E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Müller GO!
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-03848-750-0
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Leben will dir Beine machen
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-03848-750-0
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Josef Müller ist ein Ermutiger und Ratgeber, der nah dran ist an den Menschen und ihren Nöten. Sein Buch zeigt in 10 Kapiteln, wie er im Rollstuhl Hürden überwindet trotz mangelnder barrierefreier Zonen. Und wie er als verknackter Steuerberater einen Bestseller schrieb.
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Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen.
Ein warmer, beglückender Sonnenstrahl fiel auf mein Gesicht, als ich nach einer traumlosen, aber angenehmen Nacht in meiner Zelle erwachte. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es erst fünf Uhr war. Besonders erfreulich: Anders als sonst am Morgen tat mir nichts weh, ja, ich fühlte mich, als könnte ich Bäume ausreißen.
Es war der 10. August 2010, ein Dienstag. Ich erinnere mich noch an das Detail, dass später an diesem Tag die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Schweinegrippe-Pandemie offiziell für beendet erklärte. Für mich, Josef Müller, einst Millionär, Lebemann und Geldwäscher für die amerikanische Mafia, sollte heute etwas anderes enden: meine Haft.
Fünf Jahre und drei Monate hatte ich eingesessen. Oft kam es mir vor wie eine Ewigkeit, wenn ich viele Stunden allein in meiner Zelle hockte und die Wände anstarrte. Eine lange Zeit, um über mein früheres Leben nachzudenken, über all die Vergnügungen, über den Nervenkitzel und über die pure Lust am Geldvermehren. Und ausreichend Zeit, um über ein neues, intensiveres und vor allem wertvolleres Leben zu sinnieren.
Beschwingt vom fröhlichen Gezwitscher der Vögel auf dem Baum vor meinem vergitterten Fenster in der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim beschäftigte mich noch einmal die Zeit meiner Haft und wie sie mich verändert hatte. Äußerlich und ganz besonders im Innern meines Kopfes und meines Herzens.
Ungesunde 110 Kilo hatte ich auf den Rippen, als man mich in die JVA einlieferte – fett und mit Bluthochdruck. Nun war ich stolze 37 Kilo leichter, alte Hemden und Anzüge saßen wieder, als wären sie gerade vom Maßschneider geliefert worden. Das Gefängnis als eine Art Turbo-Diät.
Immer wieder wurde ich später darauf angesprochen, wenn ich Freunde von früher traf. Ohne meinen Rollstuhl und meine, sagen wir, eigenwillig bunten Jacken hätten viele gar nicht geglaubt, dass ich tatsächlich dieser Josef Müller bin.
Doch viel gravierender war meine neue Einstellung zum Leben und zu Gott, den ich früher nur vom Hörensagen kannte. Wenn zufällig mal jemand Kirche und Glauben erwähnte, wandte ich mich anderen Gesprächspartnern zu. Gott? Was sollte der Quatsch denn? Doch an diesem Freudentag meiner Entlassung in eine neue Zeit dachte ich an ihn – und wie er für mich alles verändert hatte.
Gut gelaunt warf ich mich in den Rollstuhl, erfrischte mich kurz am Waschbecken, spritzte mir übermütig kaltes Wasser ins Gesicht, putzte mir die Zähne und wartete eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich die Zellentüre das letzte Mal aufgeschlossen wurde, damit ich zum Duschen rollen konnte. Ich hatte dieses Privileg, vor allen anderen Häftlingen alleine duschen zu dürfen, und ich genoss es ein letztes Mal. Dann verpackte ich meine Toilettenartikel in noch geöffnete Umzugskartons. Meine restlichen Lebensmittelvorräte – Brot, Butter, Salami und Marmelade – verschenkte ich bis auf die Kaffeepackungen an die anderen Gefangenen, die mir ans Herz gewachsen waren.
Ohne Eile kochte ich mir noch zwei Tassen Filterkaffee, belegte eine Scheibe Vollkornbrot mit magerem Schinken und genoss alles in froher Erwartung des anbrechenden Tages.
