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E-Book, Deutsch, 232 Seiten

Müller Der Krieg, er zieht sich etwas hin

E-Book, Deutsch, 232 Seiten

ISBN: 978-3-7412-0338-1
Verlag: Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der Autor Horst Müller, Jahrgang 1929, wird in seinen späten Lebensjahren von Erinnerungen an die Notzeit, die Zeit als Heranwachsender eingeholt.
Die Texte beschreiben zunächst, in „Heimatfront“, seine frühe Prägung durch Hitlers „Jungvolk“, die Zerstörung der Heimat, den Verlust von Vater und Schwester durch den Krieg. Es folgt die Liebesgeschichte von Inge und Hilmar, die von den emotionalen Turbulenzen der frühen Nachkriegszeit verstört werden und daran zugrunde gehen. Danach Erlebnisse als „Ausgebombte“, in der Enge einer Behelfswohnung, mit den kleinbürgerlichen Vermietern. Es folgt die Rechenschaft über den in der Jugendzeit erfahrenen Antisemitismus. Schließlich eine lange, nach der eigentlichen Kriegs- und Krisenzeit geschehene Selbstzerstörung eines ehemaligen Mitschülers, der die atomare Aufrüstung nicht erträgt.
Alle fünf Texte sind vom Stigma nicht enden wollender kriegerischer Bedrohung gezeichnet, deshalb tragen sie als Titel eine Zeile aus dem Lied der „Mutter Courage“:
DER KRIEG, ER ZIEHT SICH ETWAS HIN.
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Auf dem Herzen zu tragen
Dies ist die Geschichte von Inge. Und von Hilmar, den ich nie gesehen habe. Einmal geriet ich dazwischen, wusste es aber nicht. Inge kam im Sommer 1946 an den Holleteich zum Baden, wir sahen sie immer, wenn wir selbst dorthin gingen. Schüler waren wir, die jeden Tag in die Kreisstadt zur Schule fuhren. Ihre Schwester Jutta war auch jedes Mal dabei, hochbusig, aber nicht so anziehend wie Inge. Auf dem Grase lagen ihre beiden Kleider aus demselben Stoff, rosaweiß klein kariert, hübsch anzusehen. Der Holleteich liegt gleich neben dem Bahndamm, vom Zug kann man ihn sehen. Er ist klein, aber sehr tief, eine alte Eisenerzgrube. Man sagte, jedes Jahr käme es vor, dass sich jemand darin ertränkt. Manchmal versuchten wir uns gegenseitig mit dem Gerücht von einer Wasserleiche auf dem Grunde das Baden zu vergraulen. Jutta war lebhaft, schnell zum Lachen zu bringen. Jürgen Diecke, der Angeber, hatte eine Freundschaft oder Liebschaft mit ihr angefangen. Einmal nach dem Schwimmen, wieder angezogen, stand er neben ihr und drückte ihr ganz unvermittelt einen Kuss auf den Hals, ohne die Arme, die Hände zu gebrauchen, es wirkte wie ein Abstempeln: Hier, die gehört mir! Wir anderen, drei oder vier Jungen, hatten es alle gesehen, und darauf hatte er es auch angelegt. Jutta kicherte, wurde rot, nahm seine Hand, ließ sie aber gleich wieder los, als sie abzogen. Inge war ganz anders. Sie trug zwei dicke mittelblonde Zöpfe um den Kopf, das nannte man Gretchenfrisur. Sie fragte einen manchmal aus nach der Schule, nach einem Buch ("Die Jerominkinder", "Demian"). Meistens mussten wir alle passen. Sie aber hatte sich sogar schon "Wem die Stunde schlägt" verschafft. Mir erzählte sie einmal, im Schatten bei den Büschen und im Stehen, sehr gekürzt und ohne Stocken den Inhalt von "Unterm Rad". Sie sah mich unentwegt an dabei mit einem leichten Lächeln. Das hatte sie fast immer an sich, wenn man mit ihr sprach. Mich machte es unsicher, obwohl ich der einzige war, der auch viel las und manchmal etwas davon anbringen konnte, sogar von Hölderlin, den hatte ich durch Romain kennengelernt. Davon später noch etwas. Es war viele Tage und Wochen lang heiß in diesem Sommer, als wollte er für den vorangegangenen entschädigen, die langen Monate bald nach dem Kriegsende 1945, als das geschnittene Getreide auf den Feldern im Dauerregen