Márai / Marai | Befreiung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 194 Seiten

Márai / Marai Befreiung

Roman
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-492-95218-7
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 194 Seiten

ISBN: 978-3-492-95218-7
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Budapest, 1944: Zusammen mit den anderen Bewohnern wartet die junge Erzsébet im Keller eines Hauses auf ihre Befreiung. Doch die nimmt einen unerwarteten, tragischen Verlauf.Unerbittlich und mit großer Intensität erzählt Sándor Márai vom Schicksal einer jungen Frau und dem unbedingten Willen nach Freiheit.

Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.
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IN DER DRITTEN NACHT nach dem Neujahrstag – am vierundzwanzigsten Tag der Belagerung Budapests – fasste eine junge Frau im Schutzraum eines großen Mietshauses in der Innenstadt den Entschluss, aus dem belagerten Haus zu verschwinden, die zum Kriegsschauplatz umgestaltete Straße zu überqueren und, egal wie und um jeden Preis, in die zugemauerte Nische des Luftschutzkellers im gegenüberliegenden Haus zu gelangen zu dem Mann, der mit fünf weiteren schon die dritte Woche in diesem Versteck bangte. Dieser Mann war der Vater der jungen Frau, den die politische Polizei sogar jetzt, in Zeiten des größten Durcheinanders und der Auflösung, mit besonderem Eifer und peinlicher Genauigkeit suchte.

Die junge Frau war keine »Heldin«, jedenfalls empfand sie sich nicht als eine solche. Schon seit Wochen spürte sie nichts anderes als Müdigkeit, die ihren ganzen Körper erfüllte: eine Müdigkeit, wie man sie nach außergewöhnlichen körperlichen Belastungen verspürt, wenn die Seele glaubt, sie hielte die Anstrengungen noch aus, aber der Körper übergangslos zu revoltieren beginnt, der Magen auf alles, was passiert, mit Übelkeit reagiert, und der Organismus im Ganzen so hilflos ist, als wäre er in ein Bleilaken gewickelt. Zu Zeiten brutaler Hitze und diesiger Sommersglut empfindet der menschliche Körper diese äußerste, widerliche Müdigkeit.

Die Mattigkeit der jungen Frau rührte nicht von irgendwoher; seit Monaten lebte sie heimatlos, ihr Vater hielt sich in Lebensgefahr verborgen. Seit zehn Monaten versteckte sie ihren Vater und andere, Flüchtlinge, Heimatlose, die in dieser sich auflösenden Welt für eine Nacht ein Zuhause, ein Gelegenheitsasyl suchten; und in den allerletzten Wochen war auch sie gezwungen gewesen, sich »gegen das Gesetz« versteckt zu halten, denn in der Universität, wo sie ihr letztes Semester absolvierte, hatte sie dem deutschen Befehl nicht Folge geleistet, war nicht mit ihren Kommilitonen in den Zug gestiegen, der die universitäre Jugend vor den Russen nach Deutschland »rettete«. So galt jetzt auch sie als eine Art Deserteurin und war mit falschen Papieren untergetaucht. Aber das kümmerte sie nicht weiter, so wie auch andere sich um solche Kleinigkeiten nicht mehr sorgten. Die Russen hatten die Vorstädte schon hinter sich gelassen und kämpften jetzt zwischen den Häuserblocks der Innenstadt.

Ihren falschen Papieren zufolge – sie hatte sie von der Tochter einer Reinemachefrau der Universität bekommen – hieß die junge Frau Erzsébet Sós. In den Papieren stand, sie sei dreiundzwanzig Jahre alt und von Beruf Pflegerin im Krankenhaus, und all das hätte für den oberflächlichen Betrachter im Großen und Ganzen der Wirklichkeit entsprechen können. In Wahrheit jedoch stimmte durch irgendeinen gewöhnlichen Zufall nur der Vorname: Die junge Frau hieß tatsächlich Erzsébet. In der Namensgleichheit sah sie ein himmlisches Zeichen, eine günstige Fügung, so hatte sie die in die Unterwäsche gestickten Es nicht durch andere Buchstaben ersetzen müssen, und auch darüber war sie froh, denn zu dieser Zeit besaß sie keine andere Unterwäsche mehr als die, die sie am Leib trug.

