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Müller | Unerwartete Feinde | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 347 Seiten

Müller Unerwartete Feinde

Zivile Gewalt und Emotionen im Ersten Weltkrieg
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-593-45661-4
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Zivile Gewalt und Emotionen im Ersten Weltkrieg

E-Book, Deutsch, 347 Seiten

ISBN: 978-3-593-45661-4
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Gewalt war im Ersten Weltkrieg auch an der Heimatfront eine alltäglich verfügbare Option. Anhand von drei Fallbeispielen - der Verfolgung angeblicher Goldtransporte in Automobilen, der Bedrohung aus der Luft durch Zeppeline und dem Versenken von Handels- und Passagierschiffen durch U-Boote - untersucht Sven Oliver Müller Gewalt von und gegen Zivilpersonen zwischen 1914 und 1918 im Deutschen Reich und in Großbritannien. Verunsicherung, Angst, Wut, Hass und das Gefühl von Ohnmacht führten zu spontanen Gruppenbildungen und Gewaltausbrüchen. Tatsächliche und erfundene Gefahren hatten zur Folge, dass unbekannte Reisende wie längst bekannte Nachbarn und generell Menschen, die als fremd wahrgenommen wurden, verfolgt, beleidigt, ausgeplündert oder getötet wurden. Medien und staatliche Propaganda verstärkten diese Taten und Emotionen. Einige der Gewaltausbrüche waren durchaus im Sinne der staatlichen Interessen - aber die Zivilisten handelten nicht immer so wie »geplant« - als eigenständige Akteure bestimmten sie oft selbst, gegen wen sich ihre Gewalt richtete.

Sven Oliver Müller, PD Dr. phil., ist Historiker; er hat u.a. in Berlin, Tübingen, Bielefeld, London, New York und Florenz geforscht und gelehrt.
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Autoren/Hrsg.


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II.Perspektiven: Feinde auf dem Lande, in der Luft und (unter) der See


1.Alle Autofahrer sind verdächtig: Konstruierte Feinde in Deutschland im August 1914


1.1Grundierung: Konflikte im Deutschen Kaiserreich an der Wende zum 20. Jahrhundert


Die Oper von Richard Strauss hatte direkt bei der Uraufführung Erfolg. Nach dem Jubel des Publikums bei der Dresdner Premiere am 26. Januar 1911 brachten noch im gleichen Jahr über 40 Häuser das Werk im In- und Ausland auf die Bühne. Für den Erfolg war nicht allein die Musik von Richard Strauss, sondern auch das Libretto von Hugo von Hofmannsthal ausschlaggebend. Es ist voller Ironie, Provokation und Melancholie. Das Stück spielt in Wien um 1740. Bereits zu Beginn nutzt die gealterte Fürstin und Feldmarschallin Maria Theresa Werdenberg die Gelegenheit, sich mit ihrem siebzehnjährigen Geliebten Octavian Graf Rofrano zu vergnügen, ihr Ehemann ist abwesend. Am Ende verzichtet die Fürstin aber auf den jugendlichen Octavian und macht es ihm möglich, seine geliebte Sophie zu heiraten. Sie erkennt, dass die Zukunft der jungen Generation gehören werde und die alte Gesellschaft an Bedeutung verloren habe. Ein neues Zeitalter solle und müsse beginnen – mit offenem Ausgang.

Der handelt vom Wandel der Zeit mit allen Problemen und Chancen. Am Ende des ersten Aktes wird die Unsicherheit der Fürstin in einem Monolog deutlich: »Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie: sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder. Lautlos, wie eine Sanduhr. Oh, Quinquin! [das ist Octavian]. Manchmal hör ich sie fließen – unaufhaltsam. Manchmal steh ich auf mitten in der Nacht und lass die Uhren alle, alle stehn.«

Nach Auffassung von Hofmannsthal handelt der mehr von der Vergangenheit als von der Gegenwart. Der musikalische wie der historische Wandel seien nicht fest ausgemacht. Für Richard Strauss ist das Werk eine Komödie, welche das Publikum pointiert unterhalten solle, statt die Gegenwart des 20. Jahrhundert zum Maßstab zu erheben. Das unterscheidet den von ihrer gemeinsamen Oper (1909). Die vielen Unterschiede in Thema, Musik und Dichtung sind erstaunlich, obwohl zwischen beiden Stücken nur zwei Jahre liegen. In geht es um Gewalt, Tod und Verachtung. Die brutale und psychisch verstörte Figur der Elektra hat mit der ausgeglichenen und einsichtigen Fürstin Werdenberg nichts zu tun. Anders als bei der verzichtet Richard Strauss beim darauf, in musikalische Grenzbereiche vorzustoßen; er unterstreicht vielmehr die Schönheit der tradierten Tonalität und Harmonik. Zugespitzt formuliert ist der ein Anachronismus.50 Ich stelle diese Beschreibung an den Anfang meines Kapitels, weil hier die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg sowohl vorwärts- als auch rückwärtsgewandt gespiegelt werden. Die Verwandlungen in diesen Jahren sind schnell, aufregend und herausfordernd – und manchmal möchte man mit Strauss und der Marschallin zurück zu (vermeintlicher) Harmonie und Schönheit.

