Márai / Heinrichs | Bekenntnisse eines Bürgers | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Márai / Heinrichs Bekenntnisse eines Bürgers

Erinnerungen
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-492-96010-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erinnerungen

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-492-96010-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kindheit, Jugend und Studienjahre eines Europäers: Als deutschstämmiger Ungar verbrachte Sándor Márai seine Studienjahre vor allem in Deutschland und Paris. Mit feiner Lakonie und warmem Humor erzählt er seine Kindheit im Städtchen Kaschau und führt als scharfer Beobachter den Untergang des österreichischen Kaiserreichs und die wilden Zwanzigerjahre vor, die seine eigene Lehr- und Wanderzeit als Bohemien und Journalist waren.

Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.
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I


1   HÄUSER MIT ZWEI OBERGESCHOSSEN gab es nur ein Dutzend in der Stadt: das, in dem wir wohnten, die beiden Honvedkasernen und noch einige öffentliche Gebäude. Später wurde das Palais des Armeekorpskommandos gebaut, es hatte ebenfalls zwei Stockwerke und einen elektrischen Aufzug. Unser Haus aber, das an der Hauptstraße, nahm sich wie ein echtes Großstadthaus aus; es war ein veritables Mietshaus, zweistöckig, mit breiter Fassade, geräumigem Hausflur und breiten Treppen – in diesem Treppenhaus war es immer zugig, vormittags lagerten die Marktleute auf den Stufen, in Pelzjacken und Schaffellmützen, sie aßen Speck, rauchten Pfeife und spuckten, und von jedem Stockwerk gaffte eine lange Fensterreihe auf die Straße, zwölf Fenster. An die Wohnungen im ersten Stock und so auch an die unsrige war ein schmaler Balkon gebaut, auf dessen eisernes Geländer wir im Sommer in Erdkästen gepflanzte Geraniengirlanden stellten. (»Verschönere deine Stadt!« So lautete die Losung, und zur Förderung dieses edlen Gedankens wurde sogar ein Verein gegründet, der Verein für Stadtverschönerung.) Es war ein sehr hübsches und vor allem ansehnliches Haus, das erste wirklich »moderne« in der Stadt, die Fassade aus roten Backsteinen, unter die Fenster hatte der Architekt überall Gipszierat geklebt, und überhaupt hatte er alles eingebaut, was der Ehrgeiz eines Architekten im ausgehenden Jahrhundert an ein so nagelneues Mietshaus hängen konnte.

In dieser Stadt wirkten alle Häuser, auch die, wo mehrere Familien wohnten und die Bewohner Miete zahlten, wie Einfamilienhäuser. Die eigentliche Stadt war nahezu unsichtbar, sie war nach innen gebaut, erstreckte sich hinter der ebenerdigen Fassade der Straßenecken. Blickte der Wanderer durch eines der Torgewölbe, sah er vier oder fünf Häuser auf dem Hof, den die Enkel und Urenkel vollgebaut hatten; wenn ein Sohn heiratete, klebte er einen weiteren Flügel an die vorhandenen Bauten. Die Stadt versteckte sich auf den Höfen. Die Menschen lebten in eifersüchtiger, scheeler Vorsicht nach innen; mit der Zeit baute sich jede Familie einen verborgenen kleinen Stadtteil zusammen, einen kleinen Häuserblock, den offiziell und vor den Augen der Welt nur die Straßenfront repräsentierte. Kein Wunder, daß das Haus, in dem meine Eltern zu Beginn des Jahrhunderts eine Wohnung gemietet hatten, in einer solchen Umgebung als regelrechter Wolkenkratzer galt und rasch im ganzen Komitat bekannt wurde. Es war ein richtiges trauriges Mietshaus, wie sie in der Hauptstadt schon zu Hunderten gebaut wurden: ein Mietshaus mit Mietparteien und langen, vergitterten »Gängen«, die sich an den oberen Geschossen um den Hof wanden, mit Waschküche, mit Zentralheizung und mit Dienstbotenklosetts an den Nebentreppen. Dergleichen hatte man in der Stadt bisher nicht gesehen. Die Zentralheizung war eine zeitgemäße Neuerung, aber auch über die Dienstbotenklosetts wurde viel geredet, denn jahrhundertelang hatte man sich taktvoll nicht dafür interessiert, wo die Dienstboten ihre Notdurft verrichteten. Der »moderne« Architekt, der unser Haus baute, war ein Reformer in jener Gegend, als er in seinem Werk so eindeutig die Bedürfnisorte des Zusammenlebens von Herrschaft und Personal trennte. In meiner Schulzeit prahlte ich sogar, in unserem Haus gingen die Dienstboten auf ein eigenes Klosett. In Wahrheit verhielt es sich so, daß die Dienstboten aus einer merkwürdigen Scham und Abneigung heraus diese Aborte nicht aufsuchten; aber niemand wußte, wohin sie dann gingen. Wahrscheinlich machten sie es wie früher, wie davor schon, über Jahrhunderte, seit Anbeginn der Zeit.

