Márai | Die Fremde | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Márai Die Fremde

Roman
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-492-96015-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-492-96015-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Viktor Henrik Askenasi, der großbürgerliche Held in Sándor Márais ebenso dramatischem wie radikalem Roman, verliebt sich in die Tänzerin Eliz. Ungerührt will er die langjährige Ehe mit Anna lösen. Doch bald nimmt Askenasis Suche nach dem eigenen Glück wahnhafte Züge an - und er ist bereit zu einem schicksalhaften Schritt.

Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.
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38? C

Der Kaffee wurde unter bunten Sonnenschirmen auf der Terrasse serviert.

Als erster erhob sich der Wortführer und Spaßvogel der deutschen Tischgesellschaft von der gemeinsamen Mittagstafel. Es war der stark schwitzende kahlrasierte Porzellanfabrikant, der zwischen zwei Gängen mit Messer und Gabel auf dem Tisch oder Tellerrand die neuesten Gassenhauer so stimulierend trommeln konnte. »Nimm dich in acht vor blonden Frauen«, sang er in Manier und Tonfall der gerade populären Filmschauspielerin, sooft die Herrin des Hauses, die strohblonde Direktorin des Argentina, den Saal betrat. Die in geschäftlicher Hinsicht versteckt bedeutungsvolle Anspielung rief jedesmal verdiente Heiterkeit hervor.

Der Porzellanfabrikant trug seine Sommertracht, gelbe Hose aus Segeltuch, offenes kragenloses Sporthemd, das seine rotgebrannte, mit grauen Haaren bedeckte gewölbte Brust zeigte, riemenartige, mit bayrischen Stickereien verzierte Hosenträger, gelbe Hornbrille und weiße Kappe, wie eine possenhafte Verkleidung in einer Laienvorstellung. In der Tür zur Terrasse, von wo man das Meer sehen konnte, schauderte er regelrecht zurück. »Schon übertrieben«, sagte er in seinem Telegrammstil, schnarrend, forsch und so laut, daß man es bis in den Speisesaal hörte. Er schüttelte den Kopf und blinzelte in Richtung Meer und Himmel, als würde er unvermutet Zeuge einer Katastrophe.

Er wandte sich dem Thermometer zu, das an den Türpfosten genagelt war, reckte sich kurzsichtig, als könnte sein an irdische Größenordnungen gewöhnter Blick das Ende der kletternden Quecksilbersäule nicht erreichen, und las die Temperatur halblaut, fast respektvoll ab. »Achtunddressig«, sagte er asthmatisch stotternd, rhythmisch. Seiner Stimme war die Vorliebe des Jahrhunderts für Rekorde anzuhören. Mit einem Tritt öffnete er die Glastür des Speisesaals und rief: »Achtunddressig im Schatten.« Und als der unsichtbare Chor nicht einmal auf dieses Alarmsignal reagierte, eher für sich: »Alle Achtung.« Plattfüßig schlurfte er in seinen Tennisschuhen über den Beton der Terrasse, von dem trockene heiße Luft aufstieg, und sackte in den einzigen Liegestuhl, dem die Ölbäume, die sich über die Brüstung neigten, nennenswerten Schatten spendeten.

Einige Minuten lag er allein in seinem Stuhl. Er zog das sorgfältig geglättete zusammengefaltete Blatt einer deutschen Zeitung aus der Hosentasche. Wie es schien, hatte die Hiobsbotschaft jene Gäste, die in diesem Moment noch einigermaßen geborgen hinter raschelnden Fächern und heruntergelassenen Jalousien, neben eisgekühltem Mineralwasser und zu Pfützen versumpften Speiseeisresten ausharrten, zu besonderer Zurückhaltung veranlaßt.