stand und nicht eingefahren werden konnte, bis es überall keimte, grün ausschlug und nur noch als Viehfutter taugte. So sahen wir alle, die da im selben Ort wohnten, einige wirklich einheimisch, die anderen zugezogen aus der zerbombten Stadt, uns immer wieder am Holleteich beim Schwimmen und Herumliegen, manchmal mit einer Schullektüre; ständig gab es Albereien, selten mal Streit, wir waren schon vernünftige Siebzehnjährige, fast erwachsen. Woher die Familie Rees kam mit ihren Töchtern Jutta und Inge, wussten wir zunächst nicht, jedenfalls ich nicht. Erst nach einiger Zeit hörte ich, dass der Vater nicht da war. Die Mädchen sprachen nicht von ihm, aber er war am Leben, nicht etwa gefallen. So viele Männer fehlten, es war nun mal so und beschäftigte uns nicht. Nicht alles, was nun zu erzählen ist, kann als verbürgt gelten oder ist gar miterlebt. Vieles habe ich von anderen erfahren. Manches wurde mir anvertraut "unter dem Siegel der Verschwiegenheit", aber das ist lange her und muss nicht mehr respektiert werden. Die Lücken, die bleiben, lassen sich füllen aus der Vorstellung. Gerade das Entsetzliche ist wirklich geschehen. Eine Erklärung dafür wird beim Erzählen nicht herauskommen. Allenfalls eine Annäherung. Am 12. November 1942 fällt der Unteroffizier Achim Kuhle in einem Gartengelände vor Stalingrad. Lungendurchschuß; verblutet. Bezeugt von zwei Soldaten, der eine wird kurz darauf verwundet und kann noch ausgeflogen werden aus dem sich schließenden Kessel. Der technische Zeichner Kuhle ist erst 1941 eingezogen worden, vorher hat er in einem rüstungswichtigen Betrieb gearbeitet. Elisabeth, seine Frau, die überall nur Else genannt wird, gibt die Todesanzeige auf und verbittet es sich, dass man "In stolzer Trauer" hinzusetzt, wie es bei Gefallenen längst üblich und sogar vom Gauleiter angeordnet worden ist. Sie erreicht, dass "In tiefer Trauer" in den Druck gegeben wird, und kümmert sich nicht um die erstaunten Mienen in dem Redaktionsbüro. Ihr Mann Achim ist, wie er oft gesagt hat, mit ganzem Herzen dabei gewesen, mit der neuen Zeit gegangen, er hat sich 1937 gern in die Partei aufnehmen lassen, ein Wink seines Bürochefs hat genügt - "In diesem Betrieb soll es nur hundertprozentige Nationalsozialisten geben" -, er hat den Führer geliebt und an den Endsieg geglaubt. Eine militärische Auszeichnung ist ihm in dem einen Jahr in Russland nicht mehr zuteil geworden. In einer Schublade daheim liegt nur sein Großes Reichssportabzeichen. Eine tadellose Ehe ist es gewesen, und das Ehebett war nicht nur für die Zeugung der drei Kinder gut. So haben Achim und Else auch immer von neuem überwinden können, was da störte und als Konflikt bestand. Else ist eigentlich unpolitisch. Wer macht sich in dieser großen Zeit schon seine eigenen oder gar eigenwilligen Gedanken übers Vaterland und dessen Führung? Aber eines Tages im Jahre 1938, als Reni, die Jüngste, erst zwei Jahre alt war, da hat sie mit der Kleinen an der Hand ganz zufällig mit angesehen, wie in der Hohenzollernstraße ein jüdischer Geschäftsinhaber, "Feine Damen- und Herren-Oberbekleidung", durch seine eigene Schaufensterscheibe geworfen worden war, am Hals blutete, und wie zwei SA-Wachtposten aufpassten, dass niemand dem Manne half. Sie drückte das Kind an sich, es quengelte, was ihr recht war, denn so konnte sie es auf den Arm nehmen und sein Gesichtchen von dem, was es nicht sehen sollte, abwenden. Sie stand aber weiter da und starrte hin und traute sich nichts, ebenso wenig wie die Passanten, die lieber auf der anderen Straßenseite weitergingen. Und nun wurde sie auch von den beiden Uniformierten mit Drohungen vertrieben. Von Bekannten hörte sie dann, dass der