E-Book, Deutsch, 672 Seiten
Mukherjee Das Lied der Zelle
23001. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8437-2907-9
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie die Biologie die Medizin revolutioniert -- Medizinischer Fortschritt und der Neue Mensch | Das spektakuläre neue Buch des Pulitzer-Preisträgers
E-Book, Deutsch, 672 Seiten
ISBN: 978-3-8437-2907-9
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Siddhartha Mukherjee ist praktizierender Onkologe am Columbia University Medical Center und Autor. Für sein Buchdebüt Der König aller Krankheiten: Krebs - eine Biographie erhielt er 2011 den Pulitzer Preis. Auch Das Gen - eine sehr persönliche Geschichte war ein weltweiter Erfolg. Als Experte auf dem Gebiet der Krebs- und Stammzellforschung veröffentlicht er regelmäßig in The New Yorker und der New York Times. Dr. Mukherjee lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in New York.
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VORSPIEL
»Die Elementarteile des Organismus«
– Sherlock Holmes zu Dr. Watson
Das Gespräch fand im Oktober 1837 beim Abendessen statt.4 Die Dämmerung war hereingebrochen, und in den Hauptstraßen von Berlin leuchteten schon die Gaslampen. Nur vereinzelt haben sich Erinnerungen an den Abend erhalten. Es wurden keine Notizen gemacht und keine wissenschaftliche Korrespondenz geführt. Uns bleibt nur die Geschichte darüber, wie zwei Freunde – Institutskollegen – bei einer zwanglosen Mahlzeit über Experimente diskutierten und sich über eine entscheidende Idee austauschten. Einer der beiden hieß Matthias Schleiden und war Botaniker. Über seine Stirn zog sich eine auffällige, entstellende Narbe, das Überbleibsel eines früheren Selbstmordversuchs. Bei dem zweiten, dem Zoologen Theodor Schwann, reichten die Koteletten bis zu den Wangen hinunter. Beide arbeiteten an der Berliner Universität unter Leitung des angesehenen Physiologen Johannes Müller.
Schleiden, ein ehemaliger Rechtsanwalt, beschäftigte sich mit Aufbau und Entwicklung von Pflanzengeweben. Im Rahmen seiner »Heusammelei«, wie er sie nannte, hatte er Hunderte von Fundstücken aus dem Pflanzenreich gesammelt: Tulpen, Traubenheide, Fichten, Gräser, Orchideen, Salbei, Linanthus, Erbsen und Dutzende von Lilienarten.5 Seine Sammlung wurde in Botanikerkreisen bewundert.6
An jenem Abend unterhielten sich Schwann und Schleiden über die Phytogenese, den Ursprung und die Entwicklung der Pflanzen. Dabei teilte Schleiden seinem Gegenüber etwas Wichtiges mit: Bei all seinen Pflanzenfunden hatte er eine »Einheitlichkeit« von Aufbau und Struktur beobachtet. Wenn Pflanzengewebe – Blätter, Wurzeln, Keimblätter – sich entwickelte, wurde stets eine auffällige subzelluläre Struktur sichtbar, der Zellkern. (Über die Funktion des Kerns wusste Schleiden nichts, aber er erkannte seinen charakteristischen Aufbau.)
Die größte Überraschung war vielleicht eine weitreichende Einheitlichkeit im Aufbau der Gewebe. Jeder Teil der Pflanze war nach dem Baukastenprinzip aus eigenständigen, unabhängigen Einheiten aufgebaut – den . »Jede Zelle führt ein Doppelleben«, schrieb Schleiden ein Jahr später. »Das eine ist völlig unabhängig und gehört nur zu ihrer eigenen Entwicklung; das andere folgt daraus insofern, als sie zum Teil einer Pflanze geworden ist.«7
Ein Lebewesen innerhalb des Lebendigen. Ein unabhängiges Lebewesen, eine Einheit, die einen Teil des Ganzen bildet. Ein lebender Baustein, enthalten in dem größeren lebendigen Organismus.
Schwann spitzte die Ohren. Auch ihm war der Zellkern ins Auge gefallen, allerdings in den Zellen eines sich entwickelnden Tiers, nämlich einer Kaulquappe. Und auch er hatte die Einheitlichkeit im mikroskopischen Aufbau der Gewebe von Tieren beobachtet. Die »Einheitlichkeit«, die Schleiden bei den Pflanzenzellen gesehen hatte, war vielleicht ein tieferes Prinzip, das für alles Leben galt.
In Schwanns Kopf nahm ein noch unfertiger, aber zutiefst radikaler Gedanke Gestalt an, ein Gedanke, der für die Geschichte von Biologie und Medizin zum Wendepunkt werden sollte. Vielleicht schon an diesem Abend, vielleicht auch ein wenig später lud er Schleiden ein (oder drängte ihn möglicherweise sogar), in das Labor seines Anatomiesaals zu kommen, wo er sein Material aufbewahrte. Schleiden blickte durch das Mikroskop. Er konnte es bestätigen: Was den mikroskopischen Aufbau einschließlich des auffälligen Zellkerns anging, sah das entstehende Tier fast genauso aus wie eine Pflanze.8
Tiere und Pflanzen – unterschiedlicher, so schien es, können Lebewesen nicht sein. Und doch hatten sowohl Schwann als auch Schleiden festgestellt, dass ihre Gewebe unter dem Mikroskop geradezu gespenstisch ähnlich aussahen. Schwanns Ahnung war richtig gewesen. Wie er sich später erinnerte, waren die beiden Freunde an jenem Abend in Berlin auf eine allgemeingültige, entscheidende wissenschaftliche Erkenntnis gestoßen: Sowohl Tiere als auch Pflanzen haben eine »gemeinsame Methode, sich durch Zellen zu bilden«.9
Im Jahr 1838 stellte Schleiden seine Beobachtungen in einem umfangreichen Aufsatz mit dem Titel zusammen.10 Ein Jahr später folgte Schwann mit seinem Werk über die Zellen der Tiere: .11 Tiere und Pflanzen, so Schwanns Feststellung, sind ähnlich organisiert: Jeder Organismus ist ein »Aggregat aus vollständigen Individuen«.