Manchmal, in ruhigeren und nüchterneren Augenblicken – denn in den vergangenen Wochen, besonders in den letzten drei, in denen ihr Vater im Keller des nahen Hauses eingemauert war, hatte sie sich gefühlt wie eine Fieberkranke, die nur zu wenigen Zeiten des Tages sachlich urteilen und denken kann – empfand sie diesen Maskenball, ihre persönliche Angelegenheit mit den falschen Papieren, als lächerlich; als lächerliche, unbedeutende, übertriebene Vorsicht und überflüssigen, wichtigtuerischen Diensteifer. Wie alle, die in den vergangenen Monaten, in der Zeit nach der deutschen Besetzung, aus irgendwelchen Gründen zum Untertauchen gezwungen waren, hatte auch Erzsébet alle Kniffe dieser Lebensweise erlernt und zugleich erfahren, dass in einer solchen Situation neben der obligatorischen Vorsicht auch das blinde Schicksal über den Menschen wacht.

Die Leute versteckten sich, monatelang, mit »einwandfreien« Papieren, mit fieberhafter Vorsicht, aber dieselben Leute verließen plötzlich, um fünf Uhr am Nachmittag, aus einer Nervenkrise heraus, ihren Schlupfwinkel, gingen auf die Straße, in ihr Stammcafé oder ins Lichtspieltheater, liefen der Polizei oder den politischen Ermittlern geradewegs in die Arme und wurden tatsächlich gefangen genommen, oder es geschah nichts. Weshalb? Erzsébet ahnte bereits, dass diese Ereignisse nicht einmal der vorsichtigste »Partisan« berechnen konnte.

Außerdem machte sich die Mehrzahl dieser »Partisanen« nur wichtig; unter ihnen waren viele, nach denen niemand ernsthaft suchte, die sich eher nur ein Alibi verschaffen wollten vor sich und der Welt, vor der Zukunft, dass auch sie zu den Verfolgten gehört hatten in jenen gefährlichen Zeiten. Auch Erzsébet wusste, dass sie, was ihre Person betraf, ruhig auf der Straße unterwegs sein durfte. Trotzdem versteckte sie sich; denn allein der Name, den sie trug, war zu jener Zeit ein Reizwort für die Schergen der Macht.

Natürlich nicht der Name von Erzsébet Sós. Der Name des Vaters, dieser im ganzen Land bekannte und geachtete Name, der Name des Wissenschaftlers und Professors, der in den letzten Jahren mit immer zischenderem Hass, mit immer aufrichtigerer Blutrünstigkeit von den hetzerischen Journalisten niedergeschrieben und von den neuen Mächtigen auf ihren politischen Versammlungen angeprangert worden war. Der Name des Vaters, den auch Erzsébet trug, dieser Name, der sogar außerhalb der Landesgrenzen bekannt und geschätzt war, überall, wo die Menschen noch geneigt waren, unparteiisch zu urteilen und wissenschaftlich zu denken: Dieser Name war wirklich nicht dazu geeignet, jetzt offen getragen zu werden.

Erzsébet Sós wusste, dass ihre Person von keiner besonderen Gefahr bedroht war, denn wer kümmerte sich in diesem Durcheinander um ein junges Mädchen? All ihre Schuld bestand nur darin, dass sie sich nicht mit den anderen Studenten nach Deutschland hatte deportieren lassen – und wer wusste das schon? Einige Beamte der Universität, niemand sonst; und diese Leute mussten, wenn sie denn überhaupt noch in Budapest waren, derzeit andere Sorgen haben, als Studentinnen aufzuspüren. Persönlich interessierte Erzsébets Schicksal niemanden.

