E-Book, Deutsch, 399 Seiten
Müller / Wickenhäuser Die sieben Häupter
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8412-0541-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 399 Seiten
ISBN: 978-3-8412-0541-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Titus Müller, 1977 in Leipzig geboren, studierte Neuere deutsche Literatur, Mittelalterliche Geschichte und Publizistik in Berlin. Er erhielt den Würth-Literaturpreis und den C.S. Lewis-Preis. 'Das Mysterium' wurde 2008 mit dem Sir Walter Scott-Preis als bester historischer Roman des Jahres ausgezeichnet. Titus Müller lebt in München. Bisher erschienen von ihm: 'Der Kalligraph des Bischofs', 'Die Priestertochter', 'Die sieben Häupter', 'Der zwölfte Tag', 'Die Brillenmacherin', 'Die Todgeweihte'.www.titusmueller.de
Autoren/Hrsg.
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Prolog
Ein sächsisches Dorf, im Jahre des Herrn 1223
Der Leib des Fremden war eine einzige Wunde.
Ethlind konnte ihre Abscheu kaum verbergen, als sie ihm die schmutzigen Binden von den geschwollenen Fußknöcheln löste. Oberhalb der Wade schien sich die wäßrige Haut mit dem groben Leinen zu einer grotesken Einheit aus Sehnen und Streifen verbunden zu haben. Faustgroße Flecken von Blut und Eiter drangen durch den Stoff und sonderten einen so widerlichen Geruch ab, daß es Ethlind beinahe den Magen umdrehte.
Der Mann drehte sich auf die Seite, krümmte sich und begann leise zu wimmern, dabei hatte sie ihn noch nicht einmal berührt. Die Tortur der Säuberung stand ihm noch bevor. Behutsam legte Ethlind ihre Hand auf seine Stirn. Seine Haut glühte wie ein funkensprühendes Kohlenbecken. Besorgt stellte sie fest, daß seine Augenlider unter ihren sanften Berührungen zuckten, als begehrten sie gegen die unfreiwillige Ohnmacht auf, die ihn nun bereits seit drei Tagen in einem Winkel der sächsischen Bauernkate auf sein Strohlager zwang.
»Ich brauche eine Schüssel Wasser«, rief Ethlind über die Schulter. Sie konnte ihre Dienstmagd im Dämmerlicht der kleinen Kammer kaum erkennen, denn draußen auf der Gasse war es noch zu hell für eine Lampe, und das Herdfeuer brannte, auf Befehl des Bauern, nur in der gemeinschaftlich genutzten Stube. Aber sie wußte, daß Bertha irgendwo im Schatten stand, lauernd wie eine Katze vor dem Mauseloch, und jede ihrer Bewegungen haargenau vermerkte. In der Stube klapperten Holzpantinen über den festgestampften Lehmboden. Ein mißmutiges Husten und Zischen war zu hören.
»Bring mir auch einen Schwamm, er liegt auf dem Wandbord, gleich hinter den irdenen Krügen«, befahl Ethlind mit strenger Stimme. Sie ahnte, daß es der jungen Magd ihres Vaters gegen den Strich ging, ausgerechnet ihr zu gehorchen. Immerhin schlief Bertha seit dem vergangenen Winter, der so hart gewesen war, daß zwölf Dorfbewohner und drei Knechte des Gutsherrn das Zeitliche gesegnet hatten, nicht mehr in der Gesindestube. Sie teilte das Bett des Bauern. Vermutlich rechnet sie sich gute Chancen aus, bald selbst auf dem Hof das Sagen zu haben, dachte Ethlind und verzog den Mund. Als Magd war auf Bertha kein Verlaß, dafür besaß sie jene Qualitäten, von denen die Männer in den Schenken schwärmten, sobald der heiße Würzwein ihren Körper erhitzte. Daß sie ein verschlagenes Biest war, interessierte weder ihren Vater noch die Knechte und Freibauern, denen Bertha im Laufe der vergangenen Monate schöne Augen gemacht hatte.
