E-Book, Deutsch, 286 Seiten
Müller Das Bbk-P
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7309-5095-1
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Science Fiction Kurzgeschichten
E-Book, Deutsch, 286 Seiten
ISBN: 978-3-7309-5095-1
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Bbk-P ist die Abkürzung von Biobaukasten-Prinzip, sprich in der gleichnamigen Titelgeschichte können Menschen sich aufgrund fortgeschrittener Gen-Technik bei Gefahr in einzelne Zellen teilen, die gegen Weltraumkälte, Vakuum, Sonnenglut etc. resistent sind, und danach wieder zusammenfließen... Coverbild: Serg-DAV/Shutterstock.com 'In diesem Buch hat sich Jürgen Müller mehr oder weniger der Apokalypse gewidmet - sei es im wahrsten Sinne des Wortes oder als persönliche Katastrophe der Hauptperson. ... Unglaublich, welchen Ideenreichtum Jürgen Müller in diesem Band wieder bewiesen hat, der ausgewählte Werke der letzten beiden Jahre enthält. Ein Muss für den Freund unterhaltsamer und gepflegter Science Fiction mit einem Schuss Ironie, einem Quäntchen Nachdenklichkeit und einer Prise Selbsterkenntnis! Meine Bewertung: 10 von 10 Punkten.' (aus einer Rezension von Jürgen Eglseer)
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Umgeleitet
Regenwald bedeckte alles Land, das nicht Wüste oder Steppe war. Die Luft war schwül und rein, das Wasser klar, dennoch schrieb man das Jahr 2053. Die alte Frau und der Junge durchwateten Furten, gingen stoisch nach Süden, Tag für Tag, Woche für Woche. »Ist das Meer endlich in Sicht?«, fragte sie zur Mittagsglut. »Oder wenigstens irgendeine Behausung?« »Moment.« Während sie rastete, erklomm der Junge mühsam den Wipfel eines Baumriesen. Schlafende Faultiere und Fledermäuse hingen kopfüber im Geäst, Affen kreischten, Schlangen glitten Fröschen nach, Schmetterlinge umtanzten ihn. »Ruinen«, rief er. »Eine halbe Meile der Sonne entgegen und schrecklich hoch.« »Wolkenkratzer«, sagte die alte Frau. »Irgendeine verlassene Stadt. Da ist niemand mehr. Komm weiter.« Betrübt warf der Junge einen letzten Blick hinüber, dann rutschte und hangelte er sich zu ihr hinab. »Weiter gehts«, sagte sie, nachdem sie ihm seinen Anteil an den gesammelten Früchten und einer Kokosnuss übergeben hatte. Die Front der vor Schmutz starrenden blinden oder scheibenlosen Fenster und die von Schlingpflanzen und Orchideen überwucherten Fassaden blieb hinter ihnen zurück, ebenso die zerbröckelten Straßenzüge, auf denen längst Bäume Wurzeln gefasst hatten, und die zu Rost zerfallenden zurückgelassenen Fahrzeuge. »Schade«, sagte er. Eine Großstadt hatte er noch niemals von Nahem gesehen. »Komm weiter«, mahnte sie, »bleib nicht zurück!« Gegen Abend erreichten sie ein Dorf. Hundegekläff empfing sie und Affenmenschengeschrei. Die Einwohner, allesamt in den Sechzigern und Siebzigern, kamen heran. »Ihr sucht?«, fragte der Wortführer, ein starkknochiger Mann mit schulterlangem verfilztem Haar. »Eine Gefährtin für meinen Enkelsohn«, sagte die alte Frau. Der Junge blickte verlegen zur Seite. »Sucht euch eine unter unseren Enkeln und Urenkeln aus.« Der Anführer deutete auf die Meute der Affenmenschen. »Es sind genügend Weibchen dabei.