E-Book, Deutsch, 512 Seiten
Müller Die Jesuitin von Lissabon
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-22397-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-641-22397-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Titus Müller, geboren 1977, studierte Literatur, Geschichtswissenschaften und Publizistik. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift »Federwelt« und veröffentlichte seither mehr als ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u.a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« brachte ihn auf die SPIEGEL-Bestsellerliste und wird auch von Geheimdienstinsidern gelobt.
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1
Das Meer wälzte Mauern aus Wasser auf. Sturmwinde heulten durch die finsteren Schluchten. Die Wellenkämme zerstiebten zu Gischt. Blitze verspritzten Helligkeit und wurden von der Nacht verschluckt.
Die englische Dreimastbark Fortune trieb wie ein Hölzchen durch die Urgewalten. Der Sturm riss sie in die Höhe und wehte Schaum um ihren Bug, Wogen rollten sie von der Seite an, erbrachen sich über die Bark und begruben das Deck unter Tonnen von Meerwasser. Das Schiff neigte sich, es verharrte einen furchtbaren Augenblick. Endlich richtete es sich wieder auf und ließ das Wasser durch die Reling gurgeln. Donner krachte. Der Sturm stürzte die Bark hinunter in die Schwärze, als wollte er sie in den Meeresgrund bohren.
Captain Wrightson hatte sich am Steuerrad festgebunden. Er versuchte, die Bark gegen die Wellen zu drehen, während die nackten Masten knarrten. Seeleute schufteten an den Pumpen, nass glänzten ihre Gesichter.
Im Inneren des Schiffs kniete Antero Moreira de Mendonça vor seiner Koje, grub die Hände in den Strohsack und betete: »Lass mich nicht sterben! Lass mich nicht sterben, Gott! Noch nicht. Ich bin nicht so weit.« Das Wasser schwappte um seine Beine. Strümpfe und Hose waren vollgesogen mit Meerwasser.
Gegen die Schiffswand donnerten Wellen, es klang, als würden die Bretter zerbersten. Antero hatte einen süßlichen Geschmack im Mund. Er stand auf und wankte zur Leiter. Von den Sprossen troff Wasser. Er umfasste das nasse Holz und kletterte in die Höhe.
Die Klappe am oberen Ende der Leiter widerstand ihm, der Wind drückte sie von außen zu. Mit aller Kraft stemmte sich Antero dagegen, und es gelang ihm, sie um wenige Fingerbreit zu öffnen. Da riss ihm der Wind die Klappe aus der Hand. Mit einem Schlag stand die Luke offen, und es stürmte kalt und nass gegen seine Brust.
Er kletterte hinaus. Der Wind zerrte an ihm. Antero ließ sich auf Hände und Knie fallen und kroch zur Reling. Ein Seemann brüllte etwas, aber Antero konnte nur sehen, wie sich sein Mund bewegte, der Sturm riss ihm die Worte von den Lippen. Antero umfasste die Reling. Alles war schwarz. Wo endete der Himmel? Wo begann das Meer?
Ein Blitz erhellte die Umrisse der Wogen. Antero stockte das Herz. Die schwarzen Ungetüme überragten die Masten des Schiffs! Er spürte etwas seinen Hals emporschießen und erbrach sich.
Der Seemann löste das Seil, das ihn an einer der Pumpen gesichert hatte, und rannte gebückt auf Antero zu. Da überspülte eine Woge das Deck. Antero sah nichts mehr. Kalt fasste ihn das Meer an. Als er wieder sehen konnte, fanden seine Augen den Seemann. Er war umgerissen und gegen einen Mast geschleudert worden. Mühsam stand er wieder auf. Er erreichte Antero. »Gehen Sie unter Deck!«, brüllte er ihm ins Ohr. Er fasste ihn unter und versuchte, ihn von der Reling wegzuziehen. Widerstrebend ließ Antero das Holz los. Er wurde zurückgeschleppt und auf die Leiter gestoßen. Der Seemann schloss über ihm die Luke.