Ethlind biß sich auf die Unterlippe. Gewiß würde Bertha ihrem Vater heute abend brühwarm berichten, daß Ethlind ihr verboten hatte, zum Gutshaus hinaufzugehen, um seinen Auftrag auszuführen. Daß sie ihre Arbeit vernachlässigte, um mit diesem verlausten Vaganten zusammenzuhocken. Ihm die Wunden zu verbinden. Seinem Gestammel von fernen Ländern zu lauschen …
Ethlinds langer, geflochtener Haarzopf rauschte über die Decke, die sie zum Schutz vor der beißenden Februarkälte über den entblößten Oberkörper des Bewußtlosen gelegt hatte. Sie bestand aus zusammengenähten Kaninchenfellen und gehörte dem Hausherrn. Er war stolz auf diese Decke, zeigte sie überall herum, als versuche er mit ihrer Hilfe Ethlinds Chancen auf dem Heiratsmarkt zu verbessern. Nun aber hatte sie längst den Geruch des Kranken und seines Lagers angenommen. Und auch dafür würde ihr Vater sie verachten.
Sie erhob sich. Ihr war eingefallen, daß es noch einen kleinen Vorrat an Heilkräutern im Hause gab. Der alte Lurias, ein fahrender Krämer, der zweimal im Monat mit seinem Karren den Pfad zum Hofgut einschlug, hatte sie ihr vor Mariä Lichtmeß überlassen, damit sie dem Krampfhusten ihres Vaters zu Leibe rücken konnte. Einige der Arzneien bewahrte sie seitdem in versiegelten Zinnkrügen auf, die in einem Hohlraum zwischen den Schiebesteinen des Kellerfensters klemmten. Bertha wußte nichts von diesem Versteck, und dies war auch besser so.
»Ich gebe Euch etwas gegen das Fieber, sobald das dumme Ding aus dem Haus ist, Herr«, sagte sie leise. Sie warf ihren Zopf zurück, während sie sich von neuem über den Leib des jungen Mannes beugte. Als sie ihn im Graben vor dem Fallgatter des Dorfes aufgelesen hatte, war sein Gesicht unter der dicken Schicht aus geronnenem Blut, Staub und verkrustetem Schmutz kaum zu erkennen gewesen. Aber Ethlind hatte trotz dieses erbärmlichen Anblicks sofort gespürt, daß der Fremde kein gewöhnlicher Bettler oder Trunkenbold war. Er schien auch kein Bauer zu sein, jedenfalls keiner aus der Gegend, denn Ethlind kannte jedes Gehöft an der Straße nach Dessau, gleichgültig, ob es von freien Zinsbauern, wie ihrer Familie, oder Hörigen bewohnt wurde.
Die schlanken weißen Finger dieses Mannes hatten weder jemals einen Pflug geführt noch eine Forke in den Ackerboden geschlagen. Möglicherweise gehörte er dem Ritterstand an, oder er war ein Kaufmann, der auf dem Handelsweg nach Polen Wegelagerern zum Opfer gefallen war. Nun, da Kaiser und Papst sich unter den Edlen des Reiches Verbündete suchten, um ihren unheilvollen Machtstreit auszufechten, gab es kaum noch eine Landstraße, die für unbescholtene Reisende sicher war.
Während Bertha geräuschvoll in der Stube ihres Herrn hantierte, betrachtete Ethlind den Fiebernden. Seine Haut glänzte in dem schwachen Lichtstreifen, der durch die Kammertür drang, wie brüchiger Sandstein. Seine dunklen, gewellten Haare hatte Ethlind mit duftender Honigseife gewaschen, sorgfältig gekämmt und im Genick mit einem Lederriemen zusammengebunden. Den verfilzten schwarzgrauen Bart hatte sie ihm jedoch kurzerhand abgenommen. Sie fand, daß der Fremde trotz seiner entstellenden Blessuren gut aussah. Irgendwie südländisch, auch wenn sie nicht zu sagen vermochte, worauf sich ihr Gefühl begründete, denn sie hatte in ihrem jungen Leben den kleinen Weiler kaum verlassen. Doch wer, bei allen Heiligen, war er? Was hatten die sonderbaren Worte zu bedeuten, die er während seiner ersten Nacht in der Kate im Fiebertraum gerufen hatte?
