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E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Müller Die Dolmetscherin
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-32975-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-641-32975-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Asta arbeitet als Dolmetscherin im Kurhotel »Palace« in Mondorf-les-Bains, wo die US-Armee gefangengenommene Nazi-Größen interniert. Am 20. Mai 1945 reist ein neuer Gast an. Er bringt 16 Koffer, eine rote Hutschachtel und seinen Kammerdiener mit. Es ist Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Hitlers designierter Nachfolger. Asta übersetzt bei den Verhören, reist dann mit nach Nürnberg zu den Prozessen und wird jeden Tag im Gerichtssaal anwesend sein, die abscheulichsten Dinge zu hören bekommen und sie zudem ins Englische übertragen müssen. Umso empfänglicher ist sie für Leonhard, ein junger, sensibler Mann, der ihr sanft den Hof macht. Doch seine Vergangenheit ist undurchsichtig und er stellt verdächtig viele Fragen zu den Prozessen ...
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1
Die Gefangenen saßen verstreut auf dem Rasen. Sie hatten Decken ausgebreitet und sich darauf niedergelassen. Manche von ihnen hatten sich bis zum Bauch entblößt, sie saßen mit geschlossenen Augen da, rückwärts auf die Hände gestützt, und genossen die Sonnenwärme auf ihrem behaarten Körper. Andere hatten Klappstühle herausgetragen und sie zu kleinen Runden zusammengestellt, sie plauderten. Als sie Asta bemerkten, verstummten die Gespräche.
»Wie war Ihr Flug?«, fragte der amerikanische Sergeant, der sie zum Hotelgebäude begleitete.
»Wir wurden ziemlich durchgeschüttelt.« Sie warf erneut einen Blick auf die Gefangenen. War es ihre Unbeschwertheit? Das Selbstbewusstsein, das sie zur Schau stellten? Die Männer so zu sehen, ließ ihr die Galle hochkommen.
Die Gerüchte waren falsch. Weder waren die Naziführer nach Südamerika geflohen, noch versteckten sie sich in den Alpen, um sich neu zu formieren. Sie waren hier im Badeort Mondorf-les-Bains. Reichsminister, hohe Funktionsträger und Generäle.
Die Szenerie glich einem fröhlichen Picknick. Der Stacheldraht, der das elegante luxemburgische Hotel umgab, war mit Stoffbahnen und Tarnnetzen behängt. Über den blauen Himmel zogen Schäfchenwolken.
»Die Nazis wohnen hier im Hotel?«, fragte sie, als sie in den Schatten des Gebäudes traten.
»Sie haben Zimmer im dritten und vierten Stock.« Der Sergeant war jung. Seine Augen saßen unter buschigen blonden Brauen. »Unten sind die Verhörräume und der Speisesaal.«
Gewöhnliche Kriegsgefangene schliefen in Massenunterkünften, in Baracken oder schlammigen Zelten. Warum behandelte man die Naziführer so freundlich, ausgerechnet diese Männer, die den Weltkrieg zu verantworten hatten?
Sie lagerten beieinander wie Raubtiere nach getaner Jagd, zufrieden und satt gefressen. Unter dem friedlichen Himmel, beim Tschilpen der Spatzen im Gebüsch, hockte das Böse auf der Wiese, es hatte sich eingenistet, es klebte wie Schlamm an den Gräsern.
Sich Zugang zu diesem Ort zu verschaffen, war nicht leicht gewesen. . Sie hatte lügen müssen, hatte Dinge tun müssen, die sie verwerflich fand. Aber es war ihr gelungen, alle Widerstände zu überwinden.
Der Sergeant hielt ihr höflich die Tür auf. Die Sessel in der Lobby waren abgenutzt, der Teppich an einigen Stellen verschlissen. Trotzdem besaß der Raum Eleganz. Schwere samtene Vorhänge schmückten die Fenster, und Trockenblumensträuße aus vergangenen Zeiten sorgten für Behaglichkeit. Hinter dem Tresen der Rezeption blinkten Dutzende goldener Haken, an denen einst Schlüssel gehangen hatten.