Während ich da so mit dem Becher dampfenden Kaffees in der Hand saß, kam mir eine dieser «Zufälligkeiten» in den Sinn, von denen ich in den vergangenen Jahren so viele erlebt hatte, dass ich sie nicht mehr für Zufälligkeiten halten konnte. So viele Zufälle gibt es gar nicht. Am Geburtstag meiner damaligen Ehefrau Sandra kam ich am 26. April 2005 nach Stadelheim, und am Geburtstag meines inzwischen 94-jährigen Vaters, an diesem 10. August 2010, sollte ich es wieder verlassen.
Vor meiner Inhaftierung hatte ich noch mit Sandra in einer Villa im Nobelstadtteil München-Solln gewohnt. Nun würde ich in wenigen Stunden in das Haus meines Vaters nach Fürstenfeldbruck zurückkehren. Er hatte dieses Einfamilienhaus noch Anfang der 50er Jahre mit eigenen Händen erbaut.
Als er Ende 1948 das Grundstück von seinem Vater, meinem Großvater, den ich leider nur ein einziges Mal getroffen habe, geschenkt bekam, war sein Traum in greifbare Nähe gerückt: ein eigenes Haus! 1950 begann die Planung, und 1952 startete er mit der Aushebung des Kellergeschosses mit einer einzigen Schaufel. Fast ein halbes Jahr brauchte er dazu. Heute würde das ein Caterpillar in weniger als einem Tag bewältigen.
Drei Jahre arbeitete er wie ein Besessener an seinem Haus. 1955 zog er schließlich mit seiner Ehefrau Rosalia, meiner Mutter, ein. Zwei Stockwerke plus eine Garage nebst einem Garten, in dem Apfel- und Zwetschgenbäume standen. Es war sein ganzer Stolz als Beamter bei der Polizei. Er hatte etwas geschaffen, einen dauerhaften Wert.
Schon in der Zeit kurz vor meiner Entlassung konnte ich während der Freigänge meine eigene Wohnung im Elternhaus umbauen, renovieren und neu einrichten. Alle zwei Wochen durfte ich am Wochenende für 48 Stunden das Gefängnis verlassen, in dem einst auch Adolf Hitler einsaß, bevor er später die ganze Welt ins Chaos und Millionen Menschen in Tod und Verzweiflung stürzte.
Mein neuer Freund Max hatte mir einen fahrbaren schwäbischen Untersatz, mit einem Stern auf der Motorhaube, direkt neben die Kleinwagen der Beamten vor die Türe der JVA gestellt. Dies mit den Worten: «Josef, du brauchst nach deiner Entlassung ein Auto als Rollstuhlfahrer. Du hast mir so geholfen, und jetzt helfe ich dir.»
Ja, der Max, den hatte ich einst im Knast kennen gelernt. Er wurde beschuldigt, zu einer Bande von Versicherungsbetrügern zu gehören. Ich traf ihn zufällig am Schwarzen Brett der Krankenstation, vor dem er hilflos herumstand und herauszufinden versuchte, wie das mit dem Briefeschreiben in der Haftanstalt läuft. Ich konnte helfen und lud ihn zu Kaffee und Rührkuchen in meine Zelle ein. Nachdem ich ihm auch noch einen geeigneten Strafverteidiger besorgen konnte, der ihn schließlich rausboxte, wurden wir echte Freunde, und er half mir fortan immer wieder, wenn es finanziell besonders eng wurde.
Doch zurück zu meinen Gefühlen an diesem ersten Tag meines neuen Lebens. Schon merkwürdig, so lange hatte ich diesen Tag herbeigesehnt, und nun, da meine Entlassung unmittelbar bevorstand, überkam mich eine seltsame Traurigkeit.