« Die Alte sah kurz hinüber, obwohl sie wusste, was sie sehen würde. Im Staub des Dorfplatzes balgten sich struppige Jungen und Mädchen, andere saßen da und lausten sich gegenseitig. Eine Vielzahl neugieriger Augen schaute sie an – aus keinem schimmerte auch nur der Hauch von Verstand: Affenmenschen – jeder sprachbegabte Papagei vermochte sich besser auszudrücken; jedes Schwein, jeder Hund sprach besser auf eine Dressur an. »Keine Seele«, sagte sie. »Nicht einer eurer Nachfahren besitzt eine menschliche Seele. Es sind allesamt Schimpansen in Menschengestalt.« »Sagen wir Kapuzineräffchen.« Der Mann schaute trotz der Bitternis mit einer Spur Belustigung auf das Treiben. »So ist es seit dreißig Jahren, hier wie überall. Ihr sucht vergebens, gute Frau. Es wird keinen neuen Adam, keine neue Eva geben. Geht zum Meer und schließt euch den Gaianern an. Dort findet ihr auch unsere Söhne und Töchter. Grüßt sie von uns.« »Meiner Tochter wurde noch vor kaum zehn Jahren ein Junge von Verstand geboren«, sagte sie, als hätte sie nicht zugehört, »irgendwo auf der weiten Welt muss es ein dazugehöriges gleichaltriges Mädchen geben.« »Geht zum Meer«, wiederholte er, »und helft den Gaianern; das bringt eher Nutzen.« »Zum Meer wollten wir ohnehin, wenn auch aus anderem Grund«, sagte sie. »Gebt uns ein Nachtlager, morgen ziehen wir weiter.« Ohne Abschied verließen sie tags darauf den Ort. Die Woche darauf fanden sie die ersten Fischerhütten, das weite offene Meer und einige abgehärmte Frauen, allesamt in den Dreißigern bis Fünfzigern, sowie schreiende und tobende oder sich lausende Affenmenschen. »Keine neue Eva darunter«, sagte die alte Frau zum Jungen, »langsam verliere ich jede Hoffnung. Seid ihr Gaianer?« »Unsere Männer«, sagten die Frauen. »Sie sind mit den Booten draußen.« »Was heißt das – Gaianer?«, fragte der Junge. Tumult brach aus. »Ein Menschenjunges, das sprechen kann!«, riefen die Frauen. »Das letzte«, antwortete die alte Frau. »Meine Tochter brachte ihn zur Welt, bevor sie im Kindbett starb. Wir suchen eine Gefährtin für ihn; ein Mädchen mit Herz, Hirn und Verstand.« Verächtlich blickte sie zum tobenden Nachwuchs des Fischerdorfs hinüber. »Keine leere Hüllen.« Niemand nahm ihr die Blicke und Worte übel. »Ein Mädchen mit Herz, Hirn und Verstand?«, sagten die Frauen. »Eins, das denken kann? Das gibt es hier und selbst an der ganzen Küste entlang nicht.« »Wir werden weiterziehen«, sagte die alte Frau. »Morgen.« »Was ist das: Gaianer?«, fragte der Junge nochmals. »Eine Art Sekte«, sagten die Frauen. »Unsere Männer gehören dazu. Du wirst sie kennen lernen. Frag sie danach. Sie werden dir alles erklären.« Am frühen Morgen kehrten die Männer vom Fischfang zurück. Doch ihre Boote waren fast leer. Fisch zum Zwecke des Verzehrs interessierte sie kaum. »In allen Weltmeeren treiben sie sich herum, diese Delfine, aber wir werden sie dennoch ausrotten«, riefen sie stolz. »Und Neuigkeiten haben wir mitgebracht! Selbst im einst hoch technisierten Europa ist die Zivilisation zusammengebrochen, werden Städte und Dörfer von einem dichten, finstren Urwald überwuchert, wie es ihn zur Zeitenwende gab. Alle Elektrizität ist erloschen. Zwar leben noch immer erfahrene Ingenieure, aber niemand hat mehr Interesse am Hochfahren der Generatoren und der Reparatur des