Während sie zu Mittag gegessen hatten, war ein einheimischer Straßenverkäufer vor dem Haus erschienen und hatte seine Handarbeiten – Tischdecken, Halstücher und handgewebte bunte Bettüberwürfe – auf der Steinmauer der Terrasse ausgebreitet. Unterhalb der Mauer befanden sich zwei in steilen Stufen angelegte Gärten, ein Tennisplatz und ein Gemüsegarten, der bis auf die Höhe des Meeresspiegels abfiel. Von der Terrasse führte eine serpentinenartig gewundene, mit Kies bestreute schmale Treppe zum Strand. Der Verkäufer wanderte die Treppe hinauf und hinab, lautlos, mit schleppenden, vornehmen Bewegungen. Er holte Steine aus dem Garten und beschwerte seine duftige Ware, die von der glutheißen, vom Meer heraufwehenden Brise immer wieder zusammengerollt wurde. In seinen schwarzen Baumwollpantoffeln, den weißen Wollstrümpfen, der ehemals schwarzen abgenutzten Hose aus Englischleder und seiner mit roten Schnüren besetzten kurzärmeligen Joppe bewegte sich der Verkäufer mit einfältiger und aparter Schwermut so geräuschlos, als wäre er Teil einer seltsamen Trauerzeremonie. Die Farben und Muster der Stickereien und Webereien entsprachen den dumpfen Schattierungen der Landschaft, den kargen und traurigen Linien der Felsen, den graugrünen Farbnuancen der verbrannten Vegetation. So, wie der Mann sich bewegte, trat er mit seinen Waren nicht schärfer aus der Landschaft hervor als die Ölbäume oder die Stauden der Hauswurz. Nach einiger Zeit ließ er sich auf den obersten Stufen der Terrasse nieder, bescheiden und abwartend, mit ratlosem Gesichtsausdruck, und lächelte vor sich hin.

In der Tür erschien wie ein Schwarm die deutsche Tischgesellschaft, lärmend und unbefangen im sicheren Gefühl der Stärke, die der Zusammenschluß gewährt. Voran, tonangebend wie auch bei Tisch, die knochige braune Frau mit dem angenehmen Gesicht und ihr Ehemann, der auch zum Mittagessen demonstrativ zwanglos im Pyjama erschienen war. Er spazierte vor seiner Frau über die Terrasse, das Binokel auf der Stumpfnase, die Schritte mit kurzsichtigem Mißtrauen setzend. Seinen harten Kugelbauch schob er vor sich her wie ein angesehener Häuptling, der sein Volk zielsicher durch gefährliches Gebiet führt. Auch sie machten die Wahrnehmung, daß es sehr heiß sei.

Die bunten billigen Kleider der Frauen waren durchgeschwitzt. Die Hitze ist zu dieser Stunde so drückend, schmerzlich und klebend, daß jeder Körper die Vorstellung von Beschwernis und Unreinheit erzeugt.

Einzig eine grauäugige, aschblonde Frau hebt sich leuchtendweiß und kühl von der deutschen Gruppe ab; mit der Selbstverständlichkeit der blutarmen und sehr weißhäutigen Frauen bewegt sie sich in dem klebrigen Dampf, überlegen, als wäre sie in ihrem Element, wohl wissend, daß sie im Kreis dieser zweitrangigen und triefenden Leiber die einzige ist, die den Tücken des Klimas zu trotzen vermag. Ihr Körper wirft die Hitzestrahlen zurück, als wären ihre hageren Muskeln nicht von Haut, sondern von einer dünnen Asbestschicht überzogen.

»Achtunddreißig«, stellen auch die Mitglieder der eintreffenden Gruppe fest, sie schnappen nach Luft, kichern in ihrer Pein und kommentieren den Hitzegrad. In Anbetracht der Jahreszeit ist die Temperatur wirklich außergewöhnlich, selbst hier, im südlichsten, stickigsten und immer tropisch schwülen Winkel der Adria. Ein Belgrader Herr aus dem Ministerium, aus dessen pechschwarzem viereckigen Bart ab und zu ein fettiger Tropfen fällt, erinnert sich nun, daß es hier vor vierzehn Jahren in diesem Monat geregnet habe; dazu habe ein kalter Wind geweht, und nur die Tapfersten hätten sich ins Meer gewagt.

