Márai / Marai | Die Glut | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Márai / Marai Die Glut

Roman
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-492-95047-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-492-95047-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Darauf hat Henrik über 40 Jahre gewartet: Sein Jugendfreund Konrád kündigt sich an. Nun kann die Frage beantwortet werden, die Henrik seit Jahrzehnten auf dem Herzen brennt: Welche Rolle spielte damals Krisztina, Henriks schöne junge Frau? Warum verschwand Konrád nach jenem denkwürdigen Jagdausflug Hals über Kopf? Eine einzige Nacht haben die beiden Männer, um den Fragen nach Leidenschaft und Treue, Wahrheit und Lüge auf den Grund zu gehen.

Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.
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3

Bis fünf kam aus seinem Zimmer kein Lebenszeichen. Dann klingelte er nach dem Diener und verlangte ein kaltes Bad. Das Mittagessen hatte er zurückgeschickt und nur eine Tasse kalten Tee getrunken. Er lag im halbdunklen Zimmer auf dem Diwan, jenseits der kühlen Wände sirrte und gärte der Sommer. Er lauschte auf das heiße Brodeln des Lichts, auf das Rauschen des warmen Winds im ermatteten Laub, auf die Geräusche des Schlosses.

Jetzt, nach der ersten Überraschung, fühlte er sich mit einemmal müde. Man bereitet sich ein Leben lang auf etwas vor. Ist zunächst betroffen. Sinnt dann auf Rache. Wartet. Er wartete schon lange. Er wußte gar nicht mehr, wann sich die Betroffenheit in ein Bedürfnis nach Rache und in ein Warten verwandelt hatte. Die Zeit bewahrt alles auf, doch es wird farblos, wie die ganz alten, noch auf Metallplatten fixierten Photographien. Das Licht, die Zeit verwischen auf den Platten die scharfen und typischen Schattierungen der Gesichter. Man muß das Bild hin und her drehen, denn es braucht eine bestimmte Lichtbrechung, damit man auf der blinden Platte denjenigen erkennt, dessen Merkmale das Metall einst in sich aufgenommen hatte. So verblaßt mit der Zeit jede menschliche Erinnerung. Eines Tages aber kommt von irgendwoher Licht, und man erkennt wieder ein Gesicht. In einer Schublade hatte der General solche alten Photographien. Das Bild seines Vaters. In der Uniform eines Gardehauptmanns, das Haar in dichten Locken, wie ein Mädchen. Um seine Schultern der weiße Umhang des Gardisten, den er sich mit einer beringten Hand auf der Brust zusammenhält. Den Kopf stolz und beleidigt seitwärts geneigt. Er hatte nie gesagt, wo und warum er beleidigt worden war. Wenn er von Wien nach Hause kam, ging er auf die Jagd. Tag für Tag Jagd, zu jeder Jahreszeit; gab es kein Rotwild oder war Schonzeit, jagte er Füchse und Krähen. Als ob er jemanden umbringen wollte und sich ständig auf diesen Racheakt vorbereitete. Die Mutter des Generals, die Gräfin, verbot den Jägern das Schloß, ja, sie verbot und entfernte alles, was an die Jagd erinnerte, die Gewehre, die Patronentaschen, die alten Pfeile, die ausgestopften Vögel und Hirschköpfe, die Geweihe. Damals ließ der Gardeoffizier das Jagdhaus bauen. Dort war dann alles beisammen: Vor dem Kamin lagen große Bärenfelle, an den Wänden hingen braungerahmte, mit weißem Filz bezogene Tafeln mit den Gewehren. Belgische und österreichische Flinten. Englische Messer, russische Büchsen. Für jede Art von Wild. Und in der Nähe des Jagdhauses waren die Hunde untergebracht, das vielköpfige Rudel, die Spürhunde und die Vizslas, und auch der Falkner wohnte hier, mit den drei Falken mit der Falkenhaube. Hier, im Jagdhaus, verbrachte der Vater des Generals seine Zeit. Die Schloßbewohner sahen ihn nur beim Essen. Im Schloß waren die Wände in Pastell gehalten, von hellblauen, hellgrünen, blaßroten goldgestreiften Seidentapeten bedeckt, wie sie in den Webereien in der Umgebung von Paris hergestellt wurden. Jedes Jahr wählte die Gräfin in den französischen Fabriken und Geschäften persönlich Tapeten und Möbel aus – jeden Herbst, wenn sie auf Familienbesuch in ihre Heimat fuhr. Nie ließ sie diese Reise aus. Sie hatte ein Recht darauf, es war im Ehevertrag festgelegt worden, als sie den fremden Gardeoffizier heiratete.