Stromnetzes; die eine Hälfte der Menschheit ist in Apathie verfallen und die andere agiert in Sekten ähnlich der unseren. Sie machen wie wir Jagd auf jedes halbwegs intelligente Tier, kämpfen an vielen Fronten, erschlagen jeden Delfin und jeden Hund, der klug aufschaut und auf ein ›Apport‹ reagiert, jeden ›listigen‹ Fuchs. Selbst Frauen machen mit! Weltweit drehen sie derzeit jedem Papagei, jedem Beo, jedem Ara, jedem Kakadu, jedem Kanarienvogel, jedem männlichen Wellen- und Nymphensittich, jedem Kolkraben, der kaum verständlich ein Wort krächzen kann, jedem Star, jedem Buchfink, jedem Eichelhäher, jedem Kranich, jeder Elster, jeder Krähe und jeder Dohle den Hals um. Hört zu, Frauen! Zieht von nun an, während wir auf See sind, in die Wälder und ebnet jeden Ameisenhaufen, jeden Termitenhügel ein, räuchert die Bienenstöcke aus, misstraut jeder Schwarmintelligenz und jedem sprachbegabten Vogel, tut euren Anteil am Überlebenskampf. Findet Gaia keine Ausweichkörper mehr, wird sie die Seelen wieder in die Herzen unserer Kinder schicken müssen. Ja – daran glauben wir«, so wandten sie sich dem Jungen zu. »Wir glauben an James Lovelocks Hypothese, dass die Erde ein Lebewesen sei, ihre Biosphäre eine Einheit bilde. Wir glauben daran, dass die Erde – Gaia – sich in regelmäßigen Zeitabständen von zwölftausendfünfhundert bis dreizehntausend Jahren durch Kippen der Erdachse, dem so genannten ›Polsprung‹, einer Selbstreinigung unterzieht. Wir glauben daran, dass der letzte dieser Selbstheilungsversuche etwa um zehntausendfünfhundert vor Christus stattfand und die Sintflut zur Folge hatte. Und wir sind überzeugt davon, dass Gaia diesmal einen anderen Weg wählte, um all die unschuldigen Tier- und Pflanzenarten zu bewahren, denn was können sie für die Verbrechen des chronisch kranken Menschengeschlechts. Weiterhin glauben wir daran, dass Gaia eine ›Erdseele‹ besitzt und Teilstücke davon an die Individuen der höchstentwickelten Tierart ›verleiht‹, nach deren Tod zurücknimmt, reinigt und erneut vergibt und dass sie diese ›Seelenstückchen‹ oder -funken seit nunmehr dreißig Jahren irgendeiner anderen hoch entwickelten Tierart ›vermacht‹. Diese Tierart gilt es auszurotten, damit unsere Nachkommen wieder menschlich werden! Manche von uns Gaianern dringen sogar in die Wüsten und Trockensavannen Südafrikas vor und räuchern die Erdmännchen aus, denn viel zu menschenähnlich wirken sie, wenn die Wächtertiere sich bei drohenden Gefahren vor den Eingängen ihrer Erdhöhlen aufrichten, als dass man sie nicht ernst nehmen könnte, nicht auf den Verdacht käme, sie besäßen die Seelen und den Verstand unserer verlorenen Kinder. Wenn wir alle potenziellen Wirtskörper vernichtet haben, wird Gaia die Seelen wieder in unsere Nachkommen stecken müssen, weil ihr keine andere Möglichkeit bleibt.« »Aber der Junge? Wieso besitzt er Verstand?« »Ein Versehen. Ein Einzelfall, der nichts zu bedeuten hat.« »Ich muss nachdenken«, sagte die alte Frau. »Vielleicht helfen wir euch beim Kampf. Viel zu müde sind meine Glieder für den weiten Weg der Suche nach einer Gefährtin für ihn. Vielleicht zieht er allein weiter, sobald er erwachsen ist, vielleicht nicht. Ich glaube, ich werde mich hier zur Ruhe setzen.« »Ihr seid uns willkommen....