jüdische Kaufmann an diesem Tage nach der Reichskristallnacht ohne Hilfe geblieben und verblutet war. Da also liegt der Konflikt. Die Erschütterung hat damals bei ihr zu Hause einen furchtbaren Weinkrampf ausgelöst, bis in den Abend hinein hat das gedauert, in Abständen, dazwischen hat sie schreckliche und gefährliche Sachen gesagt, auch geschrieen, diese Verbrecher dürften nicht ein ganzes Volk anführen, danach gab es wieder Tränen, die er im Bett dann trocknen konnte. Aber die Anklagen sind doch wiedergekommen, und ihm ist nichts Besseres eingefallen, als ihr vorzuhalten, dass sie ja auch eigentlich eine Rote ist, das zielt auf ihren Vater, den alten Sozialdemokraten. Es hat vorher nie eine Rolle gespielt, dass der Vater tatsächlich eine politische Vergangenheit hat, die jetzt unerwünscht, vor allem verdächtig ist - der alte Mann verhält sich ganz unauffällig; den Prügeleien ist er damals, 1933, zu seinem Glück entgangen. Else ist vor allem Mutter, eine gute, eine gütige. Mit drei noch eher kleinen Kindern hat man nicht viel Zeit zum Sinnieren. Der Schrecken von damals verliert sich, wird fast vergessen. Der politische Streit bleibt einfach liegen. Sie lieben sich ja. Der Sohn Hilmar ist fünfzehn, als er Halbwaise wird. Mit dem Vater ist er zuletzt nicht mehr gut ausgekommen. Der hat viel Wert darauf gelegt, dass sein einziger Sohn zackig ist, den Dienst beim Jungvolk nie versäumt, zweieinhalb mal pro Woche, am Mittwoch, am Sonnabend und jeden zweiten Sonntag. Hilmar hat mit elf Jahren schon Führer werden sollen, Jungenschaftsführer, die unterste Stufe mit der rotweißen Kordel als Abzeichen. Der Stammfuhrer hat ihn schriftlich dazu aufgefordert, die Oberschüler müssen vorangehen, aber Hilmar hat die Führernachwuchs-Schulungsnachmittage mehrmals geschwänzt, es ist keine absolute Pflicht, und er hat keine Lust, spielt lieber Schlagball mit älteren Jungen. Zackig ist er schon, nämlich ein guter Sportler, ein Turner vor allem. Aber der "Dienst" passt ihm eben nicht. Das gibt Ärger zu Hause, der Vater schreit, wenn er eine Entschuldigung schreiben soll. Einmal, als der Junge zurückgeschrieen hat, schlägt der Vater zu. Ein paar Monate später legt sich die Mutter ins Zeug, um des lieben Friedens willen: Er soll die Führernachwuchs-Treffen doch mitmachen! Hilmar hängt sehr an seiner Mutter, so dass er es versucht, aber nun wollen sie ihn nicht mehr. Der Vater ist enttäuscht, sogar erbost, der Sohn ist verlegen, aber erleichtert, und die Mutter ist im Grunde auch erleichtert. Die Zeit ist sehr groß dazumal, 1940, denn Siege, Siege folgen dicht aufeinander, zu Lande, zu Wasser und in der Luft, eine Sondermeldung nach der anderen geht durchs Radio. Aber nun ist Hilmar fünfzehn, es ist spät im Jahr 1942, sein Vater ist tot; er ist dem Jungen zuletzt, bevor er in die Kaserne musste, ziemlich fremd gegenübergetreten. Einen Heimaturlaub hat es dann für ihn nicht mehr gegeben. Die Stadt ist noch unzerstört. Die Familie wohnt in einer schönen Gegend am Stadtrand in einem Mietshaus. Hilmar fährt jeden Tag von seinem Vorort mit dem Zug zum Hauptbahnhof und läuft dann...


Müller, Horst
Horst Müller, geb. 1929. Aufgewachsen in Kassel bis zur Zerstörung 1943. Abitur 1948 in Hofgeismar. Studium in Göttingen und Freiburg: Germanistik, Geschichte, Philosophie. Staatsexamen 1956, zugleich Promotion. Thema „Zeitkritik im Werke Rilkes“.
Ein Jahr Lektorat in Frankreich. Gymnasiallehrer in Kassel bis 1991. In einer Zwischenzeit fünf Jahre an der Deutschen Schule Istanbul. 50 Jahre Theaterarbeit, zunächst mit Schülern, später mit Studenten und älteren Erwachsenen. Elf eigene Bühnentexte.


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