»Vielleicht war es wegen der Reisen«, dachte der General.

Er dachte es, weil sich die Eltern nicht verstanden hatten. Der Gardeoffizier ging auf die Jagd, und da er die Welt, in der es auch noch anderes und andere gab – fremde Städte, Paris, Schlösser, fremde Sprachen und Sitten –, nicht ausrotten konnte, so tötete er eben die Bären, die Rehe und Hirsche. Ja, vielleicht war es wegen der Reisen. Er stand auf und stellte sich vor den bauchigen weißen Porzellanofen, der einst das Schlafzimmer seiner Mutter beheizt hatte. Es war ein großer hundertjähriger Ofen, aus dem die Wärme strömte wie die Gutmütigkeit aus einem dicken, trägen Menschen, der seinen Egoismus mit einer wohlfeilen guten Tat mildern möchte. Es war eindeutig, daß die Mutter hier gefroren hatte. Dieses Schloß mitten im Wald, mit seinen gewölbten Zimmern, war ihr zu dunkel: daher die hellen Tapeten an den Wänden. Und sie fror, weil es im Wald immer windig war, auch sommers, ein Wind, der wie die Bergbäche roch, wenn sie im Frühling von der Schneeschmelze anschwellen und über die Ufer treten. Sie fror, und man mußte fortwährend den weißen Ofen heizen. Sie wartete auf ein Wunder. Sie war nach Osteuropa gekommen, weil die Leidenschaft, von der sie angerührt war, sich als stärker erwiesen hatte als ihre Vernunft. Der Gardeoffizier hatte sie während seines diplomatischen Dienstes kennengelernt. Er war in den fünfziger Jahren bei der Pariser Gesandtschaft Kurier gewesen. Sie lernten sich auf einem Ball kennen, und irgendwie war diese Begegnung unvermeidlich. Die Musik spielte, und der Gardeoffizier sagte auf französisch zu der Grafentochter: »Bei uns sind die Gefühle stärker, endgültiger.« Es war der Gesandtschaftsball. Draußen war die Straße weiß, es schneite. In diesem Augenblick hielt der König Einzug im Saal. Alle verneigten sich. Der König trug einen blauen Frack mit weißer Weste und hob sein goldenes Lorgnon mit einer langsamen Geste vor die Augen. Als sich die beiden aus dem tiefen Hofknicks aufrichteten, blickten sie einander in die Augen. Da wußten sie schon, daß sie miteinander leben mußten. Sie lächelten blaß und verlegen. Im Nebenzimmer spielte die Musik. Die junge Französin sagte: »Bei Ihnen, wo ist das? …« und lächelte kurzsichtig. Der Gardeoffizier nannte seine Heimat. Das erste vertrauliche Wort, das zwischen ihnen fiel, war der Name der Heimat.

