E-Book, Deutsch, Band 3, 432 Seiten
Reihe: Wakefield Saga
Morris Der Schlüssel der Weisheit
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7751-7484-8
Verlag: Hänssler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 3, 432 Seiten
Reihe: Wakefield Saga
ISBN: 978-3-7751-7484-8
Verlag: Hänssler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gilbert Morris (1929-2016) war Pastor, Englisch-Professor und Bestsellerautor. Mit seiner Frau und seinen drei Kindern lebte er in Alabama, USA.
Autoren/Hrsg.
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2
Ein Schlüssel dreht sich im Schloss
Juni 1620
London ertrank beinahe in heftigen Regenfällen. Jeden Morgen sammelten sich tief hängende Wolken, dunkel und geschwollen vor Feuchtigkeit, über der Stadt und ließen dicke Tropfen fallen, die auf die Straßen und Dächer niederklatschten. Und jeden Nachmittag wurden die Bürger der Stadt von Überschwemmungen geradezu biblischen Ausmaßes heimgesucht.
Chris Wakefield war am Dienstagvormittag um zwölf Uhr aufgestanden, war hastig in seine Kleider geschlüpft und hatte das Frühstück vergessen. Sein Schädel pochte gewaltig, als er seine Unterkunft verließ und sich nach Lincoln’s Inn begab, eines der vier altertümlichen Häuser, die den Rechtsanwälten als Stützpunkt dienten. Der kalte Regen rann über seinen Hut, lief ihm den Nacken hinunter und durchnässte seine Kleidung, während er tropfend die Straße entlangeilte. Die Gossen standen tief unter Wasser, und Chris musste durch sechs Zoll Wasser waten, als er die Straße überquerte. Er fluchte gedämpft und drängte sich durch die Gruppe von Männern, die den schmalen Eingang versperrte.
»Guten Tag, Mr Dollarhyde«, sagte er, sobald er eines der Büros betreten hatte, die zu beiden Seiten eines dunklen, schmalen Flurs lagen.
»Ah, da seid Ihr ja, Mr Wakefield.« Ein außergewöhnlich hochgewachsener Mann mit einem beinahe erschreckend mageren Gesicht blickte von einem schäbigen Schreibtisch auf, der mit Papieren bedeckt war. Er hatte ein Paar blassblauer Augen, aus denen Enttäuschung sprach – das Resultat von Jahren, in denen er beobachtet hatte, wie Leute von den Mühlen der Gerechtigkeit erfasst und durch die Mangel gedreht wurden. Er lehnte sich zurück, ließ seine langen, knochigen Finger knacken, die von schwarzer Tinte befleckt waren, und betrachtete seinen Besucher mit forschenden Blicken.
Im Alter von zweiunddreißig Jahren waren Chris’ blaue Augen zynisch – und gerötet von den späten Stunden, in denen er zu Bett zu gehen pflegte. Vermutlich trinkt er auch, dachte der Ältere. Er guckt jeden Tag in die Flasche, so wie er aussieht. Eine Schande – ich glaube nicht, dass er es schaffen wird. Aber er sagte nur: »Ihr sucht, äh, Mr Cromwell, nehme ich an?«
»Ja – ist er hier, Silas?«
Der hochgewachsene Mann verschränkte seine Finger zu einem komplizierten Muster und befreite sie dann wieder. Er schüttelte den Kopf und sprach in bedauerndem Ton. »Ah – Ihr vergesst die Zeit, Sir.«
»Zeit? Welche Zeit meint Ihr?«
»Den Zeitpunkt von Mr Cromwells Heirat.« Ein leises Lächeln kräuselte die Lippen des Anwalts, als sei ihm plötzlich ein erheiternder Gedanke gekommen. »Ah – ich sehe, Ihr habt den Termin vergessen. Eure Geschäfte lassen Euch keine Zeit, nehme ich an.« Es erfordert ja auch viel Zeit und Energie, sich zu betrinken und hinter jedem Weiberrock in London her zu sein! dachte er verächtlich.
