Müller | Der Kalligraph des Bischofs | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Müller Der Kalligraph des Bischofs

Historischer Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-16625-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Historischer Roman

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

ISBN: 978-3-641-16625-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Turin im 9. Jahrhundert: Während die Stadt von den Sarazenen bedroht wird, wird der Westgote Claudius dorthin als neuer Bischof entsandt. Er nimmt Germunt an seinen Hof, einen Gelehrten, der in der Stadt Zuflucht vor seinen Bluträchern gesucht hat. Germunt bekommt die Erlaubnis, in den sieben freien Künsten zu unterrichten, und gerät bald in den Bann des Schreibens wie der Liebe, dringt tiefer in die Geheimnisse der Kalligraphie ein und muss eines Tages seine Kunst anwenden, um Leben zu retten.

Titus Müller, geboren 1977, studierte Literatur, Geschichtswissenschaften und Publizistik. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift »Federwelt« und veröffentlichte seither mehr als ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u.a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« brachte ihn auf die SPIEGEL-Bestsellerliste und wird auch von Geheimdienstinsidern gelobt.
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2

Von der höchsten Turmspitze aus betrachtet, war Turin eine wunderschöne Stadt. Im Norden und Osten donnerten die weißen Klüfte der Alpen in die Höhe, im Süden und Westen glitzerten Sonnenfunken in den Kurven des Flusses Po. Dazwischen bahnten sich durch fruchtbares Hügelland Straßen zu den vier Toren der Ummauerung. Innerhalb der Stadtmauern Turins schließlich befand sich ein riesiger Garten, so wirkte es, in den die Häuser hineingestreut waren.

Ein Besuch auf ebener Erde vermittelte einen ganz anderen Eindruck. Die breiten Römerstraßen, die nach Turin führten, waren lange Zeit nicht ausgebessert worden und so schadhaft, dass die meisten Händler auf den Fluss ausgewichen waren und ihre Güter nicht mehr mit Pferde- und Ochsenkarren, sondern mit Kähnen, Booten und Schiffen bewegten.

Es gab kaum noch intakte Steingebäude in der Stadt. Hunderte von Menschen lebten in Holzschuppen und hatten Nutzgärten zwischen den Ruinen römischer Prunkvillen angelegt, um ihren kargen Mittagstisch ab und an ein wenig bereichern zu können. Wo kein Garten war, schüttete man die Abfälle hin, wenn nicht der Eimer direkt auf die Straße entleert wurde. An heißen Tagen war der saure Geruch der Küchenabfälle so beißend, dass auch hartgesottene Turiner ihn nicht leugnen konnten.

Nur längs der großen Straßen sah man neue Häuser mit Steinfundament und zwei hölzernen Stockwerken. Im Schatten ihrer Höfe verbargen sie ähnliche Gärten wie die der Armen, dazu einen Stall und einige Wirtschaftsgebäude. Wer hier wohnte, besaß mit Sicherheit ausgedehnte Weideflächen und Weinberge gleich vor der Stadtmauer.

Und dann waren da zwei Anwesen, die den Prunk vergangener Jahrhunderte bewahrt hatten. Der Palast des Grafen mit dem dazugehörigen Hof ruhte im Südosten Turins. Hier hatte es niemand gewagt, Steine als Baumaterial herauszubrechen, und wenn die kräftigen Wände doch gebröckelt waren, hatte man sie so gut nachgebessert, dass kein Schaden mehr zu sehen war. Kräftig und von der Zeit unangetastet, thronte der Steinpalast über schwachen, hölzernen Neubauten.

Sein Gegenstück, nicht ganz so hoch, aber breiter gebaut, fand sich am anderen Ende der Stadt, unweit des Prätorianertors: der Bischofspalast. Niemand hatte Mauern aus Lehm in die großen Säle eingezogen, damit sie mehrere Familien beherbergen konnten, oder nach und nach die Wände abgebrochen, um daraus Fundamente für neue Häuser zu errichten. Seit Jahrhunderten beschienen Sonne und Mond dasselbe unveränderte Gebäude.

Biterolf betrat ungern den Speisesaal. Nur selten konnte er seine Mahlzeit in Frieden einnehmen. Dabei erschien er nur gerade rechtzeitig für das Tischgebet und verließ den Saal, während er noch am letzten Bissen kaute, um seinen Peinigern weniger Angriffsfläche zu bieten. Es machte keinen Unterschied, wo an der langen Holztafel er Platz nahm, immer saß einer von ihnen in seiner Nähe. Wäre es nicht unsittlich gewesen, hätte er sich zum Essen gern eine Kapuze über den Kopf gestreift.