Seine Beine waren weich wie Brotteig. Halb kletterte er, halb fiel er die Leiter hinunter. Er landete im Wasser. Es spülte hin und her, von einer Seite des Raums zur anderen, je nachdem, wohin das Schiff sich neigte. Offenbar kamen sie mit dem Pumpen nicht nach. Immer mehr Wasser sammelt sich im Schiff, dachte er, bis es untergeht. Der Geschmack des Erbrochenen im Mund erinnerte ihn an das Pökelfleisch, das er gestern Abend gegessen hatte. Mit diesem widerwärtigen Geschmack im Mund wollte er nicht sterben. Er watete hinüber zur Koje, zog die Portweinflasche aus dem Winkel, entkorkte sie und trank.
»Antero Moreira de Mendonça, du bist eine Enttäuschung«, sagte er, »durch und durch eine Enttäuschung.« Er schob die bauchige Flasche zurück und kroch ihr nach in die Koje, nass wie er war. Wellen prallten auf den Schiffsrumpf, gleich neben seinem Kopf. Er wurde gehoben und gesenkt, der Sturm wiegte ihn.
Gott würde einem wie ihm, Antero, nicht zuhören, wenn er ihn um Frieden bat. Er verließ sich ja sonst auch nicht auf Gottes Beistand. Er war ein gottloser, verfluchter Schmuggler. Wenn er mit dieser Bark auf den Meeresboden sank, erwarteten ihn die gestrengen Engel und das Gericht. Angst fraß sich in seine Gedärme wie eine Schlange.
Ihn schwindelte, und er zitterte vor Müdigkeit und Kälte. »Es tut mir leid«, flüsterte er. Er dachte an seine Pflanzensammlung, an das Notizbuch mit den Käferzeichnungen, an die Nachtstunden, die er im astronomischen Observatorium der Jesuiten in Lissabon verbracht hatte. »Ich war ein Forscher, Gott. Ich war einer, der deine Spuren gesucht hat. Bitte denke auch daran.«
Dalila zog Anteros Schweißtuch an ihr Gesicht und nahm seinen Geruch in sich auf wie eine Medizin: das Meer und den herben männlichen Duft. Wenn Leonor bemerkte, dass sie ihr das Tuch gestohlen hatte, würde sie toben vor Wut. Und Antero? Wenn er wüsste, dass eine andere an seinem Schweißtuch roch als die, der er es gegeben hatte, wie würde er reagieren? Vielleicht konnte er auch sie, Dalila, lieben. Immerhin waren Leonor und sie Zwillingsschwestern. Ihre Gesichter und ihre Körper sahen gleich aus, auch wenn ihre Charaktere verschieden waren.
Die Kerzenflamme kämpfte gegen die Dunkelheit des Zimmers an. Regen peitschte von draußen gegen die Fensterläden. Dalila strich leise über die Bettdecke. Der Atem der Kleinen ging gleichmäßig. Schlief sie?
»Uns kann kein Blitz treffen?«
Also schlief sie immer noch nicht. »Ich habe es dir doch schon erklärt, Schatz«, flüsterte Dalila, »wir sind hier sicher.«
»Wie heißt das noch mal? Das uns beschützt?«
»Wetterleiter.« Dalila streichelte den rotblonden Haarschopf der Kleinen. Das Haar schimmerte im Kerzenlicht. Sie sah schutzbedürftig aus in dem riesigen Bett. Dalila sagte: »Ein kluger Mann hat ihn erfunden, und jetzt kann uns nichts mehr passieren. Schau doch, wie gemütlich es hier drinnen ist, wenn’s draußen stürmt! Wir haben die Kerze, und es ist warm, und wir sind im Trockenen.«
Ein Donnerschlag krachte. Die Hand der Kleinen tastete nach Dalilas Hand. »Bleibst du hier?«
Dalila umfasste die Kinderhand und streichelte sie. »Ich bleibe. Hab keine Angst.« Das Mädchen tat ihr leid. Irgendein lüsterner Adliger hatte es mit einer Dienstbotin gezeugt und ließ es nun in der Fremde aufwachsen. Vater verköstigte das Mädchen sicher nur gegen eine horrende Gebühr, und er hatte ausgerechnet die strenge Köchin angewiesen, sich um die Kleine zu kümmern.