Der Architekt konnte sich austoben, sparen mußte er weder an Platz noch an Material. Aus dem Treppenhaus trat man in eine wohnzimmergroße Diele, hier stand ein Spiegelschrank, an der Wand hingen ein bestickter Bürstenhalter und ein Hirschgeweih, und im Winter war es hier schauderhaft kalt, denn man hatte vergessen, einen Heizkörper einzubauen; hier wurde also nicht geheizt, und die Pelze der Gäste gefroren eishart an den Haken. Dies sollte eigentlich der »Haupteingang« vom Treppenhaus sein, aber geöffnet wurde er nur für geschätzte Gäste. Die Dienstboten, die Familienmitglieder und auch die Eltern kamen über den Gang in die Wohnung, neben der Küche gab es eine kleine verglaste Tür, doch ohne Klingel, man mußte ans Küchenfenster klopfen. So gelangten auch die Freunde der Familie herein. Der »Haupteingang«, die Diele mit dem Hirschgeweih, wurde nur zwei-, dreimal im Jahr benutzt, am Namenstag meines Vaters und an den Faschingsabenden. Einmal wünschte ich mir von meiner Mutter zum Geburtstag als besondere Gunst, an einem gewöhnlichen Tag ganz allein und nur zum eigenen Vergnügen die Wohnung vom Treppenhaus her und durch die Diele betreten zu dürfen.

Der Hof war rechteckig und außerordentlich weitläufig. In der Mitte stand wie ein Galgen für mehrere Personen ein großes Teppichklopfgestell, und es gab einen Schöpfbrunnen, der das Wasser mit Elektrokraft in die Wohnungen beförderte. Wasserleitungen kannte man damals in der Stadt noch nicht. Jeden Morgen und jeden Abend erschien die Frau des Hausmeisters am Brunnen, schaltete den kleinen Elektromotor ein und ließ ihn laufen, bis aus dem Sicherheitsrohr unter der Traufe des zweiten Stockwerks ein dünner Wasserstrahl auf den Hof rann, das Zeichen, daß nun auch der oberste Behälter mit Trinkwasser gefüllt war. Diese außergewöhnliche Attraktion lockte, besonders zur Stunde des Sonnenuntergangs, neben den Bewohnern des Hauses alle an, deren Würde das Gaffen nicht verletzte, in erster Linie Kinder und Dienstboten. In den meisten Häusern der Stadt war damals schon die elektrische Beleuchtung in Mode; elektrische Lampen und Auersche Gasglühlichtbrenner wechselten sich ab. Vielerorts leuchtete man aber noch mit Petroleum. Bei meiner Großmutter brannte bis zu ihrem Sterbetag eine mit Petroleum gefüllte Hängelampe, und als mich meine Eltern zum Abitur in das Haus eines Kantors und Lehrers in die Nachbarstadt schickten, war es ein Jahr lang so, daß ich bei Petroleumlicht lernte und Siebzehnundvier spielte; allerdings empfand ich diesen Zustand als unmodern, und es nagte an meinem Selbstgefühl, daß ich mich an einem so rückständigen Ort aufhalten mußte. In meiner Kindheit waren wir zu Hause noch stolz auf den elektrischen Strom, aber wann immer möglich, zündeten wir zum Abendessen, wenn keine Gäste kamen, die Gasbrenner an, die ein weiches Licht von milchiger Tönung spendeten.

