Murakami | Die Stadt und ihre ungewisse Mauer | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 640 Seiten

Murakami Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

Roman
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7558-1000-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 640 Seiten

ISBN: 978-3-7558-1000-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine geheimnisvolle Bibliothek in einer ummauerten Stadt am Ende der Welt, die nur betreten kann, wer seinen eigenen Schatten zurücklässt: Hier lebt das wahre Ich des Mädchens, in das sich der namenlose Erzähler mit siebzehn Jahren unsterblich verliebt. Er macht sich auf die Suche nach ihr, gelangt in die geheimnisvolle Stadt, doch das Mädchen erkennt ihn nicht mehr. Der Erzähler gerät unter rätselhaften Umständen zurück in die Welt jenseits der Mauer. Er zieht nach Tokio, arbeitet im Buchhandel, hat wechselnde Freundinnen. Seine Eltern drängen ihn, endlich zu heiraten. Aber er kann das Mädchen nicht vergessen. Schließlich kündigt er und nimmt eine Stelle in einer alten Bücherei in der Präfektur Fukushima an. Hier trifft er auf Herrn Koyasu, der wie er den Verlust einer großen Liebe zu verwinden hat, und den mysteriösen Yellow-Submarine-Jungen. Die Erinnerung an die ummauerte Stadt kehrt mit aller Macht zurück, die Realität gerät knirschend ins Wanken - und der Erzähler muss sich fragen, was ihn an diese Welt bindet. >Die Stadt und ihre ungewisse Mauer< ist eine Liebesgeschichte, die Geschichte einer wundersamen Reise und zugleich eine Geschichte vom Werden.

HARUKI MURAKAMI, 1949 in Kyoto geboren, lebte längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. Zuletzt erschienen die Romane >Die Ermordung des Commendatore< in zwei Bänden (2018), in einer Neuübersetzung >Die Chroniken des Aufziehvogels< (2020), der Erzählband >Erste Person Singular< (2021), >Murakami T< (2022) und >Honigkuchen< (2023).
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7

»Wenn es etwas Vollkommenes auf der Welt gibt, dann ist es diese Mauer. Niemand kann sie überwinden oder zerstören«, verkündete der Torwächter.

Auf den ersten Blick wirkte sie nur wie eine alte Backsteinmauer, die beim nächsten Sturm oder Erdbeben leicht zum Einsturz kommen konnte. Wie konnte er so ein Gemäuer als »vollkommen« bezeichnen? Als ich eine Bemerkung dahingehend machte, verzog der Wächter das Gesicht wie einer, der haltlose Beschimpfungen seiner Familie über sich ergehen lassen muss. Er zerrte mich am Ellbogen an die Mauer.

»Schau genau hin, aus der Nähe. Da ist nicht eine Fuge zwischen den Ziegeln. Außerdem ist jeder von ihnen ein bisschen anders. Die einzelnen Ziegel fügen sich so perfekt ineinander, dass nicht einmal ein Haar dazwischenpasst.«

Er hatte recht.

»Hier, kratz mal mit dem Messer daran.« Der Torwächter holte ein Klappmesser aus der Jackentasche, ließ es aufschnappen und gab es mir. Auf den ersten Blick wirkte das Messer abgenutzt, aber seine Klinge war sorgfältig geschärft.

»Ich wette, du kriegst nicht den kleinsten Kratzer hin.«

Er hatte wieder recht.

Die Klinge erzeugte nur ein trockenes Scharren, ohne dass eine Schramme sichtbar wurde.

»Siehst du? Stürme, Erdbeben, Kanonen, nichts kann die Mauer zerstören. Du kannst sie nicht mal ankratzen. Niemand hat das je geschafft, und niemand wird es je schaffen.«

Er legte die Handflächen an die Mauer und sah mich stolz mit eingezogenem Kinn an, als würde er für ein Erinnerungsfoto posieren.

Nichts auf der Welt ist vollkommen, dachte ich. Alles, was eine Form hat, hat unweigerlich eine Schwachstelle oder einen blinden Fleck. Aber ich sprach den Gedanken nicht aus.

»Wer hat die Mauer gebaut?«, fragte ich.

»Niemand«, sagte der Wächter voll unerschütterlicher Überzeugung. »Sie ist seit Anbeginn hier.«

Bis zum Ende der ersten Woche hatte ich einige der von dir ausgewählten alten Träume in die Hand genommen und versucht, sie zu lesen. Aber ich konnte keinen Sinn darin finden. Alles, was ich vernahm, war undeutliches Gemurmel, und sehen konnte ich auch nur verschwommene, bruchstückhafte Bilder. Es war, als würde mir eine Audio- oder Videokassette aus wahllos zusammengeschnittenen Fragmenten rückwärts vorgespielt.