Er durfte nicht wissen, dass seine Tochter hier unten war, er würde sagen: »Eine Adlige hat im Gesindetrakt nichts verloren, Dalila!« Das Haus war aufgeteilt, in den oberen Stockwerken befand sich der Himmel, da lebten sie. Und unten war die Hölle, da lebte das Bastardkind, das niemand haben wollte. Dabei war das Mädchen vermutlich genauso eine Adlige! Eine Adlige, die im Gesindetrakt aufwuchs, zwischen Töpfen und Müllkübeln und dem Hundenapf.
Der Hund konnte ebenfalls nicht schlafen. Er sah stumm zum Fenster hin, hinter dem Blitze die Nacht erhellten. Es war gut, dass er der Kleinen Tag und Nacht Gesellschaft leistete. Er ersetzte ihr den Vater und die Mutter. Manchmal schien es Dalila, als wüsste es das kluge Tier.
Sie wandte sich ab und roch wieder an Anteros Schweißtuch. Der Geruch von Abenteuern spielte um ihre Nase. Dieser Mann war wirklich frei. Er tanzte auf den Rändern der Welt.
»Was hast du da?«, fragte die Kleine.
Dalila zuckte zusammen. »Nur ein Tuch«, sagte sie. Sie verbarg es an ihrer Brust.
Eine Stimme weckte ihn. »Soll ich das Essen auftragen, Sir, oder soll ich es gleich über Bord werfen?«
Das Tosen hatte aufgehört. Behäbig knarrte die Bark und gab sich dem Wogen des Meeres hin. Er sah hinauf zur Luke. Eine rötliche Funzel beleuchtete das Gesicht des Bootsjungen. Der Junge grinste.
Antero befühlte seine Kleider. Sie waren klamm und kalt. »Lass das Grinsen, Bursche, oder ich prügele es dir aus dem Gesicht.« Er geriet mit dem vorgetäuschten Akzent ins Stolpern. »Ich komme rauf. Selbstverständlich kann ich das Essen drin behalten.«
Er lebte. Der Sturm hatte offenbar nachgelassen, während er schlief. Antero stieg aus der Koje. Das Wasser stand nur noch in Pfützen auf dem Boden. Er stützte sich am Tisch ab. Müde erklomm er die Leiter. Für gewöhnlich aßen Passagiere am Tisch des Captains und der Offiziere. Er hatte den Verdacht, dass Captain Wrightson angeordnet hatte, ihm das Essen immer in der Kabine zu servieren, damit er, der Captain, nicht mit ihm in Verbindung gebracht wurde, falls ihr Unternehmen aufflog.
Natürlich, mit der Mannschaft konnte er ihn nicht essen lassen, das würde Unzufriedenheit schüren bei den Seeleuten, denn als Passagier bekam er besseres Essen als die Schiffsbesatzung. Für die Seeleute gab es am Morgen kaltes Fleisch und ansonsten ein Gemisch aus Wasser und Mehl, das sie »Indischen Brei« nannten. Er hingegen speiste warm und gut gewürzt wie in einem Gasthaus mittlerer Klasse. Aber es gab keinen Grund, ihn von den Offizieren abzusondern, außer den einen, dass Captain Wrightson versuchte, Schaden von sich abzuwenden. Das mangelnde Vertrauen in ihr Unternehmen ärgerte Antero. Entweder war man dabei und stand voll für die Sache ein, oder man ließ es bleiben.
Als er durch die Luke nach draußen stieg, reichte ihm der Bootsjunge ein Tablett, auf dem ein hölzerner Becher stand, umringt von Keksen. »Wollen Sie heute im Freien essen, Sir?« Er grinste nicht mehr.
Nach dem Schiffsbauch war Antero nicht zumute. Er hatte ein Bedürfnis danach, den Himmel zu sehen. Er wollte spüren, dass er noch am Leben war. »Stell das Tablett...