Müller | Der Stadteremit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 408 Seiten

Müller Der Stadteremit


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7407-0550-3
Verlag: TWENTYSIX LOVE
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 408 Seiten

ISBN: 978-3-7407-0550-3
Verlag: TWENTYSIX LOVE
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Peter Pistorius lebt einsam in einer Villa mit Park und ist auf der Suche nach der Glückseligkeit des Seins. Gelingt ihm der Spagat zwischen Luxus und einem einfachen, naturnahen, Gott und den Armen gefälligen Leben? Hauptsächlich verbringt er seine Zeit damit, täglich durch seine Stadt zu streifen, Cafés aufzusuchen, zu helfen, wo er Hilfe entdeckt, und seine Berührungsangst und Einsamkeit zu pflegen. Doch ein Tag fällt aus dem gewohnten Rahmen. Der Leser begleitet ihn, erlebt seine eigenartigen Hilfsaktionen, seinen Kampf gegen Konsum und Verführungen und nimmt Anteil an aufregenden Begegnungen, bis am Ende des Tages eine entscheidende Wende eintritt.

Manfred Müller lebt und arbeitet als Maler und Schriftsteller in seiner Geburtsstadt Würzburg und Santander (Spanien).Sein Berufsweg startete mit der Ausbildung zum Maler, führte ihn über vielfältige Tätigkeiten zum Studium der Wirtschaftswissenschaften und auf den Chefsessel einer Industriefirma, von wo aus ihm der Absprung zur Malerei und Schriftstellerei gelingt. In seinen Romanen, die sein erlebnisreiches Leben widerspiegeln, erzählt er von den Spielarten der Liebe und der Suche nach der Glückseligkeit des Seins.