Im Archiv der Bibliothek reihen sich statt Büchern unzählige alte Träume aneinander. Offenbar hat sie so lange niemand berührt, dass sie alle von einer weißen Staubschicht überzogen sind. Die alten Träume haben die Form von Eiern, doch jedes hat eine andere Größe und Farbe. Als wären sie von verschiedenen Tierarten gelegt worden. Allerdings sind sie nicht exakt eiförmig. Als ich sie in die Hand nehme und genau betrachte, erkenne ich, dass die untere Hälfte dicker und schwerer ist als die obere. Diese Unregelmäßigkeit verleiht ihnen einen festen Stand, sodass sie auch ohne Stützen nicht aus den Regalen fallen.

Ihre Oberfläche ist hart und glatt wie polierter Marmor. Allerdings sind sie weniger schwer. Ich weiß nicht, aus welchem Material sie bestehen oder wie stabil sie sind. Ob sie zerbrechen, wenn sie zu Boden fallen? Auf jeden Fall muss ich sehr vorsichtig damit umgehen. Wie mit den Eiern seltener Tiere.

In der Bibliothek steht kein einziges Buch – nicht eines. Gewiss sind die Regale früher voller Bücher gewesen, und die Einwohner der Stadt sind hierhergekommen, um Wissen und Unterhaltung zu finden. Wie in eine normale Stadtbücherei. Ein Hauch dieser Atmosphäre liegt noch in der Luft. Doch offenbar hat man irgendwann alle Bücher aus den Regalen entfernt und stattdessen die alten Träume darin aufgereiht.

Es scheint keine anderen Traumleser in der Stadt zu geben. Im Moment bin ich wohl der einzige. Ob es vor mir schon andere Traumleser gegeben hat? Mag sein. Angesichts der genau ausgearbeiteten und zu befolgenden Regeln und Verfahren für das Traumlesen ist das vermutlich der Fall.

Deine Aufgabe in der Bibliothek ist es, die dort befindlichen alten Träume zu schützen und angemessen zu verwalten. Du hast die zu lesenden Träume auszuwählen und im Register zu vermerken, dass sie gelesen wurden. Außerdem obliegt es dir, die Tür zur Bibliothek vor dem Abend zu öffnen, die Lampen anzuzünden und in der kalten Jahreszeit den Ofen zu heizen. Daher musst du dafür sorgen, dass der Vorrat an Rapsöl und Brennholz nicht ausgeht. Für den Traumleser – also für mich – bereitest du den dunkelgrünen Kräutertee zu, der den Schmerz in meinen Augen lindert und mich beruhigt.

Behutsam wischst du mit einem großen hellen Tuch den weißen Staub von dem alten Traum und legst ihn mir auf den Schreibtisch. Ich setze meine grüne Brille auf und umschließe ihn mit beiden Händen. Nach etwa fünf Minuten erwacht der alte Traum allmählich aus seinem tiefen Schlaf, und seine Oberfläche beginnt schwach zu leuchten. Eine angenehme, natürliche Wärme überträgt sich auf meine Handflächen. Und der Traum spult sich ab. Erst bedächtig, dann mit zunehmendem Eifer, als würde ich die Fäden eines Kokons abwickeln. Die Träume wollen sich mitteilen. Sie müssen geduldig im Regal darauf gewartet haben, aus ihrer Schale zu schlüpfen und sich zu entfalten.

Aber ihre Stimmchen sind zu fein, als dass man sie deutlich hören könnte. Und die Bilder, die sie projizieren, haben nicht genügend Substanz, sie verblassen sogleich, fallen in sich zusammen und verschwinden. Oder vielleicht liegt es gar nicht an ihnen, sondern eher daran, dass meine neuen Augen noch nicht richtig funktionieren. Oder dass meine Fähigkeit als Traumleser nicht ausreicht.

Irgendwann ist es Zeit, die Bibliothek zu schließen. Es gibt nirgends eine Uhr, aber du weißt natürlich, wann es so weit ist.

»Wie geht es? Kommst du gut voran?«

»Es wird langsam besser«, antworte ich. »Aber nach einem Traum bin ich schon todmüde. Vielleicht mache ich etwas falsch?«

»Keine Sorge.« Du bewegst den Schieber und schließt die Lüftung des Ofens. Nachdem du die Lampen gelöscht hast, setzt du dich mir gegenüber an den Tisch und blickst mir ins Gesicht. (Es macht mich nervös, wenn du mich so direkt ansiehst.) »Du brauchst dich nicht zu beeilen. Wir haben hier Zeit im Überfluss.«

Beim Schließen der Bibliothek folgst du stets gewissenhaft dem vorgeschriebenen Ablauf. Mit ernster Miene, ohne Eile und mit sicherer Gelassenheit. Die Reihenfolge der einzelnen Schritte scheint immer die gleiche zu sein. Während ich dir zusehe, frage ich mich, ob es notwendig ist, die Bibliothek derart gründlich zu sichern. Wer würde in einer ruhigen, friedlichen Stadt wie dieser nachts hier einbrechen, um alte Träume zu stehlen oder zu beschädigen?