Cathay … Mongolenpfad …
Energisch schüttelte sie diese Gedanken ab und drehte sich nach der jungen Magd um, die soeben in die Kammer gestapft kam. Bertha balancierte eine bis zum Rand gefüllte Holzschüssel in den Händen. Über ihrem Arm hingen mehrere Streifen Linnen. »Der Bursche ist nicht nur verwundet, sondern schwachsinnig, wenn du mich fragst«, sagte sie mit gerümpfter Nase. »Schwachsinnig oder versponnen wie du selbst und …«
»Dich fragt aber keiner! Stell gefälligst die Schüssel neben den Bettkasten, ehe das ganze Stroh aufweicht!«
Ethlind nahm den Schwamm, tauchte ihn in das eiskalte Wasser und beobachtete einen Augenblick lang gebannt, wie die einzelnen Tropfen unter ihren Händen zurück in die Schüssel perlten. »Du kannst gehen, Bertha. Ich brauche dich heute nicht mehr im Haus.« Kein Mensch braucht dich hier, setzte sie in Gedanken hinzu und lächelte, als die Magd beleidigt hinausging.
Plötzlich drang ein gequältes Seufzen an ihr Ohr. Dem Laut folgte ein Wort, undeutlich, wie das Glimmen eines Feuers, kurz bevor es erlischt. Ethlind hatte dasselbe Wort schon einmal vernommen, damals in der ersten Nacht ihrer Krankenwache. Aufgeregt starrte sie zum Lager des Fremden hinüber.
»Gebt ihm … den Samen des Drachen. Er ist … das Ende der Welt. Der Herr befiehlt …«
Da! Hatte er sie nicht soeben erst angesehen? Einen Herzschlag lang hatten sich ihre Blicke gekreuzt. Ethlind spürte seine Augen wie glühendes Eisen auf der nackten Haut. Es war, als habe das Fieber auch sie heimgesucht.
Die Lippen des Fremden öffneten und schlossen sich rhythmisch, als versuchte er zu kauen.
»Sterbt nicht, mein guter Herr«, flüsterte Ethlind voller Angst. »Ich will, daß Ihr bleibt.«
Er erwachte unter einem Himmelsdach aus rotem Stoff, der glänzte, als hätten sich tausend Sonnenstrahlen in ihm versteckt. Auch die Kissen und Decken, auf denen er lag, fühlten sich glatt und kühl an wie Metall, dabei waren sie zart und warm. Sein Körper duftete nach Orangenblüten, Jasmin und einigen Pflanzen und Früchten, die er nicht einmal kannte. Über ihm, an der Decke des Gemachs, schaukelten große bunte Lampen. Sie waren mit verschiedenen Tierbildern geschmückt und schimmerten durchsichtig wie Pergament. Er hatte nie zuvor etwas Schöneres gesehen, nicht in Ägypten und auch nicht in Persien.
Zwei hübsche, schmale Augen blickten ihn abschätzend an. Sie gehörten einem jungen Mädchen, das eine goldene Glocke in der Hand hielt. Sie war schmaler gebaut als die Mongolenmädchen, die er auf dem Markt der Hafenstadt Kaffa gesehen hatte, doch ihr Haar war ebenso dunkel und glatt. Einen Herzschlag lang sah die junge Frau auf die Glocke in ihrer Hand. Dann öffnete sie die Lippen, um ihn anzusprechen. Ihre Stimme klang süß wie Engelsgesang, aber er verstand kein Wort von dem, was sie sagte. Erst als sie auf seine Kleider und den venezianischen Dolch zeigte, die auf einem herrlich geschnitzten Fußschemel neben dem Bett lagen, kehrte die Erinnerung zu ihm zurück. Er war nicht tot, nicht im Paradies.
Sein Herr, der Kaufmann, war tot. Er war in dessen Kleider geschlüpft. Sein eigentlicher Herr würde es ihm nie verzeihen, wenn er seine Mission nicht erfüllte. Also hatte er die Karten an sich genommen, um den Weg nach Cathay fortzusetzen.
Den langen Weg über den Mongolenpfad.
Bertha hatte sich bei Ethlinds Vater ausgeweint. Soviel stand fest. Als der Bauer gegen Abend in die Stube polterte und nach ihr...