Chris starrte Dollarhyde mit leeren Augen an, dann schnitt er ein Gesicht. »Ja, Ihr habt recht. Dann ist er also fort?«
»Ah – ja, er ist vor vierzehn Tagen aus Lincoln’s Inn abgereist. Ich nehme an, er wird jetzt zu Hause sein.«
»Verflucht!« Chris schlug sich mit dem regendurchweichten Hut an den Schenkel, sodass sich ein Sprühregen von Wasser über die abgetretenen Dielen des Bodens ergoss. Er schob das Kinn mit einer zornigen Geste vor und spürte augenblicklich, wie das Hammerwerk in seinem Kopf gegen seine Schläfen schlug. Er schnitt von Neuem ein Gesicht. »Er hat nicht – etwas für mich hinterlassen, nehme ich an?«
Dollarhyde öffnete die Lippen, gerade genug, um zu fragen: »Etwas für Euch, Mr Wakefield? Ah – nein, ich glaube nicht. Habt Ihr etwas erwartet?«
Höchstwahrscheinlich geliehenes Geld – oder eine Abzahlung! Dollarhyde wusste Bescheid über die intimen Details von Oliver Cromwells Geschäften, wie er die Details von Dutzenden junger Männer kannte, die in Lincoln’s Inn residierten. Obwohl sein Gesicht keine Spur erkennen ließ, brauchte sein rasiermesserscharfer Verstand nur die Seite in einem von Cromwells Aktenordnern aufzurufen – der Anwalt hatte die phänomenale Fähigkeit, Seiten in seiner Erinnerung zu »sehen«, als würden sie ihm vor Augen gehalten –, und er dachte über die Serie von »Krediten« von Mr Cromwell an Mr Wakefield nach.
Mehr als einmal hatte Dollarhyde den jungen Cromwell vor solchen Geschäften gewarnt. »Dieser Mr Wakefield ist nichts wert, Mr Oliver – kein Vergleich mit seinem Vater oder seinem Urgroßvater, Sir Myles! Ihr wisst doch, dass er alles, was Ihr ihm gebt, für Wein und Weiber verschleudert!«
Aber Cromwell hatte immer nur die Achseln gezuckt und ihm dieselbe Antwort gegeben. »Er hat einen guten Kern, Silas. Ich hoffe, dass er eines Tages erwachen und Gott erkennen wird.«
Dollarhyde erlaubte keinem seiner Gedanken, sich auf seinem Gesicht widerzuspiegeln, sondern fragte nachdenklich: »Geht Ihr nicht zur Hochzeit, Mr Wakefield? Ich weiß, dass Mr Cromwell Euch erwartet.«
Chris warf dem Anwalt einen bösen Seitenblick zu. Er wusste, dass Dollarhyde trotz seiner höflichen Manieren nichts für ihn übrighatte. »Ich nehme an, das werde ich tun, Silas«, murmelte er. Er musste Oliver einfach sehen. Er war verzweifelt auf der Suche nach Geld, um seine Gläubiger abzuschütteln. Ein weiterer Blick auf Dollarhydes Gesichtsausdruck verriet ihm, dass der Anwalt das vermutlich wusste. Zur Hölle mit ihm! – Er hat ein Paar Augen, das durch einen Mann hindurchblickt, als wäre er aus Glas! »Nun, dann gehe ich jetzt.«
»Oh – richtet Braut und Bräutigam meine besten Wünsche aus, Sir«, rief Dollarhyde, als Wakefield den Raum verließ. Die Tür fiel krachend ins Schloss, der Anwalt kicherte. Er griff nach seiner Schreibfeder, aber die Tür schwang von Neuem auf, und ein kleiner dicker Mann mit einem fröhlichen roten Gesicht tauchte auf.