Die Gruppe hat es sich auf den vom Dunst klebrigen Liegestühlen einigermaßen bequem gemacht. Der Händler erhebt sich, wie einer, dessen Augenblick gekommen ist, tritt neben seine Webereien und lächelt. Doch die Damen werfen ihm nur matte, ratlose Blicke zu, und niemand rührt sich. Wie manche Insekten spielen sie im Augenblick der Gefahr Reglosigkeit und Scheintod.

»Zeppelin – macht – Arktisfahrt«, trägt der Porzellanfabrikant im Stakkato aus der Zeitung vor; er läßt sich von der Rebellion der Elemente nicht abschrecken und hält es für nötig, diese halb Besinnungslosen über Neuigkeiten aus der zivilisierten Welt zu informieren. Als Resonanz der Nachricht erfolgen einige kraftlose Bemerkungen über die klimatischen Verschiedenheiten der Erde und die Überlegenheit der deutschen Technik. Unter den bunten Sonnenschirmen beginnt die Hitze zu stinken. Seltsam, die Sonne ist gar nicht zu sehen. Nichts verrät den Ursprung der Hitze, als handelte es sich um eine Luftheizung aus nicht wahrnehmbaren Behältern.

Die Gestalt des Händlers, sein schwarzer schlanker Oberkörper, hebt sich neben der Steinmauer so scharf vom hellgrauen Hintergrund ab, so zerbrechlich und schwankend, als wäre er Teil der Flora und würde gemeinsam mit der Landschaft atmen, sich bewegen und aufblühen, gemeinsam mit den Ölbäumen und Kakteen, die sich unter dem Druck des warmen Luftstroms zuweilen schwerfällig bewegen. Dieser Wind hinterläßt in der Landschaft keine Spuren, er bringt keine Frische, fächelt nur über die Oberfläche von Menschen- und Pflanzenkörpern und röstet sie. Hier oben auf der Terrasse wirkt dieses Rösten, als hätten irgendwo in der Tiefe Heizer einen Moment lang die Tür eines Schiffskessels geöffnet, und nun wallte glühende Luft zum Deck hinauf. Sie läßt den Schmerz einer Verbrennung ersten Grades auf der Haut zurück. All das ist außergewöhnlich, Ende Mai.

Das Meer ist blaßgrau und dampft, als wäre es am Siedepunkt. Das Hotel mit seinen Terrassengärten erzeugt die Illusion eines großen Segelschiffs mit vielen Decks – eines Schiffs, das bei Windstille und mit gerefften Segeln unendlich langsam auf den Horizont zutreibt. Das Argentina ist das beste Haus weit und breit; der Oberkellner war erster Steward auf dem Vergnügungsschiff jenes aus der Küstengegend stammenden vornehmen Herrn, der dieses Gebäude vor nicht allzu langer Zeit in luxuriöser Ausstattung zu privaten Zwecken hatte erbauen lassen. Das Vergnügungsschiff fährt auch heute noch auf dem Meer; gleich einem verarmten herrschaftlichen Kutscher wickelt es den Personenverkehr zwischen Zara und Cattaro ab. Die exklusiv eingerichtete prunkvolle Sommerresidenz wurde zum Gästehaus umgestaltet, und der ruinierte vornehme Herr soll sich unter dem Eindruck seines finanziellen Zusammenbruchs in eine Heilanstalt zurückgezogen haben, irgendwo in Spalato.

Die Gäste werden von Reisebüros geschickt – unter wohlklingenden Versprechungen, die das Argentina nur zum Teil einlösen kann. Eine wichtige Rolle in diesen Ankündigungen spielen die »Terrassengärten«, in Wirklichkeit Gemüsebeete, sowie der »separate Meeresstrand«, der zwar in sich geschlossen und vornehm, doch bis zur Unbenutzbarkeit steinig ist. Trotz aller Geschäftstüchtigkeit der Reisebüros sprach sich die Wahrheit allmählich herum, und das ursprünglich luxuriöse Argentina sah sich zu Preissenkungen...


Márai, Sándor
Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.



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