E-Book, Deutsch, 210 Seiten
Müller Sternenkill
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7396-3184-4
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
SF-Roman
E-Book, Deutsch, 210 Seiten
ISBN: 978-3-7396-3184-4
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Panik breitet sich aus unter den Menschen der Bewohnten Welten. Erst schrumpft die Wega und vergeht zu Nichts, dann der irdische Mond. Alle Sterne verschwinden, finster wird das All. Was ist nur mit dem Universum los?
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KAPITEL 3 – Neugier kommt vor dem Fall
Es war 6 Uhr 02 Bordzeit. Ein gewöhnlicher Samstagmorgen, wie es schien. Das quaderförmige Hotelraumschiff In Familienbesitz flog in bekannter Route den nächsten Stern an. Meteoriten waren für das Schutzfeld kein Problem, im All treibende größere Brocken gab es auf Flugstunden hinaus nicht. Der Planet Laues Lüftchen, das von den irdischen Auswanderern und den Urlaubern der Besiedelten Welten heiß begehrte nächste Ziel, wartete anderthalb Wochen voraus. Die Flugsicherheit lag bei einhundert Prozent. Niemand machte sich die geringsten Sorgen. Mit geschätzten sieben Meilen pro Stunde rannte der Kapitänssohn Jérôme Bjeerl den Hauptgang des unteren Frachtraumstockwerks der In Familienbesitz entlang. Er war in Bestform und hätte nebenbei noch eine Arie schmettern können, ohne außer Atem zu geraten. Sein Laufstil war elegant, sein Blick hellwach. Beneidenswert für so früh am Tag. Fast alles an Bord schlief noch. Nur die diensthabende Wachmannschaft tat ihre Pflicht. Die Schiffsanlagen umhüllten ihn mit ihrem Gesumm und Gebrumm. Der eigene harte Schritt hallte ihm in den Ohren. Die Geräusche übertönten das Pochen seines Herzschlags. Fad und abgestanden roch die Luft. Hier, im Reich der voluminöseren Frachtgüter, wurde sie nur selten erneuert. Aber in den hundertsechsundfünfzig bewohnten Etagen mit bester Luft und fußschonendem Bodenbelag durfte er nun einmal nicht laufen, um die Fluggäste nicht zu belästigen. Das mittlere Frachtraumstockwerk jedoch war vollgestopft mit dem Gepäck der fünfhunderttausend Fluggäste und das obere Frachtraumstockwerk mit Millionen von Zauberwürfeln. Wie alle paar Jahrzehnte waren sie wieder einmal der absolute Renner auf jeder besiedelten Welt. Die irdischen Werke kamen kaum nach mit den Bestellungen von erst kürzlich erschlossenen Planeten ohne eigene Industrie. Aber wie auch immer, in den beiden letzteren Stockwerken fehlte einfach der Platz zum Laufen. Das oberste und hundertsechzigste Stockwerk jedoch beherbergte seine Großfamilie, den Rest der Crew und die zahlreichen Servicekräfte und war ansonsten der Schiffssteuerung vorbehalten. Dort war aller Lärm verpönt. So blieb ihm zum täglichen Morgenlauf nur dieser Ort im 400 mal 400 mal 400 Meter großen Schiff. Die schlechte Luft machte ihm nichts aus, längst hatte er sich an den geringen Sauerstoffgehalt gewöhnt. Seine roten Blutkörperchen leisteten Schwerstarbeit, als wäre nichts dabei. Wahrscheinlich besaß er inzwischen mehr davon als ein Hochgebirgsbewohner. Nichts konnte ihn bremsen. In Gedanken wähnte er Asphalt unter sich und Kopfsteinpflaster, links und rechts Zuschauermassen, vorn und hinten die Kontrahenten und in der Luft das anfeuernde Gebrüll des Trainers und tat unbeirrt Schritt für Schritt, erfüllt von Euphorie und Bewegungsrausch. In seiner Fantasie war er John Haynes. Er war Haile Gebrselassie. Er war Greg Gregson, der göttliche Sieger des Jahres 2480 mit 1:59:32. Aber er war auch Dorando Pietri, der 1908 in London völlig erschöpft ins Stadion einläuft und für die letzte Runde von 355 Metern, auf der er mehrfach zusammenbricht, 9:46 Minuten braucht. Er war der Reihe nach jeder berühmte Marathonläufer der Welt. Jetzt aber wähnte er eine Aschenbahn unter sich, und mit einem Mal war er wieder er selbst in einem imaginären Olympia-Stadion, umtost von den Massen, als Erster kurz vor dem Ziel. Nur mit äußerster Willensanstrengung fand er zurück in die Wirklichkeit. Er musste es tun, sonst wäre er binnen Kurzem gegen die Wand oder ein Schott gerannt. Das kannte er schon; es war ihm schon mehrfach passiert. Viel zu oft verlor er sich in Tagträumen. Wartungsroboter staksten ihm über den Weg und beachteten ihn nicht. Weiter hinten glitzerte das Dreifach-Schott zum Haupttriebwerk wie ein ungeheures, zum Zuschnappen bereites Maul. Obwohl der Gang viereckig war und nicht rund, kam er sich vor wie Jona im Bauch des Fisches; das heißt, wie in dessen Speiseröhre, und das Dreifach-Schott zum Triebwerk entsprach in seiner Vorstellung dem Magenpförtner des riesigen Tiers. Hier ging es für Menschen ohne Schutzskaphander nicht weiter – verbotene Zone, die Strahlung hinter dem Schott war viel zu hoch. Er bog im rechten Winkel ab. Auch