Das Lange 19. Jahrhundert kann mit guten Gründen als »Verwandlung der Welt« (Jürgen Osterhammel) charakterisiert werden. Einige Veränderungen sind fast kategorial, die Herausforderungen und die Anpassungsleistungen waren wie die Krisen enorm. Die Geschwindigkeit der Verwandlung nahm eher zu. Deshalb halte ich es für vernünftig, den Zeitraum nach 1900 als Epoche der Beschleunigung zu bezeichnen, trotz berechtigter Einwände etwa aus der Perspektive der Kulturgeschichte.51 Die Beschleunigung betraf unter anderem die Umgestaltung politischer Prozesse, soziale Konflikte, Migration, Veränderungen der Geschlechterordnung, Bildung, sowie wirtschaftliche oder technische Innovationen. Diese Bereiche überlagerten sich. Die Veränderungen waren deshalb so beunruhigend, weil sie gleichzeitig stattfanden. Für staatliche Institutionen und Unternehmen war es genauso schwierig wie für einzelne Menschen, die eigene Umgebung überhaupt noch zu verstehen oder zukünftige Entwicklungen verlässlich einzuschätzen. Eine Mischung aus Unübersichtlichkeit, Fortschrittseuphorie und Bedrohungsängsten verschob die Bewertungsmaßstäbe und machte es komplizierter, Situationen und Zeitläufte zu begreifen.52

Nach Auffassung des Soziologen Jürgen Habermas entstand im 19. Jahrhundert das »radikalisierte Bewusstsein von Modernität«. Eine Folge war, dass bereits in diesem Zeitraum eine »neue Unübersichtlichkeit« zum Problem in der Gesellschaft wurde. »Die Gegenwart versteht sich jeweils als ein Übergang zum Neuen; sie lebt im Bewusstsein der Beschleunigung geschichtlicher Ereignisse und in der Erwartung der Andersartigkeit der Zukunft.« Wie in einem Prozess »gilt Zeit als knappe Ressource für die zukunftsorientierte Bewältigung von Problemen, die uns die Vergangenheit hinterlässt.«53

Ein Aspekt dieses tiefgreifenden Wandels betrifft den wachsenden Stellenwert der Bildung und der Wissenschaft. Etliche neue Fächer (gerade in den Naturwissenschaften) wurden an den Universitäten etabliert, Methoden erarbeitet, es gab immer schneller neue Erkenntnisse. Das neu generierte Wissen stieß auf ein großes Interesse in der Bevölkerung. Im Deutschen Kaiserreich lernten immer mehr Kinder in neu gebauten Schulen lesen und schreiben und manche konnten später möglicherweise auch ein Gymnasium oder sogar eine Universität besuchen. Populäre Zeitungen sowie wissenschaftliche Zeitschriften erhöhten ihre Auflagenzahlen. Auch die Verbreitung kleiner städtischer Bibliotheken, der Erfolg neuer Vereine und Verbände und nicht zuletzt die Entstehung einer effizienten Post im Deutschen Reich erleichterten den Austausch von Nachrichten erheblich. Gleichzeitig wurde das Reisen einfacher, günstiger und schneller. Das ermöglichten der Neubau großer Eisenbahnlinien wie auch der Ausbau kleinerer Straßen in der Provinz. Manche der technischen Erfindungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts sollten ihre volle Wirkung aber eher in der Zukunft als in der Gegenwart entfalten, wie etwa die Telegraphie per Funk, das Telefon, das Radio oder der Film.54 Drei neue Transportmittel – Autos, Zeppeline und U-Boote – sind die Bezugspunkte der drei Teile in diesem Abschnitt.

Politische Beschleunigung und emotionale Erregung

In diesem Abschnitt möchte ich zunächst einige Aspekte der Strukturen und der Veränderungen im Deutschen Kaiserreich genauer in den Blick nehmen, die die Wahrnehmungen und Reaktionen der Zivilbevölkerung zu Anfang des Krieges verständlicher machen. Kurz will ich die wachsenden politischen Spannungen im Kaiserreich ansprechen. Beispiele dafür sind die Verwerfungen zwischen liberalen und konservativen Parteien, die Partizipationsansprüche der Sozialdemokratie oder die wachsende Organisationsmacht des Staates. Doch ist trotz aller Herausforderungen der Optimismus in diesem Zeitraum nicht zu unterschätzen. Viele Menschen hatten die Überzeugung, durch eigenes soziales oder kulturelles Engagement eine wunderbare moderne Welt erschaffen zu können.55

Das Deutsche Reich setzte sich aus 25 Mitgliedsstaaten zusammen, meistens waren es Fürsten- und Herzogtümer. Bei seiner Gründung in Folge des Krieges gegen Frankreich wurde der Preußische König Wilhelm I. 1871 zum Kaiser gekrönt. Die Einwohnerzahl im Deutschen Reich nahm schnell zu. 1871 lebten etwa 41 Millionen Menschen im Kaiserreich, im Jahre 1900 waren es 56 Millionen und 1913...



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