Es war ein warmer Tag, die sanfte Frühlingsluft streichelte die Vorhänge der acht Fenster des Speisesaals. Für das Tischgebet herrschte Stille, dann setzte das Geplauder der bischöflichen Dienstleute wieder ein. Biterolf begegnete den Augen von Thomas, dem Kellermeister. Er war einer der Schlimmsten, und das gehässig-frohe Funkeln in seinem Blick verriet, dass der schöne Tag in ihm nur noch mehr Lust am Verhöhnen geweckt hatte.

»Oho, der Herr des Schreibens hat Hunger. Habt Ihr wieder einmal Krieg mit der Feder geführt, während Ihr uns den Frieden predigt?«

Stumm tauchte Biterolf seinen Holzlöffel in den Getreidebrei.

»He, ich rede mit dir!«

Biterolf seufzte. »Warum musst du immer wieder die alten Fragen aufbringen, Thomas? Ich hab jetzt keine Lust zu streiten.«

»Wir wissen doch, Streit ist dir zuwider«, spottete nun Ato, der jüngste Sohn eines adligen Langobarden. Er war zu einer geistlichen Laufbahn gezwungen worden, damit das Erbe nicht aufgeteilt werden musste. »Wenn es nach dir geht, werfen wir alle Waffen in eine Grube und schütten sie zu, nicht wahr? Aber was würdest du sagen, wenn am Remigiustag kein Rehbraten auf dem Tisch steht –«, er drehte sich im Halbkreis, damit alle es hören konnten, »von meiner Hand erlegt? Auch dazu braucht man Waffen, du Schlaukopf.«

Biterolf aß mit gebeugtem Rücken. »Das ist etwas anderes.«

»Etwas anderes. Ach so!« Der Kellermeister stützte seine Pranken auf dem Tisch ab. »Und wenn sich ein Sarazene mit seinem Krummsäbel auf dich stürzt, was tust du dann? Lässt du dir wie ein blödes Schaf den Kopf abschlagen?« Er deutete mit der Hand einen Schwerthieb an. »Zack!« Unsanft landete sein Handrücken auf Biterolfs Hals. »Schon hätten wir einen Querulanten weniger.«

»Wenn es Gottes Wille ist, dass ich sterbe, dann sterbe ich.«

»Komm mir nicht mit dem Herrn, Biterolf«, fuhr Ato auf. »Hat nicht der Herrgott das Volk der Israeliten immer wieder gegen die Heiden in den Krieg geschickt?«

»Beruhigt euch!«, rief eine Stimme vom hinteren Teil des Tisches. Ato und Thomas setzten sich.

»Simon Petrus schlug dem Knecht des Hohepriesters im Garten Gethsemane das Ohr ab«, murmelte Biterolf. »Hat ihn Christus dafür gelobt?«

»Ein Beispiel gegen viele.« Thomas wandte sich Ato zu: »Sag mal, schmeckt dir der Gerstenbrei heute auch so merkwürdig? Die Gerste ist in Ordnung, aber die Kräuter! Könnte es sein, dass Biterolfs Köter in den Kräutergarten gepinkelt hat?«

Ato lachte schallend. »Farro, dieses Mistvieh. Der hat die Bibel verstanden. Auge um Auge, Zahn um Zahn.«

Ein tiefes Knurren ließ die Dienstleute erschrocken aufblicken.

»Aus, Farro, es ist gut«, sagte Biterolf leise.

»Dein Rüde versteht die Dinge anders als du, siehst du?« Während er seine breiten Schultern ein Stück von Biterolfs Platz wegbewegte, versuchte der Kellermeister, einen Blick unter den Tisch zu werfen. »Ganz lieb, mein Hundebiest, ganz lieb … Wir sind auf deiner Seite.«

Biterolf nahm seine Schüssel und stellte sie auf den Boden. Es dauerte eine Weile, ehe Farro sich beruhigt hatte und seine Schnauze wie beiläufig zu dem Getreidebrei reckte, um ihn aus dem Holznapf zu lecken.