»Hättest du etwas dagegen, wenn ich dich nach Hause bringe?«, wage ich mich vor, als wir am dritten Abend das Gebäude verlassen.

Du wendest dich mir zu und schaust mich mit großen Augen an. In ihrer Schwärze spiegelt sich ein Stern, der hell am Himmel steht. Du scheinst den Sinn meiner Frage nicht zu verstehen. Warum muss er mich nach Hause bringen?

»Ich bin neu in der Stadt und habe außer dir niemanden, mit dem ich reden kann«, erkläre ich. »Wenn möglich, würde ich gern einen Spaziergang machen und mich dabei unterhalten. Außerdem möchte ich dich besser kennenlernen.«

Du überlegst und errötest ein wenig.

»Aber deine Unterkunft liegt in der entgegengesetzten Richtung.«

»Das macht nichts. Ich gehe gern spazieren.«

»Aber was willst du denn über mich wissen?«, fragst du.

»Zum Beispiel, wo du wohnst. Und wer noch dort wohnt. Und wie es kommt, dass du in der Bibliothek arbeitest.«

Du schweigst einen Moment lang.

»Ich wohne nicht weit von hier«, sagst du dann. Mehr nicht. Aber es ist eine Tatsache.

Du trägst eine Art Armeemantel aus grobem blauem Stoff, einen schwarzen Pullover mit Rundhalsausschnitt, der an einigen Stellen ausgefranst ist, und einen etwas zu großen grauen Rock. Alles sieht aus wie die abgelegte Kleidung von jemand anderem. Doch selbst in dieser ärmlichen Aufmachung bist du schön. Während ich neben dir die nächtliche Straße entlanggehe, schnürt es mir das Herz ab, sodass ich kaum Luft bekomme. Du raubst mir den Atem. Wie an jenem Sommerabend, als ich siebzehn war.

»Du sagst, du seist neu in der Stadt. Woher kommst du?«

»Aus einer Stadt weit im Osten«, gebe ich vage zur Antwort. »Einer großen Stadt, die sehr, sehr weit weg ist.«

»Ich kenne keine andere Stadt als diese. Denn ich bin hier geboren und war noch nie außerhalb der Mauer.«

Deine Stimme klingt weich und zärtlich. Alle Worte, die aus deinem Mund kommen, stehen unter dem unermüdlichen Schutz der soliden, acht Meter hohen Mauer.

»Warum bist du eigens von so weit her in unsere Stadt gekommen? Ich begegne zum ersten Mal einem Menschen, der von woanders kommt.«

»Tja, warum?«, gebe ich unverbindlich zurück.

Ich bin den ganzen Weg hierhergekommen, um dich zu sehen, kann ich ja nicht sagen. Dazu ist es zu früh. Vorher muss ich noch viel mehr über die Stadt herausfinden.

Im spärlichen Licht der wenigen Straßenlaternen folgen wir der Uferstraße nach Osten. Wie früher gehen wir Schulter an Schulter. Leise dringt das Rauschen des Flusses an mein Ohr. Aus dem Wäldchen am anderen Ufer ertönt der Schrei eines Nachtvogels.

Du möchtest mehr über die »ferne Stadt im Osten« erfahren, in der ich gelebt habe. Dein Interesse bringt dich mir ein bisschen näher.

»Was ist denn das für eine Stadt?«

Ja, was war das eigentlich für eine Stadt, in der ich noch bis vor nicht allzu langer Zeit gelebt hatte? Unzählige Worte kamen und gingen, überquellend von all der Bedeutung, die in ihnen...


Murakami, Haruki
HARUKI MURAKAMI, 1949 in Kyoto geboren, lebte längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. Zuletzt erschienen die Romane ›Die Ermordung des Commendatore‹ in zwei Bänden (2018), in einer Neuübersetzung ›Die Chroniken des Aufziehvogels‹ (2020), der Erzählband ›Erste Person Singular‹ (2021), ›Murakami T‹ (2022) und ›Honigkuchen‹ (2023).

Gräfe, Ursula
Ursula Gräfe, geboren 1956, hat in Frankfurt am Main Japanologie und Anglistik studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u. a. Yukio Mishima, Hiromi Kawakami und Sayaka Murata. Für DuMont überträgt sie die Werke Haruki Murakamis ins Deutsche. 2019 erhielt sie den japanischen Noma Award for the Translation of Japanese Literature.



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