In diesen beiden bahnbrechenden Arbeiten, die in einem Abstand von nur einem Jahr erschienen, wurde die gesamte Welt des Lebendigen auf ein einziges klares Prinzip zurückgeführt. Schleiden und Schwann waren nicht die Ersten, die Zellen gesehen hatten, und sie waren auch nicht die Ersten, die erkannten, dass Zellen die Grundeinheiten der Lebewesen sind. Ihre scharfsinnige Erkenntnis lag vielmehr in der Feststellung, dass für alle Lebewesen ein zutiefst einheitliches Prinzip von Organisation und Funktion gilt. »Ein gemeinsames Band«, so Schwann, verbindet die verschiedenen Reiche des Lebendigen.12
Ende 1838 verließ Schleiden Berlin und nahm eine Stellung an der Universität Jena an.13 Im Jahr 1839 wechselte auch Schwann auf eine Position an der Katholischen Universität im belgischen Leuven.14 Obwohl die beiden aus Müllers Institut in unterschiedliche Richtungen gingen, führten sie weiterhin eine lebhafte Korrespondenz, und ihre Freundschaft blieb bestehen. Ihre bahnbrechenden Arbeiten über die Grundlagen der Zelltheorie lassen sich aber zweifelsfrei auf Berlin zurückführen, wo sie enge Kollegen und Freunde gewesen waren. Sie hatten, wie Schwann es formulierte, die »Elementarteile der Lebewesen« gefunden.
Dieses Buch erzählt die Geschichte der Zelle. Es ist eine Chronik der Entdeckung, dass alle Lebewesen einschließlich des Menschen aus solchen »Elementarteilen« bestehen. Es berichtet darüber, wie organisierte Ansammlungen dieser eigenständigen lebendigen Einheiten – Gewebe, Organe und Organsysteme – durch ihr Zusammenwirken umfassende physiologische Phänomene ermöglichen: Immunität, Fortpflanzung, Empfindungsfähigkeit, Kognition, Reparatur und Verjüngung. Umgekehrt ist es aber auch eine Geschichte darüber, was geschieht, wenn Zellen nicht mehr funktionieren und unser Körper von der Zellphysiologie zur Zellpathologie kippt – wenn die Fehlfunktionen von Zellen die Fehlfunktionen des Organismus auslösen. Und schließlich ist es auch eine Geschichte darüber, wie unsere immer weiter reichenden Kenntnisse über Physiologie und Pathologie der Zellen in Biologie und Medizin eine Revolution auslösten, die zu einer Verwandlung der Medizin und zur Verwandlung von Menschen durch diese Medizin geführt hat.
Zwischen 2017 und 2021 schrieb ich drei Artikel für das Magazin .15 Der erste handelte von der Zellmedizin und ihrer Zukunft; insbesondere ging es darin um die Erfindung umprogrammierter T-Zellen, die Krebszellen angreifen. In dem zweiten berichtete ich über eine neue Vorstellung von Krebs, in deren Mittelpunkt der Gedanke von der der Zellen steht – es ging nicht um einzelne Krebszellen, sondern um den Krebs an seiner Stelle im Organismus und um die Frage, warum manche Stellen im Körper bösartigen Tumoren offensichtlich eine viel angenehmere Umgebung bieten als andere. Den dritten schrieb ich in der Anfangszeit der Covid-19-Pandemie; darin berichtete ich darüber, wie Viren sich in unseren Zellen und unserem Organismus verhalten und wie wir auf der Grundlage solcher Verhaltensweisen besser verstehen können, warum manche Viren bei Menschen so verheerende physiologische Wirkungen haben.
Irgendwann fragte ich mich, welche thematischen Zusammenhänge zwischen den drei Artikeln bestehen. Im Mittelpunkt stand in allen Fällen die Geschichte der Zellen und ihrer Umgestaltung. Eine Revolution war im Gange, aber es gab auch eine unbeschriebene Vergangenheit (und Zukunft): eine Geschichte über Zellen, über unsere Fähigkeit, Zellen zu manipulieren, und über den Wandel der Medizin, den diese Revolution einleitet.
Aus dem Samen, den ich mit den drei Artikeln gelegt hatte, wuchsen in diesem Buch eigene Stängel, Wurzeln und Ableger. Die Chronik beginnt in den 1660er- und 1670er-Jahren, als ein schüchterner niederländischer Tuchhändler und ein unkonventioneller englischer Universalgelehrter unabhängig voneinander und in einer Entfernung von mehr als 300 Kilometern durch ihre selbst gebauten Mikroskope blickten und die ersten Anzeichen von Zellen entdeckten. Sie setzt sich fort bis zur Gegenwart: Heute verändern Forschende menschliche Stammzellen und verabreichen sie Patienten mit chronischen, potenziell lebensbedrohlichen Krankheiten wie Diabetes oder...