Es ist eine persönliche Einstellungssache, wie man die Zeit im Gefängnis verarbeitet. Die meisten Gefangenen, so habe ich es erlebt, sehen diese Zeit als überflüssig, verloren und nicht existent, sozusagen als Null-Zeit an. Sie vergessen dabei, dass es auch eine persönliche Lebenszeit ist, die unwiderruflich für immer zur eigenen Lebensgeschichte dazugehören wird. Mit einer solchen Einstellung können auch die Tage hinter Gittern einen Sinn ergeben.
Bei mir waren die ersten Tage im Knast am schlimmsten. Ich saß einfach nur herum und starrte vor mich hin. Immer wieder kamen mir die Tränen. Doch mit der Zeit lernte ich, es anders zu sehen. Dass ich hier einsaß, war allein meine Schuld. Ich hatte mir die Jahre in der Haft redlich verdient, durch Maßlosigkeit und Selbstüberschätzung. Und so nahm ich meine Zeit hinter Gittern irgendwann wirklich an. Ich begriff, dass jeder Tag, ja, jede Minute meiner Haft, auch für immer Teil meines Lebens sein würde und dass Zeit die wertvollste Ressource ist, die mir zur Verfügung stand.
Ich hatte in den Jahren freundschaftlichen Kontakt zu den Beamten, zu den Krankenpflegern, Ärzten, den Menschen in der Gefängnis-Seelsorge, zum Pfarrer und nicht zuletzt auch zu den anderen Inhaftierten. Und da geht man nicht einfach und sagt «Tschüss», wie zur Kellnerin in einem Fast-Food-Restaurant, die man gleich vergisst und nie wieder treffen wird. Also packte mich beim Gedanken an die bevorstehende Entlassung auch ein gewisser Abschiedsschmerz. So war es nun einmal, und so bin ich, der Josef Müller.
Geduld, das muss ich an dieser Stelle vielleicht zugeben, zählt nicht zu meinen größten Stärken. Wehe, wenn andere Leute meine Lebenszeit verplempern. Meine Mitarbeiter im Steuerbüro fürchteten regelrecht meine Zornesausbrüche, wenn sie mir Akten auf Anforderung nicht binnen zwei Minuten vorlegen konnten.
Auch in dieser Hinsicht musste ich im Knast hinzulernen, denn hier ist Zeit eine sehr relative Größe. Es dauerte sage und schreibe weitere zwei Stunden, dann kam endlich der zuständige Abteilungsleiter des Nordbaus. Er wurde flankiert von zwei anderen Gefangenen, die zur Hilfe abgestellt waren, meine restlichen Sachen, fünf Umzugskartons, auf einem Transportwagen zum Ausgang zu schieben.
Der Tross in Richtung Gefängnistor setzte sich mit einer kleinen Prozession in Bewegung: voraus die beiden Gefangenen mit der Sänfte meiner Habseligkeiten, dahinter ich als gefallener Sonnenkönig Josef I., flankiert von Justizbeamten. Schade, dass keine Fanfaren zu hören waren.
Einen endlosen Gang hinunter, durch zwei weitere Abteilungen, in den Lift hinein, zwei Stockwerke tiefer wieder hinaus und weiter zur sogenannten Abgangskammer. Dort kannte und erwartete man mich bereits. Weitere Umzugskartons, die man seit meiner Inhaftierung in irgendwelchen Kellern und Verliesen gelagert hatte, wurden auch noch auf den Schiebewagen gepackt. Jetzt kamen die unvermeidbaren Formulare. Quittung für dies und jenes, für die Schlüssel meines Wagens, die Schlüssel zum Haus meines Vaters, die ich alle zwei Wochen nach dem Ausgang wieder abgeben musste und die nun endgültig mir gehörten.
Große Türen drehen sich in kleinen Angeln. Das wird einem spätestens bewusst, wenn man mal im Knast gesessen hat. Eine solche kleine Türangel war es, die mir den Weg zur Freiheit öffnen sollte.
«Müller, sie können jetzt gehen. Wir werden Sie...