Die Zentralheizung röchelte und gluckste mehr, als daß sie heizte. Mutter stellte, weil sie diesem Dampfwunder nicht traute, den Kindern einen Kachelofen ins Studierzimmer. Alle diese Zaubermittel des beginnenden Jahrhunderts machten einem das Leben eher nur schwerer. Die Erfinder wurden durch unseren Schaden klug. Ein Jahrzehnt später knisterte und knatterte die Welt vor lauter Elektrizität, Dampf und Verbrennungsmotoren, aber gerade in meiner Kindheit dokterten die Erfinder noch an ihren Erfindungen herum, und was die kühnen Neuerer den einfältigen Gläubigen an den Hals hängten, war ziemlich unvollkommen und unbrauchbar. Das elektrische Licht flackerte, brannte gelb und blinzelnd. Die Dampfheizung versagte stets bei grimmiger Kälte oder überflutete die Räume mit unmäßiger dunstig-feuchter Hitze, deshalb kränkelten wir so häufig. Aber man mußte »mit der Zeit gehen«. Die Schwester meiner Mutter zum Beispiel ging ungern mit der Zeit, sie heizte die weißen Porzellanöfen mit Holz, wir flüchteten vor der Dampfheizung, um uns bei ihr aufzuwärmen, und genossen die gleichmäßige, wohlriechende Wärme der glühenden Buchenscheite.

Über diesen großen Hof fegte mit beständigem Heulen und Pfeifen ein scharfer Wind, denn nach Norden, zu den hohen, auch im Sommer schneebedeckten Gebirgen hin, die in zahnlückigem Halbkreis die Stadt umgeben, lag er offen. An die zweigeschossige Vorderfront waren zu beiden Seiten des Hofes eingeschossige Gebäude angebaut, und hinten im Hof stand eine Art Zweizimmer-Einfamilienhaus, das war die Hausmeisterwohnung. Das alles zog sich weit hin und nahm viel Platz ein. Anscheinend hatte der Architekt selbst nicht damit gerechnet, daß sich für alle Räume des »Mietshauses« Bewohner finden lassen würden, und deshalb auf überflüssige Geschosse im Hof verzichtet. Das ganze Haus kündete vom neuen Zeitalter, rühmte den aufstrebenden und aufbauenden, unternehmerischen Kapitalismus. Dies war das erste Haus in der Stadt, das nicht mit der Absicht errichtet wurde, die Bewohner sollten dort zwischen den vertrauten Wänden bis ans Lebensende ihre Tage zählen – soviel ich weiß, wohnt heute keiner mehr von denen in diesem Haus, die dort zu Beginn des Jahrhunderts eine Wohnung gemietet hatten. Es war ein Mietshaus mit Mietparteien. Die alten Patrizierfamilien wären nicht gern in ein solches Haus gezogen. Ein wenig verachteten sie auch die fremden, wurzellosen Bewohner des großen Hauses.

2   MEIN VATER MEINTE, wer auf sich halte, zahle nicht Miete und wohne nicht in einem fremden Haus; er unternahm alles, damit wir so bald wie möglich ein Eigenheim beziehen könnten. Aber bis es soweit war, verging noch eine geraume Zeit, ganze anderthalb Jahrzehnte. In das »Eigenheim« kam ich nur noch zu Besuch, und ich habe auch keine angenehmen Erinnerungen an das unnötig geräumige, fast luxuriöse Gebäude. Die Kindheit verbrachte ich im »Mietshaus«. Wenn ich das Wort »daheim« denke, sehe ich den breiten Hof hinter dem Haus an der Hauptstraße vor mir, die langen, vergitterten Gänge, das große Teppichklopfgestell und den Brunnen mit dem Elektromotor. Ich glaube, es war wohl doch ein unwirtliches, ungestaltes Haus. Niemand wußte, wie er dorthin geraten war, keine Freundschaft verband die Bewohner,...


Márai, Sándor
Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.

Heinrichs, Siegfried
Siegfried Heinrichs ist Autor und Verleger in Berlin sowie Herausgeber der Tagebücher und der Erinnerungsbände »Bekenntnisse eines Bürgers«, »Land, Land» von Sándor Márai.



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