jetzt, nach der Hälfte der Strecke, perlte ihm kein Schweiß von der Stirn, schnaufte er nicht. Er war neunzehn Jahre alt und in Topform. Wie viele Kilometer er während des Fluges schon absolviert hatte, wussten allein seine zahllosen durchgewetzten Laufschuhe. Er beschloss, eine Weile nur schnell zu gehen, um dann einen Schluss-Sprint einzulegen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Die imaginäre Ziellinie zog ihn magisch an wie jeden Tag. Wenn er den Endspurt etwas früher ansetzte als gewöhnlich, könnte es sogar eine persönliche Bestzeit werden. Den Blick auf den Zeiter gerichtet, stob er seinem Ziel förmlich entgegen. Die Spitzen seines Schnauzbarts, den er sich hatte wachsen lassen, obwohl ihn deswegen vor allem die Mädchen verlachten, wippten lustig im Takt der Schritte. Er kam sich vor wie d’Artagnan auf dem Weg zu einem Duell. In diesem Moment passierte er die Frachtbox A-11. A-11, direkt an der Außenhülle des Schiffes gelegen, maß satte tausend Kubikmeter und beherbergte seit dem letzten Halt vor elf Tagen beim Planeten Landunter die Überlebenskapsel des Großindustriellen Gratz-Häußer. Was Gratz-Häußer auf diese verschriene Starkregenwelt getrieben hatte, hätte er nur zu gerne gewusst. Dort hauste nur, wer trotz aller Mühe keine andere Bleibe fand. Wahrscheinlich war Gratz-Häußer ein ausgemachter Tourist, der alles gesehen haben musste, den nichts schrecken konnte, ein Sadist am eigenen Leben und Gemüt. Solcherart Leute hatte er schon einige an Bord erlebt. Verstehen konnte er sie nicht. Die In Familienbesitz würde er nie verlassen. Sie war seine Wiege, sein Heim, sein Arbeitsplatz, sein Lebensinhalt, sein zukünftiges Grab. Nirgendwo anders fühlte er sich wohl. Er brauchte die gewohnte Umgebung, seine Arbeit, den immerwährenden Flug zwischen den Sternen und die Nähe seiner Großfamilie. Außerdem würde er in zwanzig Jahren, wenn sein Vater in Ruhestand ging, der neue Kapitän des Hotelraumschiffes sein. Seine Mundwinkel bogen sich nach unten, die Spitzen des Schnauzbarts sanken herab. Ein tiefer, gequälter Seufzer entwich seiner Brust. Wenn es nur endlich soweit wäre! Sobald man auf ein bestimmtes Ereignis wartete, zog sich ein Jahr so unendlich lang dahin. Zwanzig mal dreihundertfünfundsechzig Tage, in denen er dienen musste. Bei allen Bewohnten Welten! Er wollte im Hotelraumschiff regieren, er wollte anführen. Er wollte bestimmen, wo es lang ging. Er wollte beim Kapitänsdiner an der Stirnseite der Tafel sitzen, die berühmtesten Gäste zu beiden Seiten. Er wollte anerkannt, berühmt und bewundert sein. Dazu fühlte er sich berufen, dazu war er geboren, das war der Zweck seines Lebens. Und die Kenntnisse dazu besaß er längst. Er konnte die In Familienbesitz ebenso gut führen und leiten wie sein Vater oder jeder andere der Crew. Und was musste er noch zwanzig Jahre lang tun – gehorchen. Und das Allerschlimmste: Er war zum Dienen, zum Gehorchen erzogen worden. Er würde nie einen Befehl verweigern, einer Aufgabe nicht nachkommen, gegen die Herrschaft seines Vaters rebellieren oder gar gegen ihn intrigieren, sondern immer nur gehorchen. Das wusste er ganz genau; er konnte gar nicht anders. Sein Wesen ließ nichts anderes zu. Und was blieb ihm somit? Die übliche Tagträumerei. Morgens träumte er davon, ein berühmter Marathonläufer zu sein; abends in der Viertelstunde vor dem Einschlafen war er der geachtete und erfolgreiche Kapitän der In Familienbesitz. Kein Hotelraumschiff hatte mehr illustre Gäste als seines, keines flog begehrtere Welten an. Immer war es ausgebucht. Er seufzte abermals. Für zwanzig Jahre nichts als Träume: Die Welt war ungerecht. Wieder traf sein Blick die Frachtbox A-11. Zehn Tage lang hatte er der Versuchung widerstanden, ausgerechnet an diesem Morgen gab er ihr nach. Er kehrte um, spähte nach allen Seiten und drückte und zog verstohlen hier und da am Portal der Überlebenskapsel herum. Bald schon fühlte er den verborgenen Knopf. Ein weiterer spähender Blick und ein zaghafter Druck, und ihm entfuhr ein ungläubiges Ächzen. Denn das Portal schwang tatsächlich auf und bot ihm Einlass. Entweder musste Gratz-Häußer ein äußerst positives Menschenbild besitzen und niemandem einen Diebstahl oder ein Attentat zutrauen oder aber ziemlich schusselig sein und die bestimmt vorhandene Sicherheitsschaltung vergessen haben. Dass der Knopf nur eine Notlösung darstellte, war ihm klar. Gratz-Häußer betätigte das Portal auf jedem Fall mithilfe eines persönlichen Kopffunk-Codes. Ein weiterer spähender Blick. Er schlüpfte ins Innere der Kapsel. Das Portal blieb offen und nahm ihn nicht gefangen, wie er kurz bangte. Staunend schaute er sich um. Der Begriff Kapsel entpuppte sich als ziemliche Verniedlichung. Sie besaß die Ausmaße eines dreistöckigen Hauses und selbstredend das...