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Mühsam bahnt er sich einen Weg durch die Massen, die ihm entgegenströmen, immer darauf bedacht, niemandem zu nahe zu kommen. Nach beiden Seiten muss er ausweichen, um ihren Berührungen und ihrer Atemluft zu entgehen. Er denkt an die asiatischen Geisterstädte, von denen das Radio vorhin berichtet hat: Heute Abend wird er sie in der Tagesschau sehen. Bei allem Abstand, den er sucht, in einer menschenverlassenen Stadt möchte er nicht umhergehen. Wenn das Virus schon in Italien ist, könnte es den Weg bis hierher finden. Nein, eine ausgestorbene Stadt bräuchte es wirklich nicht, nur ein paar Leute weniger und etwas mehr Gelassenheit, Beschaulichkeit. Diese Stadtbesucher treibt ein Drang, alles sehen zu müssen, und eine Angst, etwas zu versäumen, zu kurz zu kommen. Er glaubt nicht, das Virus werde seinen Weg über die Barriere der Alpen finden. Es sei denn, es würde von Flugreisenden eingeschleppt wie die exotischen Tiere, die manch einer im Koffer einschmuggelt. Wo wären die Leute, wenn sie die Straße meiden müssten? Sie säßen dann in ihren Wohnungen sich selbst überlassen. Viele von ihnen können nichts mit sich anfangen. Sie langweilen sich schnell mit sich selbst. Sie haben sämtliche Rollen, die für sie gedacht sind, durchgespielt, sämtliche Kostüme anprobiert oder verworfen. In ihrem Zwangsaufenthalt stehen sie schließlich nackt vor dem Spiegel, verwundert über den, der ihnen da entgegen schaut. Bisher haben sie sich nur durch die Brille der Freunde, Leute, Zuschauer, Konsumenten, Arbeitnehmer und so weiter, gesehen, wurden gesteuert und an der Nase herumgeführt von einer psychologisierenden Werbung. Mussten dies und jenes tun, um mitspielen zu dürfen. Sie sind sich fremd geworden; irgendwie haben sie sich selbst vergessen. Vielleicht verwandeln sie sich in ihrem Zwangsaufenthalt von Leuten zu Menschen, erahnen in ihrer Nacktheit das Leben, das wahre, pulsierende Dasein oder verfallen dem Suff, dem Essen, dem Fernsehen, dem Sex. Wie bei vielen anderen Nachrichten, die er verstört abhörte, beruhigt er sich mit dem Gedanken, dies sei alles weit entfernt und sein technisch hochgerüstetes Land trotze solchem Naturspektakel, für das er den Auftritt des Virus hält. Heute Abend wird er sich diese Geisterstädte im Fernseher anschauen: die verwaisten Einkaufsmeilen, die gähnend leeren Schaufenster, die aufgetürmten Stühle und Tische der Straßencafés, verdrahtet, gesichert, die Fenster und Türen verschlossen, verriegelt, verbarrikadiert, die dunklen Lampen und Werbungen; alles Kulissen, die nach der Aufführung herumstehen, ihrer Illusionen beraubt. So stellt er sich das vor, während er zum Vorplatz des Doms gelangt. Kurz vor den Turmmauern und der Freitreppe des Kirchenportals schwenkt er nach links ab, geht eine Passage hoch zum Platz hinter dem Dom, überquert ihn - wenig Fußvolk kreuzt seinen Weg - steigt die Stufen zur Seitenpforte des Münsters, das dem Dom gegenübersteht, hoch. Auf der oberen Plattform dreht er sich um, überschaut den Platz. Sein graubrauner Bodenbelag besteht aus den gleichen Muschelkalkplatten wie seine Terrasse. Sauber und glatt glänzen sie in der Sonne. Er fragt sich, warum dieser Platz so viel höher liegt als die Domstraße vor dem Kircheneingang. Wurde er aufgeschüttet? Wurde altes Mauerwerk zugedeckt, vielleicht sogar Grabstellen. Die Urahnen ließen sich zuhauf um die Kirchen betten, im Glaubten, so dem Herrn über Leben und Tod näher zu sein, von ihm nicht übersehen zu werden beim Einlass ins Paradies, weil sie ihn nebenan im Kirchenraum thronen glaubten, in ihrer kindlichen Vorstellung, die ihnen das Sterben erleichterte. Seine Vorstellung ist das nicht: Gott ist mitten unter ihnen, auf dem Boden, im Staub der Straße und in den Räumen, auch den schlecht gelüfteten. Raum und Zeit sind keine Maßstäbe für ihn, wie sein Mentor heute in der Früh gepredigt hatte. Gott steht inmitten der Menschen und in seiner Schöpfung und sorgt dafür, dass beide nicht vor die Hunde gehen. An dem Gedanken einer Aufschüttung entzündet sich seine Fantasie. Er sieht eine Unzahl von Skeletten unter seinen Füßen liegen. Dann wendet er sich zur Seitenpforte des Münsters. Das schwere Holzblatt wird wenig bewegt, denkt er. Es knarzt und stöhnt beim Öffnen und schickt sein Klagen in das Innere, durch das hohe Seitenschiff, in das er eintritt wie ein Störenfried. Die weißen Wände, die Stuckverzierungen, die Bildtafeln und Statuen blicken verwundert auf ihn, den einzigen, der sich nun hier bewegt, in einer Welt des Stillstands, der