Ato deutete mit dem Löffel auf Biterolf. Er machte ein übertrieben ernstes Gesicht. »Wo du dich doch so gut in der Heiligen Schrift auskennst, warum wirst du nicht unser neuer Bischof? Soweit ich weiß, ist noch kein Nachfolger bestimmt.«

»Ja«, fiel Thomas mit gespielter Begeisterung ein, »du machst doch sowieso seit vielen Jahren den überaus wichtigen Schriftverkehr, da fehlt dir nicht mehr viel!«

»Der Kaiser hat den neuen Bischof schon auf den Weg geschickt«, sagte Biterolf trocken. Sofort war es still im Speisesaal. Die Essenden am Ende der Tafel beugten sich vor, um kein Wort zu verpassen. Biterolf, der seinen Blick gesenkt hielt, wusste genau, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Ja, man hielt seinen Posten für langweilig und prahlte mit Jagderfolgen oder Trinkgelagen. Dass er Jahr für Jahr mit Präzision geheime Urkunden ausgestellt hatte, den Briefverkehr des Bischofs in- und auswendig kannte und auch jetzt als erster über die Neuerungen Bescheid wusste, das wurde gern übersehen. Stattdessen dieser ewige Streit über das Töten, wo doch der Wille Gottes eindeutig war. »Sein Name ist Claudius. Er war bis vor Kurzem Lehrer der Hofgeistlichkeit bei Kaiser Ludwig. Es heißt, dass er ein Schüler Leidrads von Lyon ist. Und er soll mit unserem Kaiser seit dessen Kindheit befreundet sein. Hat ihn wohl schon in Aquitanien kennengelernt.«

»Ein Günstling also«, stöhnte Thomas, »ein Weichkopf, der sich bei der ersten Begegnung mit den Sarazenen in die Hosen machen wird.«

»Sprich nicht so von unserem künftigen Bischof!« Kanzler Eike stand am Ende der Tafel auf und zog die grauen Augenbrauen zusammen. Seine Glatze warf Falten, als er den Blick zu Biterolf wandte. »Warum hast du mir nicht davon berichtet, Biterolf?«

»Ich habe eben erst Botschaft erhalten. Verzeiht mir, Kanzler.«

Bevor Eike etwas antworten konnte, ergriff der Kellermeister wieder das Wort. »Aber es ist doch so, oder etwa nicht? Der Kaiser möchte einen Kindheitsfreund belohnen und gibt ihm deshalb Turin zum Sprengel. Ob dieser Claudius die Fähigkeit hat, eine so wichtige Diözese zu regieren, wird gar nicht gefragt. Vielleicht ist er klug, wenn er bisher die Geistlichen des Kaisers unterrichtet hat, aber das ist es doch nicht, was wir hier brauchen! Wir brauchen jemanden, der hart durchgreifen kann, jemanden, der die Langobarden niederhält und den Sarazenen ihr dummes Grinsen mit dem Schwert aus dem Gesicht wischt!«

Farro knurrte böse. Während der Kanzler strenge Rufe in den Speisesaal warf, man möge bitte Ruhe geben, murmelten die über dreißig Dienstleute nur noch mehr durcheinander.

»Wieso bestimmt eigentlich der Kaiser den Nachfolgebischof?«

»Was, wenn Claudius die Erweiterungen am Sankt-Petrus-Kloster in Novalesa nicht fortsetzt?«

»Ist er etwa ein Anhänger des Benedikt von Aniane?«

»Ha! Freut euch darauf: conversio morum, oboedientia – Armut und Keuschheit, Gehorsam …«

Endlich hatte der Kanzler die Ordnung wiederhergestellt. Sein Gesicht, sonst bleich wie ein Leichentuch, hatte die Farbe eines frisch gewaschenen Ferkels angenommen. »Biterolf, wann wird er hier sein?«

»Er ist zusammen mit dem Boten in Aachen aufgebrochen. Das bedeutet, dass er jetzt nördlich der Alpen sein dürfte. Ein oder zwei Wochen, je nachdem, wie schnell er reist …«

Eike...


Müller, Titus
Titus Müller, geboren 1977, studierte Literatur, Geschichtswissenschaften und Publizistik. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift »Federwelt« und veröffentlichte seither mehr als ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u.a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« brachte ihn auf die SPIEGEL-Bestsellerliste und wird auch von Geheimdienstinsidern gelobt.



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