städten Friedhöfe besucht, während sich seine Freunde aufmachten, angesagte Geschäfte oder Kneipen abzuklappern, und sich wohl über ihn lustig machten. Von der Rue des Saules waren es nur wenige Schritte zum Saint-Vincent-Friedhof gewesen, ein übersichtliches, von Mietshäusern eingeschlossenes Areal, und auf dem Montmartre-Friedhof verbrachte er unzählige Sonntage, immer seltener mit Mireille an seiner Seite, die ihn mit einem »Sag Dalida einen schönen Gruß« entließ, ihre zunehmende Erleichterung nicht verbergend, den Nachmittag ohne ihn verbringen zu dürfen.

Der Tod macht ihm Angst, nicht ständig, schubweise kommt das Gefühl einer lähmenden Beklemmung über ihn. Mit vierzehn, fünfzehn Jahren, wenn er abends im Bett lag und Musik hörte, überfiel ihn manchmal ohne Vorankündigung der Gedanke, dass er irgendwann nicht mehr existieren würde. Was soll das heißen, fragte er sich damals, nicht mehr ich zu sein, ein ausgelöschtes Bewusstsein? Im Lauf der Jahre lernte er, auf diese Schübe von Todesangst vorbereitet zu sein, wusste, dass sein Lebensmut, sein Lebenswille wieder die Oberhand gewinnen würde.

Der Friedhof macht ihm keine Angst. Er fühlt sich lebendiger als in den Zeiten als Weinhändler, der Woche für Woche bedächtig seinen Umsatz auf die kommenden Monate hochrechnete. Wein, sagte Mireille, würden die Leute nie aufhören zu trinken. Er solle sich glücklich schätzen, keine Tabakwaren zu verkaufen. Einen kleinen Supermarkt mit...


Moritz, Rainer
Rainer Moritz, 1958 in Heilbronn geboren, ist wohl das, was man breit aufgestellt nennt: Mit siebzehn ließ er sich zum Fußballschiedsrichter ausbilden; später wurde er mit einer Arbeit über Hermann Lenz promoviert, arbeitete als Cheflektor bei Reclam Leipzig und als Programmgeschäftsführer bei Hoffmann und Campe, ehe er 2005 die Leitung des Hamburger Literaturhauses übernahm. Damit nicht genug, tritt Moritz regelmäßig als Literaturkritiker in Erscheinung, übersetzt aus dem Französischen (unter anderem Françoise Sagan, Pierre Bost und Georges Simenon), kommentiert humorvoll das Weltgeschehen wöchentlich auf Bremen 2 – und schreibt Bücher.



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