Geräuschlosigkeit, des Harrens und Wartens. Seine Schritte, auf den polierten Fliesen, hallen in dem Gewölbe, bis er zur Treppe gelangt, die zur Gruft unter dem Hochaltar führt. Tief steigt er auf den roten Sandsteinstufen hinunter. Also ist seine Vorstellung nicht abwegig: Er steigt hinunter in die Unterwelt, zur Sohle der Aufschüttungen, zu den Toten. Die Toten häufen sich wahrscheinlich hinter den Wänden der Gruft, das heißt, ihre Gebeine. Sie selbst sind im Jenseits. Der poröse Sandstein dämpft seinen Abstieg. Drei, vier Beter sitzen oder knien in den Bänken, so als gehörten sie zum Inventar. Er sieht sie durch das Glas der Eingangstür, die er mit Kraft aufstoßen muss. Ein Lichtschimmer, unbekannter Quelle, durchweht den weißen, makellosen Raum. Er setzt sich in die letzte Bankreihe. Das Licht reflektiert sich in der goldenen Monstranz, die in der Wandnische der Apsis steht und ihre Strahlen ringsum in den Raum schickt, so dass er annimmt, sie sei die Quelle der Beleuchtung; außerdem umgibt sie ein blaues Fluoreszieren, eine geheimnisvolle Lichterscheinung, die, wie er nach langem Schauen erkennt, von den Edelsteinen an ihrem Schaft herrührt. Die Stille ist absolut. Die Zeit steht, das heißt, es gibt hier keine Zeit; mit jedem Schritt, den er auf den Stufen abwärts gestiegen ist, schwand sie dahin. Die Menschen hier sind erstarrt. So tief unter der Erdoberfläche sind sie Nachbarn der Toten, vielmehr ihrer Knochen. Sein Kopf leert sich. Sein Inneres wird ein Hohlraum. Seine Körperschwere schwindet. Der Raum nimmt sich seiner an, erhebt ihn und lässt ihn schweben. Er ist in seinen inneren Raum gelangt. Er fühlt sich aufgehoben in diesem Raum ohne Form und Zeit. Er ist in die Einsamkeit der Stille geraten. Da durchströmt ihn Zuversicht: Alles wird gut! Das hat Susanne immer zu ihm gesagt. Nicht der schlichte Satz hat ihn überzeugt, sondern ihre Stimme, getragen von ihrem Glauben an gute himmlische Mächte. Wie lange er so saß, könnte er nicht sagen. Irgendwann sind Zeit, Körper und der Kapellenraum zurück in der rauen Wirklichkeit. Er erhebt sich, verlässt die Stätte durch die wuchtige Glastür und steigt wieder nach oben. Die Welt hat ihn wieder, sagt er sich, während er durch das widerspenstige Holzportal auf den Treppenabsatz tritt und die Stufen zum Kirchenplatz hinabsteigt. Die Schatten des Domgebäudes auf dem Platz sind inzwischen ein gutes Stück weitergewandert. Leute ziehen kreuz und quer an ihm vorbei, unbekannten Zielen entgegen, schwer beladen mit ihrem Objektbewusstsein, mit ihren Sorgen und Nöten um ihre Sachen, ihre Einkäufe, ihre Bedeutung; das vermutet er bei ihrem Anblick. Warum nur ziehen sie so griesgrämig und missmutig ihres Weges. Ist ihnen nicht bewusst, dass sie mit jedem Schritt tiefer zu den Toten unter ihren Füßen schreiten? Sie sollten tanzend den Platz überqueren oder zumindest tänzelnden Schritts, bewegt von der Freude zu leben. Die Entrücktheit und Geborgenheit der Kirchentiefe verdunstet rasch in der Nachmittagshitze. Aber der Satz „alles wird gut“ bleibt in ihm hängen, als hätte ihn Susanne ihm ins Ohr geflüstert. Behutsam trägt er ihn über den Platz, über den glatten Plattenbelag aus Muschelkalk, der mit seiner grauen Farbe und den braunen Adern einen harmonischen Übergang vom Rot des Münsters zum Ocker der Dommauern schafft. Behutsam auch setzt er Fuß vor Fuß im Bewusstsein der heiligen Stätte, die er tief unter seinen Füßen weiß. Nahe der Mauer, unter die drei dünnen Bäumchen, setzt er sich auf eine Steinbank, in eine schattige Ecke, und blickt in den Sonnenglast und blickt auf die Rückwand des Münsters, auf die drei Heiligenfiguren, hoch oben im Tympanon. Warum wurden sie so hoch entrückt dem Leben hier unten? Den himmlischen Himmel werden sie dort nicht finden. Sie, die Patrone der Stadt, die so fest im Leben verwurzelt waren und keine Reisestrapazen scheuten, von weitem hierher zu gelangen, um den Stadtmenschen vom wahren Leben zu erzählen und dafür erschlagen wurden. Das stimmt doch nicht, dieser flapsige Satz, der ihm beim Verlassen des Münsters entfuhr! Die Welt hat ihn nicht wieder. Er gehört nicht in diese Welt der Leute, die hier scheinbar ziellos umherirren. Er gehört nicht zu dieser Gesellschaft der Eilfertigen, Besorgten, Grattlern. Er sucht einen anderen Weg, einen Weg des Müßiggangs, einen Weg, der aus ihrer Müllhalte von Gütern, Dienstleistung und Bruttosozialprodukt herausführt in die Einsamkeit der Stille und weiter in eine Glückseligkeit des Seins. Die Turmuhr, in...



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