Ein älterer Offizier verlangte ihre Papiere. Nachdem er sie kurz studiert hatte, reichte er ihr einen Schlüssel. »Zimmer Nummer vierzehn, im Nebengebäude. Mahlzeiten um sieben, um zwölf und sechs Uhr am Abend.« Sein Englisch war gestochen scharf, das Englisch eines Mannes, der sein Leben dem Militär gewidmet hatte.
Als sie wieder draußen waren, fragte sie: »Die Gefangenen speisen nicht mit uns, oder?«
Der junge Sergeant trug ihren Koffer. Er ging auf ihre sarkastische Bemerkung nicht ein, er lächelte nur. Schließlich sagte er: »Sie … tragen keinen Ring.«
»Ich bin verlobt. Den Ring habe ich nur für die Reise abgenommen.«
»Aber Sie sind allein aus Amerika gekommen, oder? Lässt Ihr Verlobter Sie einfach nach Europa ziehen? Dann hat er Sie nicht verdient.«
»Wenn Sie so weitermachen, laden Sie mich als Nächstes zum Essen ein.«
»Würden Sie denn –?« Plötzlich unterbrach er sich, stellte den Koffer ab und nahm Haltung an, die Hände flach an der Hosennaht. Er salutierte.
Asta drehte sich um. Ein Colonel mit Adlern am Hemdkragen musterte sie kalt. »In mein Büro.«
Hatte er das Gespräch mitgehört? Wie ärgerlich. So hatte sie sich ihren Start hier nicht vorgestellt.
»Sergeant, bringen Sie das Gepäck auf ihr Zimmer«, befahl der Colonel. Dann wandte er sich wieder an Asta: »Mitkommen.«
Sie gab dem Sergeant ihren Schlüssel. Die Sache war ihm sichtlich unangenehm, seine Wangen hatten sich gerötet.
Notgedrungen folgte sie dem Colonel. stand auf dem Schild neben der Tür seines Büros. Er umrundete den Schreibtisch und ließ sie davorstehen wie eine Schülerin, die zum Direktor gerufen worden war.
Umständlich nahm er den grünen Lackhelm ab und stellte ihn auf den Tisch. »Sie sind aus Milwaukee, Wisconsin.« Er rückte die Nickelbrille zurecht, blätterte in einer Akte. Schließlich holte er ein Blatt heraus, das ihr Foto trug. Er überflog den dazugehörigen Text.
»Geboren bin ich in Deutschland.« War ihr Englisch sauber genug? In den Staaten hatten sie ihr wiederholt gesagt, dass sie akzentfrei sprach. Aber es war eine besondere Situation, wenn es um genau das ging: die Sprache.
»Das sehe ich. Und Sie haben bei einer Airline gearbeitet bis vor wenigen Wochen.«
»Bei der Pan Am. Als «
»Was, denken Sie, qualifiziert Sie, Verhöre von deutschen Kriegsverbrechern zu übersetzen?« Er legte das Blatt weg und musterte sie mit ernstem Gesicht.
Hatte er ihre Testergebnisse nicht gelesen?
