E-Book, Deutsch, Band 1, 140 Seiten
Müller Das erste Mal
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7309-5097-5
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Science Fiction Kurzgeschichten
E-Book, Deutsch, Band 1, 140 Seiten
Reihe: Science Fiction Kurzgeschichten
ISBN: 978-3-7309-5097-5
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Story von den Myriaden Parallelwelten ... Die Story von den gestressten Bewohnern des Hyperraums ... Die Story vom kannibalischen Bewusstsein ... Und noch weitere 15 Storys. Coverbild: Tithi Luadthong/Shutterstock.com
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Koinzidenz unerwünscht
Knoch fühlte sich verfolgt. War er entlarvt, sein Pseudonym bekannt? Oh Gott, was vertrödelte er seine Zeit mit Gedanken, die nichts brachten? Er musste fliehen, über einen Zaun springen, in einen Hinterhof laufen, seine Verfolger abschütteln. Nur so hatte er eine Chance, seinen Häschern zu entkommen. Jetzt! Es ging nicht. Sein Herz, das ihm bereits bis zum Halse schlug, würde versagen, statt in die Freiheit würde er in eine Sackgasse laufen, irgendetwas würde schief gehen, man würde ihn fassen. Mit weichen Knien lief er weiter, langsam und direkt auf das Hochhaus zu, in dem er wohnte. Warum griffen sie nicht endlich zu? Vielleicht observierte man ihn nur, hatte einen Verdacht, aber nichts gegen ihn in der Hand? Dann war ein Fluchtversuch das Falscheste, was er tun konnte. So musste es sein! Anderenfalls hätte man ihn schon längst abgeführt ... wie all seine Freunde und Kollegen. Wie musste es ihnen jetzt ergehen? Lebten sie noch? Wurden sie gefoltert? Er war an der Haustür, nestelte am Schlüsselbund. Dabei drehte er sich unauffällig um, sah die Straße hinauf und hinunter. Niemand beachtete ihn! Die Nerven, sagte er sich und lief in den Hausflur, erleichtert und dennoch einem Zusammenbruch nahe. Die Tür fiel ins Schloss. Keine Scheiben splitterten, keine barsche Stimme rief: »Öffnen Sie!«, niemand brach sie auf. Er war in Sicherheit – noch. Er lehnte sich an die Wand, ließ sich auf die kalten Fliesen rutschen und atmete tief durch. So saß er eine ganze Weile. Erst als er einen Mitbewohner die Wohnung verlassen hörte, stand er auf. Mit dem Fahrstuhl fuhr er nach oben in den vierzigsten Stock. Obwohl es falsch war, strebte er als Erstes zum Fenster, spähte hinab. Kein Einsatzkommando wartete vor dem Haus, keine versteckten Ermittler waren zu erkennen. All die Menschen liefen zielstrebig weiter oder ins nächste Geschäft. Die Nerven, sagte er sich noch einmal, es waren nur die Nerven. Alles ist gut. In zwanzig Kilometer Entfernung lag der Raumhafen Nord. Noch von hier aus sah er die Spitzen der Kerker-Raumschiffe. Dort drinnen waren sie – all seine Freunde und Kollegen. In jeder Großstadt der Erde sah es so aus. Die Hälfte der Menschheit war inhaftiert, aber niemand begehrte dagegen auf. Was stellte man mit ihnen an? Niemand wusste Bescheid. Brachte man die Unerwünschten tatsächlich auf einen anderen Planeten, wie angekündigt? Oder würde man sie lieber in die Sonne stürzen lassen? Man verheimlichte es der Öffentlichkeit, gab nichts bekannt. Und diese hatte sich angepasst, duckte sich, verhielt sich ruhig – wie auch er! Ihn würden sie nicht deportieren! Nie würden sie ihn fassen, dazu war er viel zu gewieft, versuchte er sich einzureden. Niemand wusste, wer hinter Tim Tom Lowy stand – und das würde auch so bleiben! Bald würden all die Kerker-Raumschiffe starten; nächste Woche schon, wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte – und zwar ohne ihn! An die Arbeit! Er schloss das Fenster, zog die Vorhänge vor, verriegelte die Tür. Wenn man ihm auf die Spur käme, würde es nichts nützen, doch fühlte er sich sicherer so. Er fuhr den Computer hoch, tippte auf Anfrage den Benutzercode ein und überprüfte, dass ja keine Verbindung zum Internet bestand. Nur keine Spuren hinterlassen! Zur Einstimmung las er das gestern Geschriebene. Am Bildschirm und ja nicht ausgedruckt! So ging das nun schon seit langem. Nur keine Spuren hinterlassen! Nur so hatte er eine Chance. ›Russisch-Roulette‹ stand da. Und als Untertitel: ›Eine Horror-Story von Tim Tom Lowy.