»War das Wakefield?«, fragte er. Er deponierte einen Stapel Papiere auf dem Berg von Dokumenten, der sich auf Dollarhydes Schreibtisch erhob. »Wieder mal da, um Cromwell abzustauben, eh?«
»Warum sollte er sonst kommen sollen?«
»Verstehe nicht, warum Euer Vorgesetzter sich das gefallen lässt!«
Dollarhyde schnappte: »Das geht dich nichts an, James!« Dann gab er nach und zuckte die mageren Schultern. »Es ist, nun ja, seltsam. Mr Cromwell ist ein harter Mann – aber er hat eine Vorliebe für diesen Wakefield-Burschen, die ich nie verstanden habe. Natürlich, sie wuchsen zusammen auf, und Wakefield war mehr oder weniger ein älterer Bruder für ihn. Cromwell hat hauptsächlich Schwestern, und Wakefield nahm ihn auf die Jagd mit – und dergleichen mehr. Und er brachte immer etwas mit für Mr Wakefield, wenn er auf Reisen ging. Ich nehme an, es liegt daran, obwohl ich wünschte, er würde den Mann abschütteln. Er wird demnächst ins Schuldgefängnis kommen. Entweder das oder man wird ihn in irgendeiner Kneipe bei einer Rauferei wegen eines Mädchens erstechen.«
»Wie viel schuldet er Mr Oliver?«
»Das geht dich nun wirklich nichts an! Und jetzt – raus mit dir!«
Draußen trottete Chris durch den stürmischen Regen, ging mit schweren Schritten den gepflasterten Bürgersteig entlang.
Muss Bargeld auftreiben – kann meine Gläubiger nicht mehr länger hinhalten!
Die Wolken über ihm wurden immer dunkler, und schließlich fand er sich in einer schmalen Straße vor einer Taverne. Er presste die Lippen zusammen und murmelte: »Nein! Ich muss genug Geld auftreiben, um über die Runden zu kommen, bis ich auf einem Schiff anheuern kann!«
Er stand unsicher da. Der Regen rann von der Krempe seines Hutes. Verzweiflung umfing ihn, so dunkel wie die schmutzfarbenen Wolken, die den Himmel bedeckten. Er dachte an seine Vergangenheit, an die Zeiten, als er mit goldgefüllten Taschen von einer Reise zurückgekommen war … und bald überschwemmten ihn bittere Erinnerungen daran, wie ihm das Geld wie Wasser durch die Finger geronnen war. Wie oft hatte er den festen Entschluss gefasst festzuhalten, was er erworben hatte! Wie oft hatte er sich geschworen, sich aus dem Teufelskreis zu befreien, in dem er gefangen war – er machte Geld, und dann verschleuderte er es bei Wein und Weibern und Glücksspiel!
Der Regen trommelte dumpf auf die Steine. Chris duckte den Kopf und starrte das wirbelnde Wasser an, das Strohhalme, kleine Stöckchen, Papierstückchen und anderen Unrat an seinen Füßen vorbeischwemmte. Die Stadt London hatte eine einfache Methode gefunden, sich des Abfalls zu entledigen. Unrat und Kehricht wurden einfach auf die Straße geworfen – und wenn die Regenfälle kamen, wurden sie fortgeschwemmt, die einzige Gosse in der Mitte der Straße entlang.
Warum gibt es nichts, das all den Unrat wegschwemmt, den ich in meinem Leben angehäuft habe?
Christopher Wakefield war ein Mann der Tat und neigte nicht zum Grübeln. Wenn man ihm eine Aufgabe stellte, ihm ein Schwert in die Hand gab – nun, dann wusste er, was er zu tun hatte! Aber als er da durchnässt im Regen stand, erfüllte ihn ein jähes Gefühl dafür, wie leer und nutzlos und verpfuscht sein Leben war. Er hatte das schon früher empfunden, aber er hatte immer Vergessen im Rausch und im Trubel gesucht.
Er dachte an seine Familie – wie er seinen Eltern mit seinem wilden Leben das Herz gebrochen hatte –, und ein tiefer Schmerz durchschauerte ihn. Er dachte an seinen jüngeren Bruder, Cecil, der mit siebzehn Jahren all die Vorzüge besaß, an denen es ihm mangelte.
Mit jäher Gewalt überschwemmten ihn das Elend seiner Kopfschmerzen, die...