»Wir sind hier nicht irgendein Kriegsgefangenenlager«, sagte er. »Als Zivilistin dürften Sie nicht mal von der Existenz dieses Hotels wissen. Davon abgesehen glaube ich nicht, dass Sie Männern gewachsen sind, die gegnerische Staatschefs an der Nase herumgeführt haben und in der Lage waren, Millionen von Deutschen einer Gehirnwäsche zu unterziehen.«
»Ich wurde im Pentagon Tests unterzogen.«
»Die werden wohl kaum aus einer Luftfahrtangestellten eine Linguistin gemacht haben. Ich brauche hier Experten, die mit den sprachlichen Feinheiten so vertraut sind, dass sie diese Ausgeburten des Bösen der Lüge überführen können. Dafür sind Sie nicht geeignet.«
Sie hätte ihn bitten müssen, ihr eine Chance zu geben. Ihm das Gefühl vermitteln müssen, ihr großer Förderer zu sein. Aber wie er da über ihrer Akte thronte und sie abservierte, ohne auch nur annähernd gründlich mit ihr gesprochen zu haben, ja ohne überhaupt den Versuch zu unternehmen, ihre Fähigkeiten zu überprüfen, machte sie zornig. Sie sagte: »Ich bin gerade von New York auf die Azoren, dann nach Lissabon und weiter nach Marseille und Luxemburg geflogen, habe Zwischenlandungen, Stürme und pausenlos palavernde Mitreisende ertragen. Ich war über eine Woche unterwegs, nicht mit dem Stratoliner, sondern mit der DC-3, falls Ihnen das was sagt. Es war kalt und laut, und wir wurden von jedem kleinen Wind herumgeworfen. Jetzt bin ich endlich hier, und Sie sagen mir, dass ich wieder heimkehren soll?«
Unbeeindruckt hielt er ihren Blick. »Ich habe Sie nicht gerufen.«
»Colonel Dostert hat mich hergeschickt, der persönliche Übersetzer von General Eisenhower.«
Andrus’ Schnurrbart zuckte verächtlich. »Ich kann mir schon vorstellen, wie das abgelaufen ist. Er hat Sie auf einem Flughafen getroffen und war davon beeindruckt, wie gut Sie Deutsch und Englisch sprechen, und er fand Ihre Erscheinung entzückend, also hat er Sie ins Pentagon eingeladen. Er arbeitet doch noch für das OSS?«
Sie hatte geglaubt, die Fürsprache eines so mächtigen Mannes wie Dostert würde ihr sämtliche Türen öffnen. Doch offenbar verschaffte ihr Dosterts Unterstützung hier keine Vorteile. Im Gegenteil. Dass sie von Dostert kam, schien sie zu disqualifizieren.
»Das OSS soll sich nicht so aufplustern«, sagte der Colonel. »Dostert wird Ihnen großartige Geschichten aufgetischt haben, was er in Afrika geleistet hat. Aber glauben Sie mir, kaum die Hälfte davon ist wahr. Hier in Europa hatte der Military Intelligence Service direkt mit den feindlichen Streitkräften zu tun, die Agenten haben hinter der Front Gefangene verhört, um etwas über die feindliche Kampfstärke und ihre Absichten zu erfahren. Sie haben Foto-Aufklärung aus der Luft betrieben. Und sind es, die jetzt die führenden Nazis verhören, nicht das OSS. «, spottete er.
Wie armselig, sich mit einem albernen Spruch über das Office of Strategic Services lustig zu machen. MIS und OSS sollten eigentlich auf derselben Seite stehen.
Der Colonel wirkte wie ein erfahrener Offizier, aber da war auch etwas, das sie nicht näher benennen konnte, eine Fahrigkeit, ein unvermitteltes Zucken der Finger. Sein Schreibtisch quoll über, Dokumente lagen kreuz und quer darauf. Mittendrin stand der Aschenbecher, und etliche zerdrückte Zigarettenstummel lagen darin. Er war entweder länger nicht ausgeleert worden, oder der Colonel hatte heute bereits einiges geraucht. Das Telefonkabel hatte sich am Bein des grünen Sessels verheddert, Andrus musste auf und ab und im Kreis gegangen sein beim Telefonieren. Souveränität bedeutete ihm alles, und dennoch fehlte sie ihm.
Sie musste ihm nur das Richtige anbieten.
Das Durcheinander auf dem Schreibtisch zeigte, Andrus war überfordert. Er musste geradezu nach dem Gefühl dürsten, obenauf zu sein, die Dinge im Griff zu haben. Vielleicht nach einer Unterstützung, die ihm Erleichterung verschaffte? Sie sagte: »Ich bin mir sicher, Sie haben hier eine Menge zu tun. Ich habe im Büro gearbeitet, ich kann Ordnung schaffen und Briefe tippen, kann Ihre Termine koordinieren und für Sie Berichte entwerfen. Könnten Sie nicht etwas Hilfe gebrauchen?«
Er sah trübe in die Ferne, die Hand auf die...