Sie kamen im Herbst zu Hause an, fast ein ganzes Jahr später. Die fremde Frau saß unter Schleiern und Decken ganz tief drinnen in der Kutsche. Sie fuhren über die Berge, durch die Schweiz und Tirol. In Wien wurden sie von Kaiser und Kaiserin empfangen. Der Kaiser war wohlwollend wie in den Schulbüchern. Er sprach: »Nehmen Sie sich in acht! Im Wald, wohin er Sie mitnimmt, gibt es Bären. Auch er ist ein Bär.« Und er lächelte. Alle lächelten. Es war ein großer Gunstbeweis, daß der Kaiser mit der französischen Frau des ungarischen Gardeoffiziers scherzte. Sie erwiderte: »Ich werde ihn mit Musik zähmen, Majestät, so wie Orpheus die wilden Tiere gezähmt hat.« Sie fuhren durch obstduftende Wiesen und Wälder. Als sie die Grenze passierten, verschwanden Berge und Städte, und die Frau begann zu weinen. »Chéri«, sagte sie, »mir ist schwindlig. Da ist ja alles endlos.« Die Pußta machte sie schwindeln, diese von der schwebend-schweren Herbstluft benommene Einöde, wo die Ernte schon vorbei war, wo sie stundenlang über schlechte Wege fuhren, wo am Himmel nur Kraniche zogen und am Straßenrand die Maisfelder so geplündert dalagen wie nach einem Krieg, wenn die verletzte Landschaft dem abziehenden Heer nachstirbt. Der Gardeoffizier saß mit verschränkten Armen wortlos im Wagen. Zuweilen verlangte er ein Pferd und ritt über lange Strecken neben dem Wagen her. Er blickte auf die Heimat, als sähe er sie zum ersten Mal. Er betrachtete die niedrigen Häuser mit grünen Fensterläden und weißer Veranda, in denen sie übernachteten, die Häuser der Menschen seines Volks, von dichten Gärten umgeben, die kühlen Zimmer, in denen ihm jedes Möbelstück, ja, sogar der Geruch in den Schränken vertraut war. Und die Landschaft, deren Einsamkeit und Melancholie sein Herz anrührten wie nie zuvor: Mit den Augen der Frau sah er die Ziehbrunnen, die trockenen Felder, die Birkenwälder, die rosa Wolken am Abendhimmel über der Ebene. Die Heimat öffnete sich vor ihnen, und der Gardeoffizier spürte mit Herzklopfen, daß die Landschaft, die sie empfing, auch ihr Schicksal war. Die Frau saß in der Kutsche und schwieg. Manchmal hob sie das Taschentuch ans Gesicht. Bei solchen Gelegenheiten beugte sich ihr Mann vom Sattel herunter und blickte fragend in die tränennassen Augen. Doch die Frau bedeutete ihm, daß sie weiterfahren wollte. Sie waren einander verbunden.

In der ersten Zeit war ihr das Schloß ein Trost. Es war so groß, der Wald und die Berge schlossen es so eindeutig gegen die Ebene ab, daß sie es als Heim in der fremden Heimat empfand. Und es trafen Transportwagen ein, jeden Monat einer, aus Paris, aus Wien. Wagen mit Möbeln, Leinen, Damast, Stichen und einem Spinett, denn die Frau wollte ja mit Musik die wilden Tiere zähmen. Der erste Schnee lag schon auf den Bergen, als sie eingerichtet waren und das Leben hier aufnahmen. Der Schnee riegelte das Schloß ab wie ein düsteres nordisches Heer die belagerte Burg. Nachts traten Rehe und Hirsche aus dem Wald, blieben im Schnee im Mondlicht stehen und beobachteten die beleuchteten Fenster mit schiefgelegtem Kopf und mit ernsten Tieraugen, die wundersam blau schimmerten, während sie der Musik lauschten, die aus dem Schloß sickerte. »Siehst du ?…« sagte die Frau am Klavier und lachte. Im Februar jagte der Frost die Wölfe von den Bergen herunter, die Bediensteten und die Jäger machten im Park Reisigfeuer, in deren Bann die Wölfe heulend kreisten. Der Gardeoffizier ging mit dem Messer auf sie los; die Frau schaute vom Fenster aus zu. Es gab etwas, das sie miteinander nicht ausmachen konnten. Aber sie liebten sich.

Der General trat vor das Bild seiner Mutter. Es war das Werk eines Wiener Malers, der auch die Kaiserin porträtiert hatte, mit herabhängendem, geflochtenem Haar. Das Porträt hatte der Gardeoffizier im Arbeitszimmer des Kaisers in der Burg gesehen. Die Gräfin trug auf dem Bild einen rosaroten Strohhut mit Blumen wie die Florentiner Mädchen im Sommer. Das goldgerahmte Bild hing über der Kirschbaumkommode mit den vielen Schubladen. Die Kommode hatte noch seiner Mutter gehört. Der General stützte sich mit beiden Händen...


Márai, Sándor
Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.



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