Aber der Name, der Name des Vaters, war auch jetzt, da die große Stadt schon an allen vier Ecken brannte, da die Russen sich von Straße zu Straße, von Haus zu Haus gegen die sich bereits zurückziehenden eingeschlossenen Deutschen und ungarischen Pfeilkreuzler vorkämpften, noch immer ein Reizwort für die Faschisten. Der Name des Vaters, an dem keine Erinnerung an politisches Handeln haftete, war in den vergangenen Jahren ein Fanfarensignal für jeden Faschisten gewesen. Die Person des Vaters, dieses einsame menschliche Leben, seine Arbeit, diese allen praktischen, alltäglichen Interessen entzogene wissenschaftliche Arbeit erzürnte und reizte seitdem die Kollegen und Politiker, und in der letzten Zeit war sein Name sogar für die Menschen auf der Straße eine Art hetzerischer Begriff.

Warum? Erzsébet hörte viele Diskussionen über diese Frage, las die Artikel und Flugschriften der Gegner, ohne diesen leidenschaftlichen Hetzereien eine bestimmte, klar formulierte Anklage entnehmen zu können. Ein Linker, sagten sie, oder ihre Anklagen waren nationalerer Art: engländerfreundlich, judenfreundlich, von den Juden oder den Engländern bezahlt, paktiert heimlich mit Moskau, hat den ungarischen nationalen Geist, die Wissenschaft verraten. Derlei wurde vorgebracht. Dabei war der Vater in keiner politischen Partei, und seine linksgerichteten Gesinnungsfreunde nahmen ihm seine bedachte Zurückhaltung übel. Der Vater ging auch nicht zu geheimen Versammlungen. Unter seinen Freunden waren zwar Juden, doch viele von ihnen hatten keine persönliche Beziehung zum Judentum und waren in dieser Frage wie in ihren politischen Ansichten anderer Meinung und diskutierten heftig mit dem Wissenschaftler. Trotzdem waren sie Freunde. Und dann waren da die anderen, die den Vater hassten. Sie schrieben und redeten über ihn, als organisierte er tatsächlich Parteien, heimliche Heere, als stünde er in unmittelbarem Kontakt mit den Alliierten, als hätte er das Land verraten und verkauft. Erzsébet wusste, dass diese Beschuldigungen falsch waren.

Der Vater war Astronom, Mathematiker, und ihr schien, noch in der letzten Zeit hätte er sich mehr und intensiver mit den Geheimnissen des Himmels befasst als mit den Ereignissen auf der Erde. Seine Meinung über die Juden war, dass sie Menschen seien wie alle anderen, die man nicht wegen ihrer Herkunft verurteilen und bestrafen dürfe; wie alle Menschen mit Fehlern, und einzig über ihre Fehler könne man urteilen und nicht über ihre Abstammung. Aber jetzt, da die Juden verfolgt wurden wie schädliche Tiere, war er in dieser Frage nicht mehr zurückhaltend; er teilte Heim und Vermögen mit den Verfolgten. Und Erzsébet wusste, dass der Vater geflohenen polnischen und serbischen Studenten sowie französischen Intellektuellen, die die Schrecken des Krieges nach Ungarn getrieben hatten, ebenso geholfen hatte in diesem Land, das seit der Besetzung durch die Deutschen nicht mehr Heimat war, sondern das Jagdgebiet von Verfolgern und Verfolgten.

Der Vater gehörte zu den Verfolgten. Am Tag der Besetzung – Erzsébet wird sich ihr Leben lang an diesen Sonntagmorgen erinnern – suchten ihn schon am frühen Nachmittag die Männer der Gestapo, und als sie ihn weder in der Wohnung noch im Büro fanden, hinterließen sie eine Vorladung, mit Bleistift auf einen Papierschnipsel geschrieben, und befahlen ihm, in einem Hotel in der Innenstadt zu erscheinen. Doch der Vater hatte zu dem Zeitpunkt schon von...


Márai, Sándor
Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.

Kunze, Christina
Christina Kunze, geboren 1971, studierte in Hungarologie und Klassische Philologie in Berlin und Budapest. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören Sándor Márai, Agnes Heller, Edina Szvoren und Lorinc Szabó. Sie lebt in Berlin. Webseite: www.revesz.de



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