‹ ›Tim Tom Lowy‹ – das war sein Pseudonym. Oh, wie gerne würde er stattdessen wieder unter seinem eignen Namen schreiben, Lesungen halten, Anerkennung finden ... Warum nur war er in diese Zeit geboren worden? Tim Tom Lowy – noch wusste niemand, wer dahinter stand. Noch. Wenn, dann wäre er geliefert, wie so viele vor ihm. Er mochte gar nicht daran denken, lenkte sich ab mit dem Text. ›Russisch-Roulette – eine Horror-Story von Tim Tom Lowy‹, las er in Gedanken, aus Angst vor versteckten Mikrofonen. Und weiter: Laut war der Jahrmarkt, groß und bunt. Umrahmt von Ketten- und Kinderkarussell, Riesenrad, Berg-und-Tal-Bahn, Riesenschiffsschaukel, Skooter- und Achterbahn, Bierzelt und Schießbuden gab es Entfesslungskünstler, Luftballon- und Zuckerwatteverkäufer, Stelzenläufer, Schwert- und Feuerschlucker, Würstchen-, Eis- und Obststände, Spielbuden und Glücksräder, ein Lachkabinett und eine Geisterbahn. Die ›Russisch-Roulette-Bude‹ jedoch war Pascal Hövel neu. »Treten Sie näher, treten Sie heran!«, schallte es ihm entgegen. »Ein Euro pro Schuss. Ein Treffer bei höchstem Risiko, und hunderttausend Euro Gewinn gehören Ihnen!« Einladend schwenkte der Inhaber ein Gewehr. Einen Euro hatte Hövel noch, hunderttausend davon hätte er gern, und ein gewisses Risiko hatte ihn noch nie gescheut. Mit drei Riesenschritten war er beim Stand. Fehlte noch, dass ihm jemand zuvor kam! Und richtig – schon wurde er von hinten geschubst und geschoben. Den vordersten Platz streitig machen jedoch ließ er sich nicht. »Wo ist das Ziel?«, fragte er und griff nach dem Gewehr. »Immer mit der Ruhe«, sagte der Inhaber. »Kommen wir erst einmal zu den Regeln. Die nähere Vergangenheit ist tabu; die meisten Leute kennen ihre Groß- und Urgroßeltern von Angesicht, so dass ich als Betreiber schlechte Karten hätte.« Hövel verstand kein Wort. Auch die Umstehenden murrten, sahen verständnislos auf den Mann. Doch der deutete bereits in den Hintergrund, wo eine banale Zeitmaschine stand, wie man sie allerorts fand. »Damit müssen Sie in die Vergangenheit reisen und einen Menschen erschießen«, sagte er. »Das ist das ganze Spiel.« »Einen Menschen?«, fragte Hövel entsetzt. »Der Vergangenheit«, antwortete der Inhaber. »Längst tot, zu Staub zerfallen, verfault oder von den Würmern gefressen und nicht mehr der Rede wert.« »Ach so. Gut, geben Sie her.« Er griff erneut nach dem Gewehr. »Nicht so eilig, der Herr! Sie möchten doch den Hauptgewinn und nicht bloß tausend oder gar hundert Euro, nicht wahr?« »Aber gewiss! Was ist der Unterschied?« »Sehen Sie her ...« – der Inhaber hielt eine Tafel hoch –, »hier steht es: Jeder Mensch besitzt an Ahnen zum Beispiel acht Urgroßeltern in der dritten Generation, sechzehn Alt-Eltern in der vierten Generation, zweiunddreißig Alt-Großeltern in der fünften Generation, dann bereits eintausendvierundzwanzig Stamm-Eltern in der zehnten Generation, weiterhin eine Million und achtundvierzigtausendfünfhundertsechsundsiebzig Erzgroßeltern der zwanzigsten Generation sowie sechzehn Millionen und siebenhundertsiebenundsiebzigtausendzweihundertsechzehn Erzahnen-Urgroßeltern in der vierundzwanzigsten Generation retour. Und genau in diese Epoche geht für eine Minute die Reise! Dort schießen Sie einen x-beliebigen Menschen tot. War es zufällig einer Ihrer Urahnen, werden Sie auf der Stelle ausgelöscht und haben nie existiert, haben Sie Glück, gehört Ihnen der Hauptgewinn., sofern durch die Aufnahmen der in die Waffe integrierten Kamera belegt wurde, dass Sie wirklich einen Menschen erschossen haben. Sie werden verstehen: Ich muss mich gegen Betrüger absichern, und unter der vierundzwanzigsten Generation kann ich es nicht machen, sonst gehe ich noch heute bankrott, viel zu groß ist für Sie die Chance, mit der Existenz davonzukommen. Nach der Tat sind Sie sofort wieder hier. Es gibt keine Strafverfolgung – wo auch? Ein paar Tipps noch: Am besten, Sie warten bis kurz vor dem Ende der Minute, bevor Sie den Todesschuss abgeben – nicht dass man Sie lyncht oder sonst wie traktiert, bevor es zurückgeht. Angebracht wäre es auch, wenn Sie möglichst alte Leute erschießen, die ihre Kinder längst gezeugt haben. Wobei Sie aber nie sicher sein können – viele Männer wurden mit siebzig oder gar achtzig Jahren noch Vater, auch früher schon! Sie sehen, ich meine es gut mit meinen Kunden. – Wollen Sie immer noch?« Hövel nickte nur. Was hatte er schon zu verlieren? So wie bisher konnte es jedenfalls nicht weitergehen. »Dann wünsche ich Ihnen gutes Gelingen.« Damit überreichte der Inhaber Hövel das Gewehr und schob ihn in die Zeitmaschine, drückte auf ›Start‹. Hövel verließ die Zeitmaschine – es musste irgendwann im Mittelalter sein –, erregte Aufsehen mit seiner Kleidung und noch viel mehr, als er einen der umstehenden Dörfler erschoss, und stieg, die Schrecksekunde ausnutzend, in das Gerät. Die Rückreise war viel zu kurz, um das Glücksgefühl, das ihn überströmte, auszukosten. Eine Frau nahm ihn in Empfang, übergab ihm anstandslos den Hauptgewinn in Form eines Hunderttausend-Euro-Schecks, und doch kam ihm ihr Verhalten reichlich seltsam vor. Denn sie schüttelte wieder und wieder den Kopf...